Ein Embryo zeigt im Alter von 31 Tagen bereits angedeutete Gesichtszüge. Der 1. Schlundbogen (Mandibularbogen) hat kleine Wülste gebildet, die sich zu Ober- und Unterkiefer weiterentwickeln. Ab dem 2. Schwangerschaftsmonat bildet dieser 1. Schlundbogen zudem die vorderen zwei Drittel der Zunge mit ihren Geschmacksknospen. An der Bildung der Zunge sind ebenfalls der 2., 3. und 4. Schlundbogen beteiligt. Illustration: © Birgit Heimbach

Gesichtsfehlbildungen entwickeln sich zu Beginn der Schwangerschaft und sind für die Eltern schwer zu verkraften. Am Kompetenzzentrum für Lippen-, Kiefer-, Gaumen- und Nasenfehlbildungen der DRK-Kinderklinik Siegen wurden chirurgische Maßnahmen entwickelt, die bei betroffenen Kindern für ästhetische, anatomisch und funktionell korrekte Funktionsräume sorgen, die auch das Stillen ermöglichen.

Fehlbildungen von Lippen, Kiefer oder Nase entstehen ganz am Anfang. In der vierten bis fünften Schwangerschaftswoche formen sich die Gewebe, aus denen sich die Lippe, Nase, Wangen und der Kiefer entwickeln. Bei Störungen im Ablauf der Gewebsentwicklung (Differenzierung) entsteht die Fehlbildung. Und dieses fehlentwickelte Gewebe entwickelt sich in dieser anders entstandenen Form fort.

Etwa im Alter von acht bis neun Schwangerschaftswochen entstehen die innere Nase, die Nasengänge, der Rachen sowie der weiche und harte Gaumen. Auch die Zunge entwickelt sich zu diesem Zeitpunkt. Die Fehlbildung von Lippe, äußerer Nase und Kiefer kann auf diesen Bereich beschränkt bleiben oder es kann sich zu diesem Zeitpunkt eine Lippen-, Kiefer-, Gaumen- und Nasenfehlbildung entwickeln (LKG-Spalte). Unabhängig davon kann eine Fehlbildung der inneren Nase (V = Vomer), des harten Gaumens (G = Gaumen) und des weichen Gaumens (S = Segelgaumen) entstehen (Gaumenspalte). Genetisch wird die Segel-, Gaumen- und Vomerfehlbildung von der Lippen-, Kiefer-, Nasen- und Lippen-, Kiefer-, Gaumen- und Nasenfehlbildung unterschieden. Die Gruppen unterscheiden sich in der Häufigkeit ihres Auftretens, in der Verteilung männlich zu weiblich und in der Häufigkeit der Begleitfehlbildungen oder auch in der Häufigkeit eines syndromalen Gesamtbildes. Kinder mit einer Segel-, Gaumen- und Vomerfehlbildung sind davon häufiger betroffen.

Verändertes Funktionsmuster

Sämtliche Bewegungsmuster in Mund, Nase und Rachen sind an die Fehlbildung angepasst. Insbesondere scheint das Bewegungsmuster der Zunge und des gesamten Schluckapparates betroffen zu sein – sie hat keine abgrenzenden Strukturen zur Nase, zum Rachen und zum Mund. Das veränderte Funktionsmuster der Zunge führt zur Verlagerung der Kiefer- und Gaumensegmente. Die Zungenbewegung zur Beförderung des Fruchtwassers ändert sich. Aber dass sich entwickelnde Kind merkt davon gar nichts. Für das Kind ist all das normal. Es hat an der Fehlbildung und aufgrund der Fehlbildung keine Schmerzen, es ist keine Verletzung (keine Aufspaltung). Es blutet auch nicht.

Für das Kind fühlt sich alles vollkommen normal an. Es hat zum Zeitpunkt der Geburt dieselben Bedürfnisse wie jedes andere Kind auch. Es möchte auf den Mutterbauch und an die Brüste, den Quell der Milch.

Chirurgie

Mittels geeigneter chirurgischer Maßnahmen sollen anatomisch und funktionell korrekte Funktionsräume entstehen. Darunter ist eine Anatomie zu verstehen, die dem normalen Gesichtsaufbau entspricht:

  • Zwei vollständige, von vorn bis in den Rachen reichende Nasengänge, die vollständig voneinander und von der Mundhöhle getrennt sind
  • Ein Nasenrachenraum, der so klein ist, dass die zum Kompensations­polster vergrößerte Rachenmandel (auch kindliche Polypen, adenoide Vegetationen genannt) nicht notwendig ist. Zur Erklärung: Durch die Segel-, Gaumen- und Vomerfehlbildung ist der Nasenrachenraum vergrößert, die Ventilfunktion des weichen Gaumens versagt, die Unterdruckbildung und der Sogaufbau in der Mundhöhle sind nicht möglich. Eine unmittelbare Folge ist das kompensatorische Wachstum der Rachenmandel (nicht aus immunologischen Gründen), um den zu weiten Nasenrachenraum einzuengen. Hierfür wächst sie vom Rachendach nach vorn unten und füllt mitunter den gesamten Nasenrachenraum aus. Folgen sind: Initial ist der Nasenrachenraum kleiner, die Ernährung gelingt vielfach leichter, der nasale Rückfluss von Milch wird weniger. Im Weiteren aber erhöht die vergrößerte Rachenmandel das Risiko der Mittelohrbelüftungsstörung, das ohnehin aufgrund der Fehlbildung wesentlich erhöht ist. Nach erfolgter Korrektur des Gaumens sowie der inneren Nase (dadurch wird der Nasenrachenraum auf das normale Maß verkleinert) kann es zunächst zu Nasenatmungsstörungen und mittelfristig zur Sprachklangverfärbung aufgrund einer geschlossen-nasalen Komponente kommen.
  • Eine Einheit von weichem und hartem Gaumen, gegebenenfalls in Verbindung mit dem Zahnbogen, die eine vollständige Trennung der Mundhöhle von den Nasengängen darstellt, ohne Restlöcher oder eine Restöffnung in die Nase hinein
  • Eine Struktureinheit von Lippe und Nase nach außen, die nicht nur gut aussieht, sondern vor allem gut funktioniert. Hierfür ist eine gute muskuläre Funktion wichtig – insbesondere gilt dies für Kinder mit einer beidseitigen Fehlbildung, da in der Zwischenlippe keine Muskulatur ausgebildet ist. Zur Erläuterung: Bei Kindern mit einer beidseitigen Lippen-, Kiefer- und Nasenfehlbildung liegen drei voneinander getrennte Fehlbildungsbereiche vor: linker und rechter Lippen- und Kieferanteil sowie ein mittiger Lippen- und Kieferanteil, die Zwischenlippe und der Zwischenkiefer (dieser wurde anatomisch von Johann Wolfgang von Goethe erstmals beschrieben).

Damit der Muskel eine korrekte Lippenbewegung auslösen kann, benötigt die Lippe den Mundvorhof. Dies ist der Raum zwischen der Lippe und dem Zahnbogen. Er ist sozusagen das »Gelenk« der Lippe im Vergleich zu einem Arm oder Bein – ohne Gelenk keine Bewegung. Ohne Mundvorhof kann sich die Lippe nicht oder nur unzureichend bewegen. Einen guten Mundvorhof kann man eigentlich erst dann bilden, wenn der Kiefer- und Zahnbogen restlochfrei hergestellt wurde. Eine gute Ästhetik erzielt man dann, wenn die Schnittführung sich der normalen Hauttextur und -form unterwirft

In der Klinik des Kompetenzzentrums für Lippen-, Kiefer, Gaumen- und Nasenfehlbildungen der DRK-Kinderklinik Siegen arbeiten wir mit zwei chirurgischen Schritten, die exakt aufeinander aufbauen: Zunächst erfolgen die Bildung des weichen Gaumens, des harten Gaumens und des zahntragenden Fortsatzes des Oberkiefers sowie die Bildung der darüber gelegenen Nasengänge über die gesamte Länge der Fehlbildung. Am Ende der Operation ist sowohl von der Nasenseite als auch von der Mundseite alles mit ortsständigem Gewebe nachgebildet und dicht. Im zweiten Schritt werden bei dieser Operation die Gesichtsweichteile – Nase und Oberlippe – im oben beschriebenen Sinn zusammengefügt. Falls chirurgisch korrekturbedürftige Auffälligkeiten vorliegen, zum Beispiel ein verkürztes Zungenband oder ein zu tief inserierendes Oberlippenband, werden diese mit korrigiert.

Falls erforderlich, wird in der Zeit von der Geburt bis zur ersten OP im Alter von etwa sieben Monaten eine Mund-Nasen-Trennplatte eingefügt. Das ist immer dann der Fall, wenn die Fehlbildung so weit offen ist, dass die Zunge Zugang in die Nase findet und sich habituell dort hineinplatziert.

Funktionelle Förderung

Durch die fehlende Aktivierung ist der Muskelkraftaufbau der erweiterten Atem- und Schluckmuskulatur eingeschränkt. Die Einheit von Oberkiefer und Unterkiefer ist durch mangelhaften Mundschluss, fehlende Unterdruckbildung sowie ungünstige Platzierung der Zunge in das Gaumengewölbe gestört. Dadurch bilden sich neurophysiologisch andere, an die Fehlbildung angepasste Bewegungsmuster der Mund- und Zungenmotorik sowie der Rumpfstabilisierung und der Körperspannung aus.

Leider springen diese Bewegungsmuster nicht mit durchgeführter Operation und somit chirurgisch korrekt hergestellten Funktionsräumen in normale Bewegungsmuster um. Das ist die Folge der neurophysiologischen Bahnung dieser Bewegungsmuster. Das Kind und sein Gehirn wissen schließlich nicht, dass dies unzureichende Bewegungsmuster sind. Deshalb benötigen praktisch alle Kinder eine strukturierte, langfristige Förderung der Mundmotorik, des Schluckmusters, der Zungenbewegung und ergänzend der Körperwahrnehmung, der Körperspannung und der Körperkraft. Und hierfür ist nicht nur Logopädie im Sinne der mundmotorischen Stimulation notwendig, sondern auch ergänzende Krankengymnastik, gegebenenfalls Motopädie und vergleichbare Therapieschemata.

Stabile psychische Entwicklung der Familie

Zu welchem Zeitpunkt auch immer die Familie mit der Diagnose einer Gesichtsfehlbildung des Kindes konfrontiert wird, führt dies zu Verunsicherung, zu Angst, zu dem Gefühl allein dazustehen, zu Hilflosigkeit. Das kann sich anfühlen wie ein Stich in die Seele. Eine seelische Verletzung der Eltern – der Verlust der Vorstellung einer intakten Zukunft, der Verlust der sicheren Annahme eines unversehrten Kindes.

Im Weiteren folgt die Sorge: »Was wird aus dem Kind?«, »Was wird aus uns, unseren beruflichen, familiären Ideen?«, »Wie reagiert das Geschwisterkind?«, »Was haben wir falsch gemacht?« und so weiter. Aus der Umgebung kommen regelmäßig Unverständnis oder Verharmlosung der Fehlbildung: »Das bisschen Spalte, das macht doch nix, das lässt sich doch heute gut operieren.« Von Ärzt:innen und Therapeut:innen erfahren Eltern Uneinheitliches bis hin zu nichts. Die Informationen aus dem Internet widersprechen sich.

All das verstärkt das Gefühl des Unverstandenseins, der Hilflosigkeit, des Schmerzes. Und all dies sind tiefgreifende innere Wunden – je weniger, desto besser, aber völlig frei von irgendeinem der beschriebenen Gefühle ist sicher kein Elternteil.

So wie eine körperliche Verletzung selbstverständlich behandelt wird, so sollte auch diese Verletzung untersucht und gegebenenfalls behandelt werden. Sinnvollerweise findet ein heilpädagogisches/psychotherapeutisches Gespräch statt. Dies kann helfen, diese Wunden zu heilen. Stabile Eltern sind wichtig für ihre Kinder. Im Kompetenzzentrum für Lippen-, Kiefer, Gaumen- und Nasenfehlbildungen laden wir die Eltern ein, sich auf dieses Gespräch einzulassen. Je früher, desto besser, also auch schon in der Schwangerschaft. Wenn es gewünscht wird, versuchen wir gemeinsam herauszufinden, was stärkt, stützt und im Umgang mit der Situation hilfreich sein könnte. Alles, was Familien benötigen, um wieder in Balance zu kommen, ist vorhanden, auch wenn es ihnen im Augenblick nicht zur Verfügung steht.

Zitiervorlage
Koch, H. (2024). Kiefer-, Gaumen- und Nasenfehlbildungen: Operationen fürs Kind, Beratung für die Eltern. Deutsche Hebammen Zeitschrift, 76 (7), 36–39.
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