Der Alltag einer Hebamme in der sogenannten Dritten Welt und im Einsatz für humanitäre Nothilfeorganisationen unterscheidet sich in vieler Hinsicht von dem einer deutschen oder mitteleuropäischen Kollegin. Einmal im Projektort des von Krisen geplagten Landes angekommen, wird der Arbeitsumfang erst wirklich deutlich. Die Vielfalt aller Aufgabenbereiche raubt einem für die ersten Tage den Atem.
Die Hebamme ist hier Managerin, Supervisorin und Spezialistin aller ihrem Fachbereich angehörenden Aktivitäten. Dazu gehören Schwangerenvorsorge, Geburtshilfe, Neugeborenenpflege, Wochenbettbetreuung, Versorgung bei Fehlgeburten, Verhütung und Familienplanung, Behandlung von Geschlechtskrankheiten sowie die medizinische Hilfe für Opfer sexueller Gewalt und aller anderen gynäkologischen Patientinnen. Technische Hilfsmittel, an die sie sich in ihrem Hebammenalltag zu Hause gewöhnt hat, sind in Kriegs- und Krisenregionen oder in entlegenen Gebieten nicht vorhanden. Hier muss die Hebamme sich wieder ganz auf altes und bewährtes Wissen verlassen.
Die Frage nach dem Gestationsalter
Frauen in sogenannten Entwicklungsländern sehen in der Schwangerschaft eine natürliche, zu ihrem Leben und ihrem Geschlecht gehörende Phase. In vielen Ländern ist Kinderreichtum gewünscht, eine Frau zeichnet sich durch die Zahl ihrer geborenen Kinder aus. Während der Schwangerschaft wird klaglos weitergearbeitet und nicht selten sind es die Frauen, die die kräftezehrende Feldarbeit, das Wasserschleppen und Brennholzsammeln erledigen. Zusätzlich zu dem Ungeborenen in ihrem Leib, tragen sie ein Kind auf den Rücken gebunden und das Bündel Holz oder den Kanister mit Wasser auf dem Kopf.
Stellen sich keine konkreten Beschwerden ein, so suchen sie ein Krankenhaus oder die Hebamme nicht auf. Weite Wege zur nächsten Krankenstation oder einer Klinik erscheinen als reine Zeitverschwendung, da die Frau doch „nur schwanger ist“. Und wer soll in der Zeit auf dem Feld arbeiten, das Feuer in Gang halten, die anderen Kinder betreuen?
Hier muss die Hebamme mittels Gesundheitserziehung aufklären und sensibilisieren. Die Notwendigkeit, eine Routineuntersuchung während der Schwangerschaft durchführen zu lassen, muss in den Dörfern und Gemeinden immer und immer wieder erklärt werden. Bei sogenannten mobilen Kliniken und Besuchen in den dörflichen Gesundheitszentren werden traditionelle Hebammen unterrichtet und befähigt, Gesundheitserziehung durchzuführen.
Findet sich die Schwangere dann in der Sprechstunde ein, wird das Können der Hebamme erneut auf die Probe gestellt. Bei der Anamnese der Frau zeigen sich schon die ersten Schwierigkeiten. Wann war die letzte Regel? Bevor der Regen einsetzte, als die Mangos reif waren, bevor wir in dieses Flüchtlingslager kamen, nachdem unser Dorf niedergebrannt wurde … das sind häufige Antworten. Hier hilft keine Naegelsche Regel und kein Gravidogramm.
Wie viele Schwangerschaften sind dieser vorausgegangen? Wie verliefen die Geburten? Wie alt sind die lebenden Kinder und woran sind weitere Kinder möglicherweise gestorben? Wie verlief die Nachgeburtsphase? Und wo fanden die Geburten statt? Hier heißt es kreativ sein und genau hinhören. Will die Hebamme wissen, ob die Frau eine schwere Nachblutung hatte, kann sie nicht einfach nur fragen, ob sie viel geblutet hat. Auf diese Frage wird sie immer ein ja bekommen. Nun muss die Hebamme weiterfragen, wann die Frau aufgestanden ist, ob sie dabei Hilfe brauchte, ob sie hinfiel, wann sie wieder begann, zu kochen, zu stillen, zu arbeiten.
Oft haben die Frauen nur ein sehr abstraktes Wissen von Gesundheit und Krankheit und von den Ursachen und Zusammenhängen, die aus einer normalen Schwangerschaft eine Risikoschwangerschaft machen. An die Anamnese durch Befragung schließt sich die äußere Untersuchung an. Der Mangel an medizinischen Vorkenntnissen auf Seiten der Patientin sowie fehlende Dokumentation in Form von Mutterpässen oder Entlassungsberichten, als auch der Mangel an Technik in den abgelegenen Orten wirft die Hebamme auf ureigenste Kenntnisse und die Anwendung tradierter Handgriffe zurück.
Aufnahme bei Wehenbeginn ist selten
Frauen in Afrika legen weite Wege zurück, um medizinische Behandlung und Hilfe zu erhalten. Stellen sich keine Regelwidrigkeiten ein, so ist die eigene Lehmhütte oder das Heim der traditionellen Geburtshelferin (TBA) der bevorzugte Ort, ein Kind zur Welt zu bringen. Erst nachdem viel Zeit vergangen und es ganz offensichtlich ist, dass die Geburt nicht normal verläuft, macht sich die Familie auf den Weg zur nächsten Krankenstation. Die Regionen sind unwegsam und der Weg gefährlich, an Transportmitteln mangelt es oft. Als Hebamme in der humanitären Nothilfe muss man jederzeit mit allem rechnen. Die Aufnahme bei Wehenbeginn ist selten, protrahierte Geburten, geburtswidrige Lagen und Einstellungen, starke Blutungen und Retentionen des zweiten Zwillings oder der Plazenta hingegen sind an der Tagesordnung.
Die schnelle Diagnosestellung ist in diesen Situationen für Mutter und Kind überlebenswichtig.
Der Schweizer Geburtshelfer Johann Heinrich Schmutziger schrieb 1826 im Handbuch für Hebammen des Kantons Aargau: „Die Untersuchung ist das allerwichtigste, aber auch der schwerste Theil der Hebammenkunst; denn, wenn man dem Weibe während der Schwangerschaft, bei und nach der Geburt zweckmäßigen Beistand leisten will, so ist es eine unerläßliche Nothwendigkeit, daß man sich jedes Mal vorher einen richtigen Begriff über den Zustand der Person verschaffe, welche Hülfe bedarf. Höchst selten kann die Hebamme hierbei Gebrauch von ihren Augen machen, sondern ihre Handlungen müssen immer durch das Gefühl geleitet werden, welches sie sich durch fleissige Uebung, die immer mit gehöriger Ueberlegung begleitet seyn muß, und durch eine richtige und genaue Kenntniß der weiblichen Geschlechtstheile und der äusseren Beschaffenheit der Frucht, bis zur erforderlichen Fertigkeit erwerben kann.“
„Gefühl“ und „Anfühlen“ sowie „Angreifen“ und „Angriff“ werden in alter Literatur im Sinne von „Tasten, Ertasten und Anfassen“ verwendet. Diese Worte stehen also für die haptische abdominale Untersuchung. Die deutsche Sprache erklärt hier mit einzigartiger Klarheit den Zusammenhang zwischen etwas begreifen (im Sinne von verstehen) und tasten, begreifen (im Sinne von anfassen, untersuchen).
Gefühl steht hier nicht für Intuition. Das Wort „Gefühl“ hat seit dem 18. Jahrhundert eine Bedeutungsverschiebung und Akzentuierung erfahren. Diese ursprüngliche Bezeichnung des Tastsinns, der sich in die Reihe der anderen Sinne wie Geruch, Geschmack, Gehör und Sehen einfügt, verschob sich nach und nach in Richtung Empfinden im Sinne von Intuition.
Wer sich in Notsituationen auf sein Gefühl verlassen will, muss richtig fühlen. Bringt die Hebamme nun das Ertastete in Zusammenhang mit anderen Symptomen und Untersuchungsergebnissen aller geburtshilflich relevanten Kriterien, wie mütterliche und kindliche Vitalwerte, Infektionszeichen, Blutungsmenge, verstrichene Zeit seit Geburtsbeginn, Menge sowie Farbe und Zustand des Fruchtwassers, so ist sie gut gerüstet und kann nach erfolgter Diagnose die Geburtsleitung übernehmen.
Die Leopoldschen Handgriffe erweisen sich nicht nur während der Schwangerenvorsorge und bei Beschwerden, sondern erst recht zu Beginn und während der Geburt als äußerst verlässliches Instrument. Sie wurden in der Literatur schon seit Jahrhunderten erwähnt, seit Beginn des 20. Jahrhunderts in eine logische Abfolge gebracht – und waren von nun an als Leopoldsche Handgriffe bekannt. Diese haptische abdominale Untersuchung ermöglicht der Hebamme die rasche Erfassung fast aller aussagekräftigen geburtshilflichen Kriterien. Hier erhalten Hebamme und Geburtshelfer viele Informationen für den weiteren Verlauf der Geburt: Schwangerschaftsalter, Grundtonus der Gebärmutter und mögliche Wehentätigkeit, Beschaffenheit der Bänder, Lage, Stellung und Haltung des Kindes, sowie seine Größe, Fruchtwassermenge und Vitalität. Zahlreiche historische Quellen sind sich einig, dass die gründliche äußere Untersuchung der inneren vorausgehen muss.
Was die Alten schon wussten …
Neurobiologische Forschungsergebnisse lassen einerseits erkennen, wie Haptik im Gehirn wirkt, und andererseits, wie es das Handeln beeinflusst und formt. Die Fähigkeit des Gehirns, durch Plastizität synaptische Verknüpfungen herzustellen, ermöglicht ein stetiges Lernen und Wissenserweiterung. Erkenntnisgewinn durch Haptik geht unter die Haut und verankert sich im Gedächtnis.
Vor diesem Hintergrund betrachtet, erhält die haptische abdominale Untersuchung zur Befunderhebung während der Geburt einen neuen Stellenwert. Durch Tasten gewonnene Informationen werden im Gehirn abgespeichert und mit bereits erhaltenen Bildern verglichen. Das Getastete kann so in Sekundenschnelle zugeordnet werden, ein dynamischer Prozess wird verstanden. Die Fähigkeit des somatosensorischen Systems, Dreidimensionalität wahrzunehmen, befähigt Hebammen, die für den Geburtsmechanismus entsprechenden Faktoren wahrzunehmen. Jahrhunderte lang waren Hebammen und Entbindungspfleger auf ihre Hände angewiesen, um die Geburtsdynamik zu ertasten und die Geburtsleitung professionell zu übernehmen. Den Leopoldschen Handgriffen schließt sich die Auskultation der kindlichen Herztöne an. Erst mit zunehmendem Einsatz des Ultraschalls zu Geburtsbeginn und während der Geburt haben die Leopoldschen Handgriffe ihre ursprüngliche Bedeutung verloren.
Die fortschreitende diagnostische Medizintechnik bestimmt in der westlichen Welt den geburtshilflichen Alltag und ist fester Bestandteil der ärztlichen Geburtsleitung und Praxis. Ultraschall als bildgebendes Instrument verspricht alles sichtbar zu machen, was während der Schwangerschaft und Geburt im Verborgenen abläuft. Die eindrucksvollen Bilder suggerieren, dass alles entdeckt, diagnostiziert und folglich auch behandelt werden könnte. Bei der Geburt eingesetzt, bietet die bildgebende Funktion des Ultraschalls jedoch nur eingeschränkt Hilfe, den komplexen dreidimensionalen Geburtsmechanismus kann sie nicht erfassen. Die sonografisch ermittelten Messergebnisse führen zu einer isolierten Betrachtungsweise des Geschehens und folglich zu falschen Empfehlungen und Entschlüssen im Geburtsmanagement.
Haptische Erfahrungen
Bedenklich ist die Entwicklung, dass die haptisch abdominale Untersuchung durch dieses neue Instrument in den Hintergrund gedrängt wurde. Es ist aber möglich, durch Anleitung, beständiges Üben und geführte Hände, die Technik der haptischen abdominalen Untersuchung zu erlernen. Die durch die stetige Anwendung aktivierten neuronalen Verknüpfungen werden durch wiederholte Handlungen gefestigt.
Neue Erfahrungen ergänzen und bestätigen vorher durch Haptik gewonnene Eindrücke. Zuständige Bereiche, die sich im motorischen Kortex durch die Repetition der Handlung vergrößern, erleichtern dabei nicht nur das Lernen – wiederholtes Üben und Anwenden führt auch zur Professionalität bei der Durchführung der Handgriffe. Ertastetes wird in Sekundenschnelle erfasst und abgespeichert. Mit jeder haptischen Untersuchung erweitert sich so das Spektrum der Wahrnehmung. Die aus häufigem Üben entstehende Routine sorgt für Ruhe in der Anwendung. Aus Fertigkeit und Kompetenz wird Profession. Die Hebamme kann sich eben doch auf das von ihr Gefühlte verlassen.
Die Notwendigkeit, durch abdominale haptische Untersuchung die geburtshilflich relevanten Informationen zu erhalten und sich in der Durchführung der Leopoldschen Hangriffe zu spezialisieren, zeigt sich besonders in Situationen, in denen technische Medizingeräte nicht oder nur selten zum Einsatz kommen. Hohe Kosten und aufwändige Wartung sowie die Abhängigkeit von einer zuverlässigen Stromversorgung begrenzen den Einsatz eines Ultraschallgerätes während der Geburt in zahlreichen Krankenhäusern außerhalb Europas und der westlichen Welt.
Gerade in sogenannten „Entwicklungsländern“ ist es wichtig, das Handwerk zu beherrschen, da diagnostische Geräte nicht immer zu Verfügung stehen.
Um dort eine professionelle Basisgesundheitsversorgung garantieren zu können, müssen Hebammen und Entbindungspfleger die Aufnahmeuntersuchung und die dazu gehörige haptische abdominale Untersuchung so durchführen, dass sie alle geburtshilflich relevanten Faktoren erfassen. Die mangelhafte Versorgung und Durchführung der Schwangerschaftsvorsorge, wie sie in diesen Ländern üblich ist, konfrontiert Hebammen mit Aufnahmen schwangerer Frauen, deren Schwangerschaftsalter und -verlauf völlig unbekannt sind. Regelwidrige, manchmal über Tage andauernde Geburtsverläufe sowie sprachliche Barrieren sind die großen Herausforderungen.