Die Känguru-Methode ermöglicht ein frühes inniges Beisammensein. Das Selbstvertrauen der Eltern wird gefördert, zudem werden die verschiedenen Sinne des Kindes stimuliert. Foto: © Colin/stock.adobe.com

Die Weltgesundheitsorganisation hat aktuelle Empfehlungen zur Betreuung Frühgeborener und Kinder mit niedrigem Geburtsgewicht herausgegeben. Was ist daran neu und was können wir uns davon versprechen? Eine Einordnung.

Weltweit wird derzeit jedes zehnte Kind vor der 37. Schwangerschaftswoche geboren. Eine Vielzahl an Problemen geht mit der Frühgeburtlichkeit einher. Frühgeborene Kinder haben ein erhöhtes Mortalitäts- und Morbiditätsrisiko. Werden Kinder zu früh geboren stellt sich eine zentrale Frage: Wie sollen sie betreut werden? Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fasst die Evidenzlage hierzu zusammen und veröffentlicht aktuelle Empfehlungen: WHO Recommendations for care of the preterm or low birth-weight infant (WHO, 2022b).

Hintergrund

Die häufig unerwartete Geburt eines Kindes, das (viel) zu früh vor dem errechneten Termin geboren wird, kann für die Frau einen Schock bedeuten: Unerwartete Herausforderungen für das Muttersein sind plötzlich von einem Tag auf den anderen da. Sie betreffen häufig nicht nur die Frau selbst, sondern das ganze Umfeld: Partner:in, Familie und auch Betreuungspersonen. Gleichzeitig ist Frühgeburtlichkeit aus Sicht des Kindes problematisch: Trotz erheblicher Fortschritte in der Versorgung Frühgeborener, sind die Risiken für Überleben, Gesundheit, Wachstum und neurologische Entwicklung nach wie vor besorgniserregend. Frühgeborene und Säuglinge mit geringem Geburtsgewicht haben ein zwei- bis zehnfach erhöhtes Sterblichkeitsrisiko im Vergleich zu Säuglingen, die nach der 37. SSW geboren werden. Weltweit betreffen etwa 45 % aller kindlichen Todesfälle unter fünf Jahren Neugeborene. 60 bis 80 % dieser Neugeborenen kamen als Frühgeburt oder mit niedrigem Geburtsgewicht zur Welt.

Die WHO zeigt anhand verschiedener Publikationen die Relevanz des Themenkomplexes Frühgeburtlichkeit auf. So existieren Publikation zur optimalen Ernährung Frühgeborener und Neugeborener mit geringem Geburtsgewicht (WHO, 2011), Empfehlungen zur Verbesserung verschiedener Outcome-Parameter (WHO, 2015) und Empfehlungen zum Management häufiger Erkrankungen im Kindesalter (WHO, 2012). Die kürzlich veröffentlichen Empfehlungen (WHO, 2022b) umfassen Fragen zur evidenzbasierten Betreuung von Frühgeborenen und Kindern mit geringem Geburtsgewicht.

Aktuelle Empfehlungen

Die WHO-Empfehlungen zur Betreuung frühgeborener Kinder oder Kinder mit geringem Geburtsgewicht enthalten 25 Empfehlungen sowie ein »Good-Practice-Statement« (WHO, 2022b). Bei 14 Empfehlungen handelt es sich um ein Update bereits existierender Empfehlungen, 11 Empfehlungen sind neu. Die Evidenzlage und daraus resultierende Empfehlungen werden drei zentralen Themenbereichen zugeordnet:

  1. Prävention & Frühförderung
  2. Betreuung bei Komplikationen
  3. Einbeziehung und Unterstützung der Familie.

Prävention und FrühförderungDie WHO spricht 16 Empfehlungen zur Prävention und Frühförderung frühgeborener Kinder und Kinder mit geringem Geburtsgewicht aus (siehe Tabelle 1).

Betreuung bei Komplikationen

Die WHO spricht sechs Empfehlungen für die Betreuung frühgeborener Kinder und Kinder mit geringem Geburtsgewicht bei Komplikationen aus (siehe Tabelle 2).

Einbeziehung und Unterstützung der Familie

Die WHO spricht drei Empfehlungen sowie ein »Good-Practice- Statement« für die Einbeziehung und Unterstützung der Familie bei der Betreuung frühgeborener Kinder und von Kindern mit geringem Geburtsgewicht aus (siehe Tabelle 3).

Die WHO-Recommendations zeichnen sich durch eine hohe wissenschaftliche Qualität aus: Die wissenschaftliche Validität der zugrunde liegenden Studien, welche als Begründung der jeweiligen Handlungsempfehlung dienen, wird anhand mehrstufiger Arbeitsprozesse evaluiert. Die wissenschaftliche Qualität jeder Handlungsempfehlung ist nachvollziehbar.

Rolle der »Kangaroo Mother Care«

Die WHO-Empfehlungen enthalten evidenzbasierte Empfehlungen zu verschiedenen Aspekten der Betreuung frühgeborener Kinder und Kinder mit geringem Geburtsgewicht. Eine klare Evidenzlage belegt die Vorteile der »Kangaroo Mother Care« gegenüber anderen Betreuungsmodellen. Diese sollte allen Frühgeborenen und Kindern mit geringem Geburtsgewicht so früh wie möglich nach der Geburt ermöglicht werden. Das bedeutet für die Umsetzung in der Praxis, dass Kangaroo Mother Care beispielsweise durch die unkomplizierte Aufnahme der Mutter bei einem stationären Aufenthalt des Kindes gefördert werden sollte. Das Klinikpersonal sollte die Mutter dabei unterstützen und notwendige Räume bereitstellen. Und dies nicht irgendwann, sondern so früh wie möglich nach der Geburt (Empfehlung A.1b).

Im Zusammenhang zu Kangaroo-Mother Care benennt die Guideline Development Group der WHO auch klare Implikationen für weitere Forschung (WHO, 2022a, S. 100ff):

  • Welcher langfristige Nutzen geht mit Kangaroo Mother Care einher, beispielsweise im Alter von zwei Jahren, im Schulalter und der Pubertät?
  • Wie kann Kangaroo Mother Care auch in Ländern mit hohem durchschnittlichem Einkommen in der Praxis so umgesetzt werden, dass Kinder mindestens acht Stunden diese Betreuungsform erhalten?
  • Welcher Nutzen geht mit der sofortigen Umsetzung der Kangaroo Mother Care einher, wenn Neugeborene in kritischem Allgemeinzustand diese Betreuungsform erhalten?
  • Wie kann ein rascher Beginn der Kangaroo Mother Care praktisch in die Routine existierender Gesundheitssysteme umgesetzt werden?

Die offenen Fragen zeigen, dass die ausgesprochenen Empfehlungen den derzeitigen Forschungsstand widerspiegeln, jedoch noch viele Forschungslücken bestehen. Auch zu anderen Empfehlungen der WHO werden Implikationen zu weiterer Forschung ausgesprochen (WHO, 2022a, S. 100ff.).

Ernährung mit Mutter- oder Frauenmilch

Der Mehrwert einer Ernährung mit Muttermilch oder Frauenmilch gegenüber industriell hergestellter Säuglingsnahrung spiegelt sich in den Empfehlungen wider. Die Umsetzung erfordert in der Praxis auch in diesem Bereich tatkräftige Unterstützung: eine effektive Stillförderung sowie fachkundige Unterstützung und Informationsweitergabe für den Fall eines Abpumpens der Muttermilch. Diese Aspekte gehen im Hinblick auf den weltweiten Fachkräftemangel (UNFPA, 2021) mit einer besonderen Herausforderung einher.

Interessant an den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation zu betreuungsrelevanten Faktoren und Empfehlungen für die Prävention und Frühförderung von Frühgeborenen und Kindern mit geringem Geburtsgewicht ist der Fokus auf zugrunde liegende mütterliche Entscheidungen: Eine Vielzahl verschiedener Evidenzen untermauern die Bedeutung einer Ernährung mit Muttermilch sowie den Wert einer Kangaroo Mother Care. Die Entscheidung der Mutter ist erforderlich, dass diese in der Praxis umgesetzt werden.

Die ganze Familie einbeziehen

Verschiedene Evidenzen liegen zur Betreuung mit CPAP (Continuous Positive Airway Pressure), sowie Methylxantinen vor. Zudem zeigt sich bei der Betrachtung der Evidenzlage: Die ganze Familie sollte berücksichtigt und in die Betreuung mit einbezogen werden. Mütterliche Entscheidungen zu fördern erfordert Fachkräfte, die evidenzbasierte Informationen weitergeben und kommunizieren. Eine Lösung des globalen Problems des Fachkräftemangels ist somit auch im Sinne der Gesundheitsförderung frühgeborener Kinder und Kinder mit geringem Geburtsgewicht sinnvoll (siehe auch DHZ 8/2022, S.74–78).

Limitierungen

Im Fokus der WHO-Empfehlungen steht die Betreuung des Neugeborenen selbst, das zu früh oder mit zu geringem Geburtsgewicht geboren wurde. Damit geht die Limitierung einher, dass der direkte Bezug zur vorausgehenden Schwangerschaft fehlt.

Charakter der Empfehlungen
Unterschieden wird in den aktuellen Empfehlungen der WHO:

(I) Starke Empfehlung (»Strong recommendation«): Klare Handlungsempfehlung für eine Intervention

(II) Eingeschränkte Empfehlung (»Conditional recommendation«): Empfehlung, die an Bedingungen geknüpft ist oder für deren Umsetzung bestimmte Kontextfaktoren notwendig sind

Good-Practice-Statement: Ein Good-PracticeStatement bringt zum Ausdruck, dass die Forschungsgruppe der WHO dieses Statement für wichtig hält, jedoch die formalen Gütekriterien nach GRADE (Grading of Recommendations Assessment, Development and Evaluation) nicht erfüllt sind. Es wird daher explizit anders als WHO-Empfehlungen, nämlich als »ungraded good practice statement« formuliert (EC, 2021).

Die Bewertung der Evidenzlage (Certainty of evidence) umfasst:

Hohes Evidenzlevel
(High-certainty evidence): ++++

Moderates Evidenzlevel
(Moderate-certainty evidence): +++

Niedriges Evidenzlevel
(Low-certainty evidence): ++

Sehr niedriges Evidenzlevel
(Very low-certainty evidence): +

So fehlen beispielsweise eine Vielzahl entscheidender Evidenzen zur Vermeidung und Prävention der Frühgeburt. Es fehlen klare Handlungsempfehlungen, die den Zeitraum der Schwangerschaft und die Betreuung der Schwangeren betreffen. Dies ist insofern verwunderlich, da Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett unverzichtbare Anteile eines Betreuungsbogens darstellen, denen im Sinne einer ganzheitlichen Betrachtung zum Wohl von Mutter und Kind ein hohes Maß an Relevanz zukommt (Sayn-Wittgenstein, 2007; Renfrew et al., 2014). Insgesamt umfassen die Themenkomplexe der Frühgeburtlichkeit und der Neugeborenen mit geringem Geburtsgewicht somit weit mehr Aspekte, als in den vorliegenden WHO-Empfehlungen thematisiert wurden.

Die für Deutschland verfügbare S2k-Leitlinie »Prävention und Therapie der Frühgeburt« (2022) enthält im Vergleich zu den aktuellen WHO-Recommendations sehr viel mehr praxisrelevante Aspekte: sowohl die Diskussion verschiedener Ursachen für eine mögliche Frühgeburt, deren Prädiktion als auch verschiedene Methoden der primären, sekundären und tertiären Prävention. Auf Besonderheiten bei Mehrlingsgeburten sowie einen möglichen vorzeitigen Blasensprung wird eingegangen. Ergänzend enthält die S2k-Leitlinie Evidenzen zu psychosomatischer Begleitung und unterstützenden Therapieangeboten sowie Empfehlungen zur Beratung nach einer vorausgegangenen spontanen Frühgeburt. Diese Evidenzen würden die vorliegenden WHO-Empfehlungen bereichern.

Resümee

Die neuen Empfehlungen der WHO zur Betreuung frühgeborener Kinder und der Kinder mit geringem Geburtsgewicht haben das Potenzial, die neonatale Mortalität und Morbidität weltweit zu senken. Sie sollten daher berücksichtigt werden.

Der Themenkomplex Frühgeburtlichkeit geht jedoch mit einem sehr viel größeren Facettenreichtum und dem Bezug zur vorausgehenden Schwangerschaft einher als in den WHO-Recommendations dargestellt und berücksichtigt wird. Es wäre daher wünschenswert, die WHO-Empfehlungen zum Thema der Betreuung Schwangerer mit Frühgeburtsbestrebungen beziehungsweise mit der Erfahrung einer vorausgehenden Frühgeburt mit geringem Geburtsgewicht zu erweitern. Aspekte der erweiterten Betrachtung und Diskussion wären beispielsweise Evidenzen zur Vermeidung der Frühgeburt, beispielsweise in Anlehnung an die Leitlinie zur Prävention und Therapie der Frühgeburt der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlicher medizinischer Fachgesellschaften (AWMF, 2022). Es stellt sich die Frage, ob und wie im Sinne einer ganzheitlichen Betreuung diese beiden Publikationen einander ergänzen könnten.

Gleichzeitig gehen die WHO-Empfehlungen in die richtige Richtung: Sie unterstützen die weltweite Umsetzung einer evidenzbasierten Betreuung frühgeborener Kinder und der Kinder mit geringem Geburtsgewicht – für eine weltweite Senkung der neonatalen Mortalität und Morbidität.

Definitionen der WHO
Preterm: Geburt eines Kindes vor der 37. SSW Very preterm: Geburt eines Kindes vor der 32. SSW
Extremely preterm: Geburt eines Kindes vor der 28. SSW
Low birth weight (LBW): Neugeborenes mit einem Geburtsgewicht unter 2,5 kg
Very LBW (VLBW): Neugeborenes mit einem Geburtsgewicht unter 1,5 kg
Extremely LBW: Neugeborenes mit einem Geburtsgewicht unter 1,0 kg Postnatal age/Chronological age: Lebensalter des Kindes gerechnet vom Tag der Geburt an Beispiel: Ein in der 32+0 SSW geborenes Kind hat nach 10 Lebenswochen ein postnatales Alter von 10 Wochen.
Corrected age: Korrigiertes Alter unter Berücksichtigung der Frühgeburtlichkeit. Hierbei beträgt das korrigierte Alter das Lebensalter des Kindes vom Tag der Geburt an abzüglich der Differenz zwischen 40 SSW und der Woche der Frühgeburtlichkeit. Beispiel: Ein in der 32+0 SSW geborenes Kind hat nach 10 Lebenswochen ein korrigiertes Alter von 10 – (40-32) = 10-8 = 2 Wochen

Hinweis: WHO-Empfehlungen zum Download Die »WHO-Recommendations for care of the preterm or low-birth-weight infant« können kostenlos heruntergeladen werden:

www.who.int/publications/i/item/9789240058262


Zitiervorlage
Ramsayer, B. & Fleming, V. (2023). Neue Empfehlungen der WHO: Frühgeborene besser betreuen. Deutsche Hebammen Zeitschrift, 75 (6), 72–77.
Literatur
AWMF (2022). Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften: S2k-Leitlinie: Praevention und Therapie der Fruehgeburt.

EC (2021). European Commission. Initiative on Breast Cancer: Development of good practice statements. https://healthcare-quality.jrc.ec.europa.eu/sites/default/files/Guidelines/Good-practice-statement/ECIBC_good-practice-statement.pdf

Sayn-Wittgenstein, F. (2007). Geburtshilfe neu denken, Bern, Verlag Hans Huber.

UNFPA (2021). United Nations Popululation Fund. The State of the World´s Midwifery Report. UNFPA: New York.

WHO (2011). Guidelines on optimal feeding of low birth-weight infants in low- and middle income countries. Geneva: World Health Organization.

WHO (2012). Recommendations for management of common childhood conditions: evidence for technical update of pocket book recommendations: newborn conditions, dysentery, pneumonia, oxygen use and delivery, common causes of fever, severe acute malnutrition and supportive care. Geneva: World Health Organization.

WHO (2015). WHO recommendations on interventions to improve preterm birth outcomes. Geneva: World Health Organization.

WHO (2022a). Weltgesundheitsorganisation. WHO recommendations on maternal and newborn care for a positive postnatal experience. Geneva: World Health Organization, Licence: CC BY-NC-SA 3.0 IGO.

WHO (2022b). WHO recommendations for care of the preterm or low-birth-weight infant. World Health Organization. Licence: CC BY-NC-SA3.0IGO.

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