Der Bilderzyklus im Wehen-Wandelgang des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke nimmt die Schwangere auf eine Geburtsreise mit.

Foto: © Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke, Carsten Strübbe

Der Bilderzyklus, der neuerdings im Wehen-Wandelgang der Geburtshilfeabteilung des Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke hängt, erfüllt viel mehr als nur ästhetische Anforderungen: Die 35 aufeinander abgestimmten Kunstwerke laden die unmittelbar vor der Geburt stehende Frau ein, sich auf eine Erlebnisreise zu begeben und auf das Geburtsgeschehen einzustimmen.

Es gab ihn immer schon, den Flur in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Kreißsälen im Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke. Doch um sein Potenzial als Wehen-Wandelgang zu entdecken, bedurfte es einer engagierten ärztlichen Direktorin und der Initiative der Hebamme Elke Fleischer, die dort viele Jahre gearbeitet hatte. Parallel zu ihrer Arbeit als Geburtshelferin absolvierte sie verschiedene künstlerische Ausbildungen. Mittlerweile arbeitet sie halbtags als Hebamme und halbtags in ihrer Werkstatt für Wandgestaltung. Zusammen mit ihrer Künstlerkollegin Silke Mager – die beiden lernten sich beim Studium an der Münchner Akademie für Wandmalerei kennen – entwarf und realisierte sie eine umfangreiche Bilderausstattung, die den Verkehrsflächen nun zusätzlich die Qualität eines Aufenthaltsraums verleiht. »Waren Sie schon einmal mit Wehen im Krankenhaus und wurden aufgefordert sich ›eine Weile‹ zu bewegen?«, resümiert die vierfache Mutter Silke Mager die gestalterische Herausforderung. »Und aus der ›Weile‹ werden Stunden. Ich bin etliche (gefühlte) Kilometer in unserem heimischen Krankenhaus gewandert, um das Kreißsaal-Bett, durch den tristen fenster- und farblosen Gang, treppauf treppab. Es war weder schön, noch entspannend. Bei jeder Geburt habe ich mir gewünscht, ich hätte draußen laufen oder mich wenigstens in einem schönen Raum mit entsprechender Atmosphäre aufhalten können.«

Die beiden haben mit ihren Wandelgangbildern aber nicht nur einen »schönen Raum« geschaffen. Dem ästhetischen Anspruch übergeordnet, ist ein funktional-psychologischer: Die Bilder bereiten die werdenden Mütter emotional auf das Geburtsgeschehen vor.

Kontinuierlicher Erlebnisstrom

Jedes der 35 Bilder misst 110 cm in der Breite und 1,5 m in der Höhe, und auf jedem ist ein gemalter Fensterrahmen zu sehen, durch den man in eine Landschaft blickt, die sich von Bild zu Bild verändert. Durch das erste Fenster sieht man eine Wegkreuzung mit Wegweisern: zum Meer, zum Wald, zu den Bergen und zum Kreißsaal. Die folgenden Bilder führen die Betrachterin eben dorthin: an den Meeresstrand, in zauberhafte Wälder und über abenteuerliche Gebirgspfade. Der Übergang von einem Motiv zum nächsten geschieht schrittweise: Wesentliche Elemente des vorigen Bildes werden im nächsten Bild leicht verändert aufgegriffen und sorgen so für einen kontinuierlichen Erlebnisstrom. Neue Motive und Blickwinkel treten hinzu und schaffen eine neue Bildaussage, wodurch sich das Erlebnis verändert. Schon nach der Betrachtung weniger Bilder ist die Neugierde so groß, erfahren zu wollen, an welchen Ort der Weg noch führen wird, dass aus dem bloßen Anschauen von Motiven ein Eintauchen in die malerisch erzählte Wanderung wird. Und für die Betrachterin verwandelt sich der Flur, in dem die Bilder hängen, in den Weg, der durch die imaginäre Landschaft führt. Auf formaler Ebene sind es zwei Kunstgriffe, die die Subjekt-Objekt-Spaltung, also den Gegensatz »hier Betrachterin – dort Bild« überwinden. Zum einen weist der illusionistisch dargestellte Fensterrahmen den Landschaftsszenen den Charakter von Wirklichkeit zu: einer räumlich ausgebreiteten Wirklichkeit jenseits der Wand. Zum andern wird durch die schrittweise Veränderung der Landschaftsmotive neben der räumlichen eine zeitliche Dimension ins Spiel gebracht. Denn Veränderung lässt sich nur in der Zeit begreifen. Doch wie das eine Bild aus dem anderen hervorgeht, wird nicht gezeigt – es wird erlebt und mitvollzogen: als körperliche Bewegung der Betrachterin von Bild zu Bild, als seelische Bewegung der Erwartung, der Vorfreude, des Staunens, des Erinnerns und Vergleichens.

Innere Bilder mit emotionalem Anker

Doch die eigentliche Aufgabe, die »therapeutische Mission« des Zyklus, erschließt sich nicht allein aus formalen Überlegungen. Vielmehr spielt die Auswahl der Motive, die Art ihrer Darstellung und Farbigkeit eine entscheidende Rolle. Durch den geschickten Umgang mit diesem inhaltlichen Aspekt machen die Künstlerinnen den »Wehen-Wandlerinnen« ein unwiderstehliches Angebot: Die Landschaftsmotive bleiben im Erlebnis nicht reine Naturmotive, sondern erhalten eine zusätzliche Dimension: die des seelischen Bildes. Das beginne, so Elke Fleischer, bereits beim Motiv des Weges und des Wegweisers: »Eine Schwangere begibt sich ins Krankenhaus, weil sie die Geburt nicht alleine durchstehen möchte, weil sie auf dem teilweise recht anstrengenden Weg des Gebärens begleitet, gelenkt, geführt werden möchte. Auf den Bildern ist der Idealfall von ›Geburtsweg‹ abgebildet, die Berg­episode, welche die Anstrengung zum Ende der Geburt hin veranschaulicht. Sie ist nicht allzu lang. Bald schon lässt die Gebärende den Gipfel hinter sich, betritt den sicheren Garten, hält ihr Kind im Arm und beide ruhen sich aus. (…) Der Weg lässt Abzweigungen zu, man darf sich Zeit lassen mit dem Beschreiten, auch zwischendurch verweilen. Es spielt keine Rolle, ob man heute oder morgen das Ziel erreicht. Gebären braucht Zeit. Auch wenn das Terrain unbekannt ist, gefährlich scheint es nicht. Ich habe meinen festen Glauben an die natürliche Geburt gemalt, denn das sollen die Bilder vermitteln: den Glauben daran, dass es geht.«

Wehen kommen wie Wellen

Alle Bildmotive lassen sich seelisch übersetzen. »Wehen kommen und gehen wie Wellen, die an den Strand spülen. Immer wiederkehrend, rhythmisch, aber nicht metronomisch getaktet«, so die Hebamme, »das Zeitgefühl verändert sich, verliert sich, wird unwichtig.« Der Himmel ist heiter und freundlich, und ebenso heiter ist die Stimmung der Wandelnden, abgesehen von einem kleinen dramatischen Wölkchen, das kurz die Sonne verdeckt. Der Himmel nimmt auf den meisten Bildern viel Raum ein, und lässt »Luft zum Atmen« – denn das Atmen ist oft nicht einfach in diesem Stadium, braucht Übung und Konzentration. Der Wald wird zum Inbegriff natürlicher Kraft, »die macht, was sie will, wenn man sie lässt.« Elke Fleischer ergänzt: »So wie der Gebärenden nichts anderes übrig bleibt, als sich der enormen Gewalt des Geschehens hinzugeben, sich hineinzufinden in das, was vom Körper vorgegeben wird. Der Wald ist tief, das kann auch unheimlich sein, aber der blaue Himmel ist immer da.« Auch Silke Mager kennt diese inneren Imaginationen: »Oft wird die Geburt mit einer Bergwanderung verglichen. Es geht stramm bergauf, Steine liegen im Weg, der zwischendurch kaum auszumachen ist, ab einem gewissen Punkt gibt es kein Zurück mehr, nur noch vorwärts, trotz Erschöpfung, jetzt ist meistens keine Rast mehr drin, nur noch kleine Pausen, um sich kurz zu entspannen und einen Schluck Wasser zu trinken …« Glück und Ruhe verheißt der Garten. Hier wachsen Blumen und Heilpflanzen, die Vögel singen, die Sonne neigt sich – ein Sinnbild für Erfüllung, Erholung und beginnende Regeneration.

Mit Bildern leben

Wer sich in die Bilder von Elke Fleischer und Silke Mager versenkt, macht die erstaunliche Entdeckung, dass Bilder viel mehr sein können als das, zu dem sie im medialen Bilderzeitalter geworden sind: bloße Abbildungen. Was unterscheidet die Bilder im Wandelgang von jenen, die man als Kunstdruck aufhängt oder denen, die man in Zeitschriften und auf Smartphone-Displays anschaut? Jedes Bild im Wandelgang ist ein von Künstlerhand hervorgebrachtes in sich geschlossenes gestalthaftes Ganzes. Bildende Kunst ist bild-schaffende Kunst! Man kann solch ein Bild fotografieren, dann ist es ein Foto. Man kann das Foto drucken, dann ist es eine Reproduktion. Ein Bild aufhängen bedeutet meistens: eine gerahmte Reproduktion, also ein Einrichtungsobjekt, an die Wand hängen – nicht das Bild, denn das ist in diesem Prozess weitgehend verloren gegangen. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, warum das Original eine ganz andere Kraft und Gegenwärtigkeit versprüht als seine Reproduktion. Und noch mehr lohnt es sich, begabte und verantwortungsvolle Künstlerinnen und Künstler zu engagieren, Bilder zu schaffen, um Menschen in Ausnahmesituationen seelisch zu begleiten.

Es müssen nicht immer die Klassiker der Moderne wie van Gogh, Kandinski, Miro oder Klee als Reproduktionen an Flurwänden und in Patientenzimmern hängen. Der gegenständlichen Malerei, insbesondere der zuweilen zu Unrecht als Kitsch gebrandmarkten illusionistischen Darstellungsweise, erwachsen hier Aufgaben, die über Begriffe wie »modern« oder »altmodisch« erhaben sind. Silke Mager: »Ich bin überzeugt davon, dass jeder Mensch, der im Krankenhaus liegt oder dort arbeitet, von der positiven Ausstrahlung solcher Malereien profitieren würde. Wer blickt schon gerne auf graue oder weiße Wände und soll dabei gesund werden – wie schade, dass es Farbe und Bilder nicht auf Rezept gibt.«

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