Julia-Christin Casdorf ist eine der letzten sogenannten Sprengelhebammen in Tirol: »In Innsbruck war ich teilweise Dienstleisterin für die Frauen. Hier bin ich Hebamme. Immer.« Foto: privat

Die Hebamme Julia-Christin Casdorf ist jung und modern, liebt aber auch das Urwüchsige. Sie arbeitet als Sprengelhebamme in den Tiroler Bergen und als Hebamme im Geburtshaus Innsbruck. Eine Begegnung. 

Sie sagt: »Ich wollte immer diese Dorfhebamme sein.« Dabei war Julia-Christin Casdorf zunächst gar nicht klar, was es genau bedeutet, eine »Sprengelhebamme« zu sein – also eine Art Gemeinde- oder Dorfhebamme (siehe Kasten). Aber sie hat es wohl geahnt. Deshalb zögerte sie auch keinen Moment, als sie die Chance dazu bekam. Ihr rundes, offenes Gesicht strahlt, als sie das erzählt. Sie habe schon immer so ein Bild von sich gehabt, dass sie im Winter ihr Auto stehen lassen und die letzten 500 Meter zum Haus der Schwangeren zu Fuß gehen muss, weil der Zufahrtsweg noch nicht geräumt werden konnte. Dass ihre Arbeit eng verbunden sei mit der Natur und dem Natürlichen.

Definition
Sprengelhebamme ist ein alter Begriff für außerklinischen Hebammen. Früher waren sie der Gemeinde beziehungsweise dem Bezirk unterstellt, jetzt den Krankenkassen. Eigentlich gibt es diese Berufsbezeichnung nicht mehr, sie wird aber immer noch benutzt für Hebammen, die im Umkreis von mehreren Gemeinden als einzige einen Kassenvertrag besitzen und gemeindeamtliche Aufgaben erfüllen wie: interdisziplinäre Zusammenarbeit, Vernetzung und Zusammenarbeit mit Gesundheitsstellen und Behörden sowie Mutter-Eltern-Beratungsstunden. Übrig geblieben von dem, was der Begriff ursprünglich beinhaltete, ist die Gebietsaufteilung. Sprengelhebammen haben einen Versorgungsauftrag und sind verpflichtet, alle Frauen zu betreuen, die sich melden – oder eben zumindest so viele, wie sie schaffen können. Zu ihren Angeboten zählt neben dem normalen Programm jeder Hebamme noch eine Mutter-Eltern-Beratung ab acht Wochen nach der Geburt; das ist eine Sprechstunde in den Räumen der jeweiligen Gemeinde, zu der jede Frau oder jedes Elternpaar kommen kann. Manche Gemeinden bieten auch Geburtsvorbereitungskurse für die ansässigen Frauen an, die die Sprengelhebamme dann leitet.

Sprengelhebammen sind eigentlich aus der Mode gekommen. Die 29-Jährige ist eine der letzten Tirols und ganz in ihrem Element: Urwüchsiges, Traditionelles, Bodenständiges bewahren und mit Neuem, Modernem und Wissenschaftlichem verbinden.

Erster Berufswunsch: Musicalstar

Als Mädchen träumt Julia-Christin Casdorf davon, Musical-Solistin zu werden. Quasi die gesamte Kindheit und Jugend widmet sie diesem Ziel: Sie geht zum Kinderballett, nimmt Gesangsunterricht, treibt sich in der einschlägigen Szene herum. Aber sie singt Alt und Mezzosopran, zu tief für eine Musical-Solistin. Und für eine Ausbildung als Solo-Darstellerin müsste sie in die Norddeutsche Tiefebene gehen, 1.500 Kilometer weit entfernt nach Hamburg an die Stage-School. Das kommt nicht infrage: »Heute ist das auch nicht mehr meine Welt«, sagt sie.

Nach dem geplatzten Musical-Traum entscheidet die junge Frau sich für eine Ausbildung zur Familienhelferin, dann macht sie noch eine als Pflegehelferin und hängt noch eine als Krankenschwester daran.

Jedes Mal, wenn sie im Rahmen dieser Ausbildungen auf die Gynäkologie kam, habe sie ihre Affinität zu diesem Bereich gespürt. Bereits im ersten Ausbildungsjahr als Krankenschwester habe sie gewusst, dass sie auch noch Hebamme werden wollte: »Ich habe den Ruf gehört.«

Noch während sie an der Fachhochschule für Gesundheit Innsbruck die Hebammen-Schulbank drückt, sei ihr klar gewesen, dass sie außerklinische Geburtshilfe machen werde, sobald sie ihren Bachelor in der Tasche hat. Sie absolvierte in der Zeit des Hebammenstudiums diverse Praktika in der Hebammenpraxis Innsbruck und wuchs mit jeder Geburt mehr in die Geburtshaus-Geburtshilfe hinein. »Die wussten, dass ich nach der Ausbildung bei ihnen anfangen möchte, und haben mich ausgebildet für die Arbeit im Geburtshaus.« 2016 beginnt die frisch gebackene Hebamme im Geburtshaus in Innsbruck; zusätzlich arbeitet sie als freie Hebamme – als Wahlhebamme (siehe Kasten).

Das Hebammenwesen in Östereich

Freie Hebammen unterteilen sich in sogenannte Wahlhebammen und Kassenhebammen.

Die Hebamme mit Kassenvertrag (Kassenhebamme) rechnet ihre Leistungen direkt mit der Krankenkasse ab, die Wahlhebamme stellt ihre Kosten der Frau in Rechnung, die sie bei der Kasse einreichen kann – und in der Regel 80 % erstattet bekommt.

Kurse jeder Art, egal ob in der Schwangerschaft oder nach der Geburt sowie Stillberatung, Ernährungsberatung oder was sonst noch gefragt ist, müssen die Eltern aus eigener Tasche bezahlen.

Für die Zulassung als Kassenhebamme müssen Hebammen mit dem jeweiligen Hebammengremium in ihrem Bundesland in Kontakt treten und einen Antrag stellen an die Gebietskrankenkasse. Dieser wird dann von beiden Instanzen geprüft und bewilligt oder abgelehnt.

Hebammenleistungen, die von der Krankenkasse übernommen werden:

  • Es gibt einen ausführlichen Termin zwischen der 18. und der 22. Schwangerschaftswoche. Die sogenannte »Hebammenberatung im Mutter-Kind-Pass« versteht sich zusätzlich zur ärztlichen Vorsorge und beinhaltet Themen wie Wahl des Geburtsortes, Ernährung und Bewegung in der Schwangerschaft sowie Informationen über gesundheitsförderndes und präventives Verhalten.
  • Bei geplanter Hausgeburt stehen der Schwangeren ab der 22. Schwangerschaftswoche weitere acht Hausbesuche oder Sprechstunden bei der Hebamme zu.
  • Bei geplanter ambulanter Geburt gibt es zwei zusätzliche Termine für die Schwangere ab der 22. Woche (Hausbesuch oder Sprechstunden bei der Hebamme).
  • Die Geburt in der Klinik, zu Hause oder in einer Hebammenpraxis beziehungsweise in einem Geburtshaus bezahlt die Kasse, Beleggeburten in der Klinik nicht.
  • Im Wochenbett stehen den Frauen Besuche bis zum fünften Tag post partum zu, nach einer Sectio, Früh- oder Mehrlingsgeburt auch bis zum sechsten Tag.
  • Bei Bedarf können die Frauen ab dem sechsten Tag bis acht Wochen nach der Geburt noch sieben weitere Hausbesuche in Anspruch nehmen oder die Hebamme aufsuchen.

Eine Unterländerin im Oberland

So sehr Julia-Christin Casdorf in ihrem Beruf aufgeht, will sie doch noch mehr vom Leben: mit ihrem Freund zusammenziehen. In ein Haus. Es geht auf das Ende der Hebammenausbildung zu. Das Paar sucht in und um Innsbruck nach einem passenden Objekt. Das gestaltet sich schwierig, weshalb es den Radius vergrößert und nun auch in den nahe gelegenen Bergen sucht. Oberland heißt das auf Tirolerisch. Das Paar wird fündig. Die beiden verlieben sich in ein Haus in dem kleinen Örtchen St. Wendelin, einem Ortsteil von Nassereith: mit viel Holz, einem Garten und alteingesessenen Nachbarn. Julia-Christin Casdorf: »Das ist ganz ungewöhnlich, dass Unterländer ins Oberland ziehen, die Unter- und die Oberländer vermischen sich normalerweise nicht.«

Aber die Hebamme und ihr Mann, Musiker im Zweitberuf, fühlen sich hier angenommen und angekommen. Die junge Hebamme kann ihr Glück kaum fassen: »Das war der Oberwahnsinn, ich als Hebamme in der Hebammenpraxis Innsbruck und als Wahlhebamme in Nassereith.« Doch es sollte noch besser kommen: Kaum ist das junge Paar in das Bergdörfchen eingezogen, da fragt »die Stecher-Ingrid«, die alteingesessene Sprengelhebamme, bei der jungen Kollegin, ob sie nicht ihren Sitz übernehmen will. Keine Sekunde zögert die Junghebamme: »Das war wie eine Erleuchtung. Jetzt kann ich als Kassenhebamme und in einer Mutter-Kind-Beratungsstelle arbeiten, die über die Gemeinde läuft und vom Land finanziert wird. Einfach Hebammenarbeit für alle anbieten.« Denn: Zu einer Sprengelhebamme kommen alle, die Beistand brauchen. Sie ist für die Schwangeren und die jungen Familien da. Kostenfrei und jederzeit.

Hebamme, Freundin, Nachbarin

Und »jederzeit« nimmt Julia-Christin Casdorf wörtlich. »Ich möchte, dass die Frauen keine Scheu haben, zu mir zu kommen.« Sie will eine Kontaktstelle sein und durch ihr niedrigschwelliges Angebot sollen die Frauen Vertrauen haben und sich melden können, wenn sie Bedarf haben. Deshalb bietet sie den Schwangeren und Müttern an, dass sie jederzeit anrufen können. »Hier auf dem Land, da ticken die Frauen anders als in der Stadt. In Innsbruck war ich teilweise Dienstleisterin für die Frauen. Hier bin ich Hebamme. Immer. Und ich bin Nachbarin und Freundin.« Und das, sagt Julia-Christin Casdorf, sei einer der schönsten und gleichzeitig herausforderndsten Teile ihrer Arbeit als Dorfhebamme. Denn hier kommt die schwangere Nachbarin einfach vorbei und klingelt, wenn sie sich unwohl fühlt. Ist Casdorf zu Hause, dann bittet sie die Frau herein ins Ordinationszimmer.

»Ich wollte das nie trennen, Beruf und Privatleben.« Deshalb ist die junge Frau in St. Wendelin auch immer die Hebamme, sobald sie auf die Straße tritt. Sie liebt es, dass sie überall als Hebamme angesprochen wird und immer verfügbar ist.

»Da kommt die Dorfhebamme«

Das alles erzählt sie bei einem Cappuccino an ihrem großen runden Tisch im Erker ihrer riesigen Wohnküche mit Blick ins Grüne. Zehn Menschen finden hier sicherlich Platz – und dazu ihre zottelige Katze Hex und der Kater Troll. Diese Offenheit scheint der Tirolerin zu gefallen. Sie strahlt Gelassenheit und Energie aus, spricht deutlich und lebendig. Die Begeisterung für das, was sie tut, perlt nur so aus ihr heraus. »Ich bin hier sehr glücklich. Dass mich die Frauen aufsuchen und als zentrale Bezugs- und Beratungsperson sehen.«

Heute hat sie sich einen langen gemütlichen Schal um den Hals gewickelt – dunkelgrün wie im Inneren eines Nadelwalds. Denn obwohl es schon Mai ist, ist es noch einmal kalt geworden. Weiter oben in den Bergen liegt wieder Schnee. »Damit muss man hier immer rechnen«, sagt sie und zuckt mit den Schultern. Die Eisheiligen sind ja noch nicht vorbei. Deshalb fährt sie auch noch mit Winterreifen. Auf dem Fernpass in der Nähe ihres Hauses, den sie mehrfach in der Woche überwinden muss, ist heute Winterausrüstung nötig.

Julia-Christin Casdorf wirkt echt. Und sie sagt, dass sei es, was es brauche bei den Bergdörflerinnen. Sie sei, wie sie eben sei. Im Sommer können auch alle ihre Tattoos an den Oberarmen sehen. »Und es werden bestimmt noch mehr.« Noch niemand habe sich daran gestört. Weil sie eben geradeheraus und ehrlich sei. »Die sagen nicht: ›Da kommt die mit den Tattoos.‹ Die sagen: ›Da kommt die Dorfhebamme.‹«

Zu ihrer Authentizität gehört auch, dass sie regelmäßig Urlaub macht oder mit ihrem Musiker-Mann auf Tour geht. »Kein Problem«, sagt sie, »dann verweise ich auf eine Wahlhebamme in meinem Bezirk und nehme möglichst keine Frauen an für die Zeit.« So viel Selbstliebe darf bei so viel Nächstenliebe sein.

Fotos: privat

Zwischen Berg und Tal

Sprengelhebamme zu sein ist Julia-Christin Casdorfs Glück. Aber nicht alles. Sie will auch Geburtshilfe machen. Deshalb arbeitet sie nach wie vor im Geburtshaus in Innsbruck. Weil sie 40 Minuten von zu Hause dorthin benötigt, macht sie allerdings (fast) nur Dienste als zweite Hebamme, gelegentlich kommt sie auch bei Verwandten oder Freundinnen in Innsbruck unter, wenn sie weiß, dass sie schnell gebraucht werden könnte. Ansonsten bietet sie zwei Rückbildungskurse pro Jahr in der Hebammenpraxis an, und ein- bis zweimal im Monat leitet sie die offene Schwangerschaftsgymnastikgruppe.

Freitags hat sie dort ihre Sprechstunde: Da kommen die Frauen, die sich zur Geburt in der Hebammenpraxis angemeldet haben, zur Schwangerenvorsorge oder zur Beratung oder was sonst gerade anliegt.

Außer im Geburtshaus sind außerklinische Geburten für Julia-Christin Casdorf nicht machbar: Die Verlegungswege aus den Bergen wären im Notfall zu lang. An dem Geburtshausteam schätzt sie unter anderem, dass es streng nach den Nice-Guidelines und anderen internationalen Standards arbeitet.

In ihrem Sprengel Imst betreut sie 15 Gemeinden. Für die Wochenbettbesuche ist die tägliche Routenplanung manchmal eine Herausforderung. Aber die junge Frau liebt es, Pläne zu machen, sich die beste Tour zusammenzustellen. Sie betreut bis zu 14 Frauen pro Monat und versucht, die Hausbesuche auf drei bis vier Tage in der Woche zu legen, damit sie die anderen drei bis vier Tage für sich, ihr Zuhause oder auch für Innsbruck hat. Dadurch, dass den Frauen nur bis zum fünften Tag nach der Geburt ein täglicher Hausbesuch zustehe, sei das gut einzurichten. Allerdings fahre sie dann auch schon mal 120 Kilometer am Tag.

Den Einfluss nicht ausnutzen

Dass die junge Hebamme ihren Beruf mag, ist nicht zu übersehen. Sie liebt auch ihr Tirol. An ihrem Beruf schätze sie die Urweiblichkeit, die sie selbst in der technisierten modernen Geburtshilfe spüre und erlebe. Als Anhänger an ihrer Kette trägt sie die Venus von Willendorf, für sie das Ursymbol der Weiblichkeit. Ihr Herz schlägt für traditionelle Hebammenkunst, modernes Stillwissen, wie es der IBCLC lehrt, und Phytotherapie. Ihren Wöchnerinnen gibt sie manchmal selbstgemachte Ringelblumensalbe – nach einem Rezept ihrer Großmutter. Doch gleichzeitig ist ihr wichtig, dass die Frauen »aufgeklärte Entscheidungen« treffen – auch für eine Salbe. »Als Hebammen haben wir auch eine Machtposition und Einfluss darauf, was die Frauen machen und kaufen. Dieser Macht sollten wir uns bewusst sein, sonst könnte die Wirtschaft versuchen, das auszunutzen.«

»Wiedergeburt der Geburt«

Trotz aller Begeisterung, hat die Hebamme durchaus Kritik an dem System in Österreich. Zum Beispiel, dass den Frauen nur so wenig Betreuung während der Schwangerschaft und so wenige Hausbesuche nach der Geburt zustehen. Sie habe deshalb mit dem Gedanken gespielt, auszuwandern, nach Skandinavien oder Großbritannien. Sie interessiere sich sehr für skandinavische und britische Länder und deren Gesundheitssysteme. »In Norwegen zum Beispiel gibt es als Primärversorgerinnen für Schwangere nur Hebammen.« In Österreich hingegen seien die Kreißsäle überfüllt und so gebe es auf den Wochenstationen in geburtenreichen Monaten auch schon mal Gangbetten. In Österreich gehe es oftmals eher um Schadensbekämpfung als um Prävention.

Zum Schluss wird die junge Hebamme nachdenklich. Sie hat sich viel vorgenommen für ihr Berufsleben. Sie will etwas beisteuern zur »Wiedergeburt der Geburt«, wie sie sagt. »Wir sind dabei, Geburtshilfe zu verlernen.« Später einmal möchte sie sich daran messen lassen, was sie dazu beigetragen hat, dass die Versorgung der Frauen besser geworden ist.

Fotos: privat

Fotos: privat

Zitiervorlage
Salis B: Dorfhebamme in Österreich: „Ich habe den Ruf gehört“. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2019. 71 (9): 96–99
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