Anfang November trafen sich ExpertInnen in Potsdam zum 4. Interdisziplinären Beckenbodenkongress. Auch – die nur wenig vertretenen – Hebammen konnten hier aus dem vielseitigen Programm zur Funktion und Dysfunktion des weiblichen Beckenbodens wichtige Erkenntnisse sammeln. Einblicke in die Anatomie gab ein Workshop am Leichenpräparat. Der Austausch über die Anatomie regte auch die Diskussion über Gebärhaltungen und ihre Folgen für den Beckenboden an. Ein Kongress, der ureigene Hebammenthemen betraf und zukünftig noch mehr Hebammen ansprechen könnte.

Allabendlich flimmert Werbung für Slipeinlagen und Windeln für Frauen mittleren Alters über die deutschen Fernsehbildschirme und außer den betroffenen Frauen weiß niemand, wofür. Wer weiß schon, dass man etwas tun kann, um wieder ohne Inkontinenz­windel zu leben. Dabei haben wirklich alle Frauen hierzulande Zugang zu einer urogynäkologischen Betreuung. Deutschland verfügt neben vielen PhysiotherapeutInnen mit Spezialisierung auf das Becken auch noch über 70 Beckenbodenzentren und weitere urogynäkologische und proktologische Praxen und Kliniken.

Spagat zwischen Gewinn und Heilung

Am 6. und 7. November 2015 fand in Potsdam der 4. Interdisziplinäre Beckenbodenkongress statt. Die etwa 100 teilnehmenden UrologInnen, ProktologInnen, UrogynäkologInnen, GeburtshelferInnen, PhysiotherapeutInnen und ein paar Hebammen schufen eine angenehme dichte Atmosphäre, die sich wie in einem geheimen Zirkel von Wissenden anfühlte. Sie trafen sich, um über die Anatomie des weiblichen und männlichen Beckens und Behandlungsstrategien der Harn- und Stuhlinkontinenz sowie des Deszensus genitalis zu reden.Die obligatorische Eröffnungsrede, von der man sich immer ein paar fachübergreifende Erkenntnisse verspricht, hielt Wilfried Jacobs, Vorstandsvorsitzender eines großen katholischen Krankenhauskonzerns und langjähriger Vorstandsvorsitzender der AOK Rheinland/Hamburg. Seine selbstgefällige Rede über Krankenhausökonomie und Patientenorientierung, über den Verteilungsmechanismus der Gelder im Gesundheitswesen enthielt leider nur bekannte Phrasen. Die Belastung des Personals spielte in seinem Denken keine Rolle. Ein einziger Satz wies dann doch auf die schlechte Bezahlung der Pflegekräfte hin. Sein Fokus lag aber darauf, mehr auf die PatientInnen zu hören und dann abzuwägen, welche ökonomischen Rahmenbedingungen zu ihrem Wohlbefinden zu ändern seien (um den Gewinn eines Krankenhauses zu maximieren). Diese Rede verdeutlichte einmal mehr, warum Gesundheit eine hoheitliche Aufgabe des Staates sein sollte und warum die Privatisierung des Gesundheitswesens nicht zu einer optimierten Versorgung führen kann.

Neue Forschungsfragen

Geburtshilflich sehr spannend waren die Vorträge, die sich mit der urogynäkologischen Anatomie beschäftigten. Noch herrscht keine Einigkeit darüber, wie genau welche Muskelgruppen im kleinen Becken arbeiten. Der Urogynäkologe Dr. Gerd Mohnfeld betonte, dass man früher mittels Röntgen nur die Veränderungen des knöchernen Beckenrings betrachten konnte. Die neuen bildgebenden Verfahren ermöglichen aber zunehmend neue Erkenntnisse über die Zugkraft und die Zugrichtung der innenliegenden Muskeln. Ob die Löcher, die man jetzt mittels Ultraschall oder MRT-Aufnahme im Levatormuskel sehen kann, einen Muskelverlust durch Geburtsverletzungen darstellen oder strukturell angelegte physiologische Auffaserungen sind, ist noch nicht ganz klar. Es auch ist nicht eindeutig belegt, dass sie allein für Inkontinenz- und Senkungsprobleme von Frauen verantwortlich gemacht werden können. In großen Übersichtsarbeiten würden zwischen 15 und 40 Prozent Levatorverletzungen nach einer Geburt entdeckt, wird Hans Peter Dietz von der Universität Sidney in Australien zitiert. Ob eine regelhafte Untersuchung sinnvoll wäre, ist aber fraglich. Denn die meisten Frauen haben gar keine Beeinträchtigungen und ein Levatordefekt führt nicht zwangsweise zu einer Stressharninkontinenz.

Mohnfeld wies außerdem darauf hin, dass die Scheide als stützendes Stabilitätsorgan unterschätzt werde und dass bei Geburtsverletzungen möglicherweise gleich eine Naht in den Levator gesetzt werden sollte, eine sogenannte Levator-Damm-Plastik. Wichtig in jedem Fall sei der Wiederaufbau der rectovaginalen Faszie, bevor die Vagina mit einer fortlaufenden Naht versorgt wird, um Rectocelen zu vermeiden.

Aus seinen Betrachtungen ergaben sich interessante Forschungsfragen:

  • Leiden Frauen, bei denen sich der kindliche Kopf schon in der Schwangerschaft ins kleine Becken einstellt, häufiger unter postpartaler Harninkontinenz als Frauen, bei denen der Kopf erst mit Geburtsbeginn ins kleine Becken eintritt?
  • Und welche Dauer der Austreibungsperiode führt eher zu Levatorverletzungen, die ganz kurze – traumatisch rupturierend – oder die lange – kontinuierlich überdehnend?

Anatomie im Wandel

Anatomisch klar scheint jetzt, dass der M. transversus perinei profundus als Muskel nicht existiert, sondern sich als dreidimensionale Faszie im kleinen Becken darstellt, die sich ähnlich wie ein dichtgewebtes Spinnennetz schützend und stabilisierend um Nerven, Bänder und Gefäße legt. Ein Workshop am Leichenpräparat zur aktuelle Beckenbodenanatomie bei den Urogynäkologen Dr. Michal Otcenasek und Dr. Vaclav Baca ermöglichte fantastische Einblicke in die extra dafür freipräparierten Räume des kleinen Beckens. Wenn man sieht, wie dick der Nervus pudendus noch ist, kurz bevor er den Beckenboden innerviert, kann man sich leichter vorstellen, wie sehr ein postpartales Hämatom darauf drücken und die Reizweiterleitung blockieren kann. Damit erklärt sich manche vorübergehende Inkontinenz bei intakten Muskeln. Wenn die Hebamme dieses Geschehen einer Frau im Wochenbett so erklären kann, kann sie möglicherweise viel Stress und Belastung aus den ersten Tagen herausnehmen.

Als Wiederholung sehr gut war die Darstellung über Bau und Funktion des analen Sphinctermuskels. Die ermüdungslose Spontanaktivität des Muskulus sphincter ani internus sichert selbst mit wenig Material oft noch eine gute Funktion. Sie bewahrt damit die Stuhlkontinenz. Aber es gibt sehr viele Krankheiten, die zu einer Stuhlinkontinenz führen können. Das heißt, nicht bei jeder Frau mit Stuhlinkontinenz ist die vorausgegangene Geburt ursächlich. Sehr viel häufiger sind zum Beispiel Probleme durch perianale Infektionen, Hämorrhoiden und Analfisteln, bei Morbus Crohn und bei Diabetes mellitus.

Auch zu wenig Bewegung im Unterkörper durch zu viel sitzende Tätigkeit und Übergewicht führen zu einer mangelnden Muskelspannung im Beckenboden und zu Stuhlinkontinenz. Es gibt sehr unterschiedliche operative Möglichkeiten, die anale Sphincterfunktion wiederherzustellen. Die Urogynäkologin Dr. Annett Gauruder-Burmester stellte verschiedene artifizielle Sphinctermodelle vor, von einer umschließenden Manschette bis zu einer magnetischen Perlenkette an Stelle des Schließmuskels.

Eine typische Aufgabe für UrogynäkologInnen ist die Behandlung von Harninkontinenz und Senkungsbeschwerden. Das kann konservativ zum Beispiel mit gezieltem Beckenbodentraining unter Feedback-Funktion geschehen, oder operativ mit einer Botoxinjektion in den Blasenmuskel bei einer hyperaktiven Blase, präsentiert von dem Urogynäkologen Dr. Thomas Fink. Auch hier gibt es vielfältige Möglichkeiten.

Nicht zuletzt gehören die sexuellen Funktionsstörungen zum „täglichen Brot“ der Beckenbodenspezialisten. Häufig sind Sexualstörungen mit Beckenbodenproblemen assoziiert. Sie müssen aber nicht immer ursächlich dazu führen. Bei Männern ist die erektile Dysfunktion beispielsweise zu 50 Prozent organisch verursacht. Manchmal sind die Probleme auch ein Indikator für psychosexuelle Störungen, die ihre Ursache ganz woanders haben, zum Beispiel im falschen Partner oder bei sexuellem Missbrauch. Eine genaue Diagnostik und die Anamnese der Lebensumstände durch SpezialistInnen sind nötig, um die richtige Therapie zu finden. Möglicherweise reicht eine konservative Behandlung wie Beckenbodentraining oder Psychotherapie.

Etwa die Hälfte aller Fachvorträge beschäftigte sich mit Erkrankungen von Frauen im Beckenbereich. Die anderen waren den Männern gewidmet, für Hebammen nur insofern spannend, weil wir darüber so gut wie gar nichts wissen. Zu guter Letzt war noch ein Vortrag angekündigt vom pensionierten Professor Dr. Rainer Bollmann, dem ehemaligen Chefarzt der Charité, über die „Historie der Geburtsmedizin in Deutschland“. Wie der Moderator nach dem desaströsen Vortrag spitz anmerkte, ging es dabei aber nicht um die Geschichte der Geburtsmedizin, sondern um die Geschichte eines Geburtsmediziners in Deutschland. Bollmann war als Pränataldiagnostiker der ersten Stunde nie ganz unumstrittenen. Aber keiner weiß, was ihn bewegte, aus dem Nichts heraus plötzlich die Hausgeburtshilfe zu diffamieren. Da fehlt ihm offensichtlich in seiner Sozialisation als Frauenarzt in der DDR das Erleben der Hausgeburtshilfe. Es führte bei allen noch Anwesenden zu einem unübersehbaren Fremdschämeffekt.

Ureigene Hebammenthemen

Die Diskussionen über die Anatomie regten Gedanken über die Gebärhaltungen an, die einer Erkundung bedürfen: Sind Verletzungen des M. levator ani geringer, wenn die Frau auf dem Kreuzbein, also in Rückenlage liegt, weil der Levator nicht so weit strapaziert und überdehnt wird wie bei den Frauen, die ein frei bewegliches Becken zu Geburt haben?

Es bleibt Etliches zu beforschen, zu belegen oder zu widerlegen. Vieles davon sind ureigenste Hebammenthemen, die vielleicht auch zu einem Umdenken in der Geburtsbetreuung führen könnten.

Ich kann allen Kolleginnen und Studierenden nur empfehlen, auch zu Beckenbodenkongressen zu fahren. Schwangerschaft und Geburt sind gar nicht so selten auslösende Faktoren für Probleme, die lange nach einer Geburt auftreten. Sie fallen aus dem Blickfeld der Hebammen heraus, aber die Frauen müssen sich dann den Rest des Lebens damit beschäftigen. Auch wenn sie sich nicht immer aufhalten lassen, können Hebammen die Frauen ermutigen, sich Hilfe bei SpezialistInnen zu suchen, zum Beispiel in einem der vielen Beckenbodenzentren.

Zitiervorlage
Seehafer P: Interdisziplinärer Beckenbodenkongress: Neue Einsichten in die Anatomie. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2016. 68 (2): 83–84
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