Als Hebammenschülerin begegnete ich auf der Schwangerenstation Frau M., 28 Jahre, 30. Schwangerschaftswoche, erste Schwangerschaft mit vorzeitiger Wehentätigkeit. Mehrmals täglich wurden bei ihr CTG-Kontrollen durchgeführt. Zu dem Auftrag, bei Frau M. das CTG anzulegen, erhielt ich den wohlgemeinten Hinweis: „Die spricht aber nicht viel und heult nur.” Beim Anlegen des CTGs erlebte ich Frau M. sehr verängstigt und besorgt. Ihr Blick wich nicht vom Drucker, auf dem die Wehentätigkeit dokumentiert wurde. Ich sprach an, was ich sah: ihre Angst und Sorge im Gesicht, ihre angespannte Körperhaltung, die verweinten Augen, die sich sogleich wieder mit Tränen füllten. Ich nahm einen Stuhl und setzte mich zu ihr. Ihre Tränen flossen und nach einer Weile begann sie zu reden. Frau M. sprach von den Sorgen um ihren Mann, der nach einem Arbeitsunfall mit anschließender Beinoperation auch im Krankenhaus lag. Sie erzählte davon, dass sie in der neuen Wohnung, die noch nicht fertig eingerichtet war, allein gewesen sei, hier in der Stadt kenne sie kaum jemanden und ihre Familie sei auch weit weg. Allein in der Wohnung bekam sie Wehen, wurde ins Krankenhaus eingewiesen und hatte nun auch noch die heftigen Sorgen um das Kind: „Mir wird das alles zu viel!” Während des Erzählens wurde Frau M. ruhiger und auch ihre Körperhaltung entspannte sich etwas. Die Tränen trockneten. Und zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass die Wehentätigkeit nachgelassen hatte. Ich verließ nach unserem Gespräch das Zimmer, um nach 15 Minuten erneut überrascht zu werden. Als ich das CTG ausschalten wollte, zeichnete es erneut Wehentätigkeit auf. Frau M. bestätigte mir, dass sie große Angst habe, wenn sie während der CTG-Kontrolle allein im Zimmer sei.
Dies war meine erste „psychosomatische Erfahrung”. Damals, als Hebammenschülerin, konnte ich das komplexe multifaktorielle Geschehen noch nicht vollständig erfassen. Doch dieses Erleben genügte, um mein Interesse an körperlichen, seelischen und psychosozialen Zusammenhängen zu wecken und bis heute ständig zu erweitern.
Beziehungsarbeit
Psychosomatisches Arbeiten als Hebamme beinhaltet unter anderem Beziehungsarbeit. Ich begegne meinem Gegenüber in seiner Ganzheit; Beachtung finden die körperlichen, seelischen und sozialen Ebenen, auch bio-psycho-soziales-Modell genannt. Das heißt, der Körper ist ein physikalisch-chemisch-biologisches System. Der Mensch ist ein erlebendes Subjekt mit seiner individuellen Lebensgeschichte, seiner Selbstbewusstheit und Identität, seinen früheren und heutigen Beziehungen, seinen Prägungen und Werten in Familie, Religion und Gesellschaft (Janssen 2012). Bisher konnten sich Hebammen nicht gezielt fortbilden, um das „Handwerk” für psychosomatisches Handeln zu lernen. Daher erarbeiteten Hebammen des Landesverbandes Sachsen-Anhalt und Vertreterinnen der Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe (DGPFG) gemeinsam ein Curriculum für die Fortbildung „Psychosomatik für Hebammen”. Die erste Fortbildung fand von Februar bis Oktober 2013 in Magdeburg statt. Als ReferentInnen wurden Ärztinnen und Psychologen der DGPFG angefragt. Zusammen mit Hebammen gelang die Erarbeitung einer psychosomatischen Fortbildung für ihre Zielgruppe. Sie waren dafür im Gespräch mit FachärztInnen für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie mit Erfahrung in Geburtshilfe und PsychologInnen mit Erfahrung in psychosomatischer Geburtshilfe.
Ausgehend von den „Curricula zur Vermittlung der psychosomatischen Grundversorgung in der Frauenheilkunde und Geburtshilfe”, ist eine Einteilung in Theorievermittlung, verbale Intervention und Balint-Gruppenarbeit vorgesehen. Die vier Wochenendseminare bauen aufeinander auf. Die Teilnehmerinnen eignen sich die Fortbildungsinhalte in Vorträgen, Gruppenarbeit, Rollenspielen und Fallbesprechungen an. Theoretische und praxisrelevante Grundlagen sind Bestandteile jedes Kurses. Diese können sofort in den Praxisalltag integriert werden.
Viermal zwölf Stunden Theorie- und Praxisvermittlung und weitere zwölf angerechnete Stunden für Literaturstudium und Falldokumentation ergeben insgesamt 60 Stunden für diese Fortbildung.
Gestörte Wechselwirkungen
Unterschiedliche Beschwerden, Störungen oder Erkrankungen während Schwangerschaft, Geburt oder Wochenbett geben Hinweis auf gestörte Wechselwirkungen zwischen seelischen, psychosozialen und körperlichen Prozessen. Genannt seien hier einige wenige Beispiele: Hyperemesis gravidarum, schwangerschaftsinduzierte Hypertonie, protrahierter Geburtsverlauf oder Stillschwierigkeiten. Daher soll die Fortbildung Einsichten in psychosomatische Zusammenhänge vermitteln. Professionelle Gesprächsführung und verbale Interventionsmöglichkeiten in der Beratungs- und Betreuungssituation gehören in Theorie und Praxis zu jedem Seminarteil.
Theoretische Inhalte sind unter anderem Grundlagen der KlientInnenzentrierten Gesprächsführung nach Rogers, Systemische Ansätze, Gesprächstechniken und Gesprächshemmer, sowie das Kennenlernen des Beratungszyklus, Förderung von Copingstrategien zum Analysieren und Aktivieren von Bewältigungsstrategien. Weitere Themen beinhalteten psychische Veränderungen während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett, Grundlagen der Psychopathologie, Förderung von Gesundheit sowie Umgang mit Widerständen und Konflikten. Die Teilnehmerinnen können im praktischen Teil in Rollenspielen ihre eigenen Erfahrungen und Handlungsmöglichkeiten bei der Beziehungsgestaltung wahrnehmen, reflektieren und analysieren. Beispiele aus der Praxis und der alltäglichen Beratungs- und Betreuungssituation wie der vorzeitigen Wehentätigkeit, dem Umgang mit Ängsten, Terminüberschreitung, Geburtseinleitung oder Wunschsectio ermöglichen das Erfassen, Verbalisieren, Paraphrasieren und Spiegeln der geäußerten Anliegen der Gesprächspartnerin. Die Hebammen erleben sich in den unterschiedlichen Rollen zum Beispiel als Schwangere, Partnerin, Hebamme oder als Beobachterin der dargestellten Betreuungssituation. So erhalten sie hilfreiche Einblicke in die Beziehungsarbeit und Beratungstätigkeit sowie in Interaktions- und Interventionsmöglichkeiten. Die gewonnenen Einsichten und Erfahrungen können sie direkt in ihren Arbeitsalltag integrieren.
Die Teilnehmerinnen der Fortbildung verfassen zwischen den einzelnen Seminarwochenenden individuelle Falldokumentationen von Betreuungssituationen nach den vorgegebenen Kriterien Verlauf, Analyse der Interventionssituation (mit Schwerpunkten Kommunikation, Förderung von Bewältigungsstrategien, Beziehungsarbeit und Beratungstätigkeit in Konfliktsituationen) und Selbstreflexion. Diese Dokumentationen können als Fallbesprechung bei der Balintgruppenarbeit dienen. Ihr Feedback zu den Falldokumentationen geben die ReferentInnen in schriftlicher Form.
Aus Denkschemata heraustreten
Die Balintgruppenarbeit befähigt durch Darstellung und Dokumentation eigener Beratungsverläufe zu einer gezielten Reflexion, erhöht die Professionalität und dient der Selbsterfahrung. Eine Hebamme beschreibt in diesem Setting der kollegialen, multiprofessionellen Gruppe eine Betreuungssituation zwischen ihr und einer Frau beziehungsweise einem Paar, die sie als problematisch erlebt. Die anderen Gruppenteilnehmerinnen sind aufgefordert, sich der geschilderten Situation zu öffnen und sich die eigenen Gefühle gegenüber der Frau oder dem Paar bewusst zu machen. Die Beziehungs- und Interaktionsproblematik wird so nach allen Richtungen ausgeleuchtet, analysiert und damit verständlich und nachempfindbar. Die Fantasie der Teilnehmenden wird gefördert und lässt sie aus festgefahrenen Denkschemata heraustreten. Balint ermutigt: Frech denken – vorsichtig handeln. So erweitert sich der Blickwinkel, Vorurteile können abgebaut und Kommunikationsschwierigkeiten erkannt und gelöst werden. Die als „schwierig” geschilderte Ausgangssituation kann zu einer interessanten Beziehung wachsen.
Die differenzierten Einblicke in verschiedene psychosomatische Störungen und in die Zusammenhänge von körperlichem und seelischem Befinden tragen somit dazu bei, die Kommunikationsfähigkeiten und Handlungsmöglichkeiten der Teilnehmerinnen professionell zu erweitern. Gleichzeitig befähigt das Erkennen eigener Grenzen umso selbstverständlicher, eine gegebenenfalls notwendige weiterführende Unterstützung und Mitbetreuung anderer Professionen einzufordern. Die Stärkung der psychosozialen Kompetenz erhöht die Zufriedenheit der betreuten Frauen und Paare und letztlich auch die der Hebammen.
Die Fortbildungsteilnehmerinnen sind aufgefordert, ihre Erfahrungen zu dokumentieren, um sie im Rahmen der Fortbildung zu bearbeiten. Der im Folgenden geschilderte Betreuungsverlauf gibt Einblick in den psychosomatischen Ansatz. Am Beispiel Hyperemesis gravidarum sollen die Möglichkeiten einer psychosomatischen Betreuungssituation veranschaulicht werden.
Ein Beispiel
Frau S., eine 23-jährige in Partnerschaft lebende Frau, zweite Gravidität/Nullipara, meldet sich bei der Hebamme in der 25. Schwangerschaftswoche. Sie ist zurzeit arbeitsunfähig wegen zunehmender Beschwerden mit massiver Übelkeit und Erbrechen, allgemeiner Erschöpfung durch Schlafprobleme und Kreislaufbeschwerden. Frau S. und die Hebamme kennen sich seit der zwölften Schwangerschaftswoche durch die schwangerschaftsbegleitende Akupunktur.
Der Beratungstermin wurde zusätzlich eingefordert, weil die Beschwerden zunahmen. Das Gespräch gestaltet sich anfänglich zurückhaltend und schwierig. Die Hebamme erfasst die Bedürfnisse der Schwangeren und den Betreuungsbedarf. Sie erkundigt sich nach derzeit bestehenden Ängsten und Sorgen sowie nach der aktuellen Lebenssituation und den sozialen Netzwerken. Zusätzliche Fragen nach einer eventuell auslösenden Situation für die akuten Beschwerden, nach den Bewältigungsstrategien und Ressourcen bei eventuell vorhergehenden Krisen sowie der Blick auf die Persönlichkeitseigenschaften der Schwangeren verhelfen zu einem ganzheitlichen Blick. Zunächst stellt sich für Frau S. noch kein Zusammenhang zwischen körperlichen Beschwerden und psychischer Belastung her. Sie wird von der Hebamme auf ihre besondere Situation angesprochen – der Partner ist derzeit während eines Bundeswehreinsatzes im Ausland stationiert. Der Entbindungstermin einer vorherigen, in der neunten Schwangerschaftswoche durch Fehlgeburt beendeten Schwangerschaft, fiel in diesen Beratungszeitraum. Doch dies ist Frau S. nicht bewusst. Als die Hebamme sie darauf hinweist, reagiert Frau S. erstaunt. Sie äußert nun weiteren Gesprächsbedarf und erkennt ansatzweise Zusammenhänge. Dazu werden Ziele und ein zeitlicher Rahmen für die Weiterarbeit vereinbart. Die Beziehungsarbeit zwischen Hebamme und Frau S. ist offen und vertrauensvoll.
Die Verbalisierung der Gefühle und der derzeitigen Bedürfnisse und Sorgen sind Inhalte der Beratung. Ebenso stehen Wege zur Verbesserung ihres Befindens im Fokus der Gesprächstermine. Durch gezielte verbale Interventionen im Laufe der Prozessberatung nehmen die Beschwerden ab. Zum Beispiel wird Frau S. deutlich, dass sich ihr Befinden bessert, wenn sie nicht allein in ihrer Wohnung ist oder wenn sie gemeinsam mit Freunden isst. Die Hebamme fragt, welche Möglichkeiten sie sich vorstellen kann, um öfter in Gemeinschaft zu sein. Es werden verschiedene Varianten besprochen und konkrete Umsetzungsideen formuliert. Die regelmäßig vereinbarten Termine können das Vertrauensverhältnis wachsen lassen und geben eine Struktur vor. Es gelingt Frau S. im Gespräch immer mehr, ihre eigenen Bedürfnisse gegenüber der Hebamme klar zu formulieren und Eigeninitiative zur Umsetzung zu entwickeln.
Bei der Reflexion der Beratungstätigkeit geht es darum, zu schauen, was die Hebamme als positiv erlebte und warum sie dies so empfand. Ebenso werden in der Reflexion das als schwierig Erlebte in den Blick genommen und die zukünftigen Gestaltungsmöglichkeiten besprochen. So wurde der Hebamme deutlich, dass die anfängliche Zurückhaltung und Verschlossenheit von Frau S. schwierig für sie war, es ihr aber gelungen ist, dies nicht als persönliches Unvermögen zu bewerten. So gelang es im Laufe der Zeit, eine gemeinsame Betreuungsbeziehung zu gestalten.
Sie hatte die Zurückhaltung akzeptiert und gegenüber Frau S. Gesprächsbereitschaft signalisiert. Rückblickend sagt die Hebamme, dass sie anfänglich zu sehr darauf fokussiert war, mit der Frau ins Gespräch zu kommen und so nicht auf ihre eigenen Gefühle geachtet habe, was ihr den Zugang zu Frau S. und ihrer Situation erschwerte.
Evaluationsergebnisse
Die Auswertung der Fortbildung „Psychosomatik für Hebammen” erfolgte mit Hilfe eines Fragebogens. Alle 13 Teilnehmerinnen wurden befragt, der Rücklauf lag bei 11 Bögen (84,5 Prozent), und ermöglichte eine umfassende Beurteilung. Die Kriterien für das Feedback waren die Veranstaltung insgesamt, der Kenntnisgewinn, inhaltlicher und zeitlicher Aufbau der Fortbildung, die Balintgruppenarbeit und die Umsetzbarkeit in die Praxis. Durchgehend gaben die Teilnehmerinnen eine sehr gute bis gute Bewertung. Die Umsetzbarkeit in die Praxis sahen sie teilweise als Herausforderung an. Als eine mögliche Ursache könnte der anfangs höhere Zeitaufwand bei der Beziehungsgestaltung, bei der Kommunikation und bei den verbalen Interventionen genannt werden. Besonders im stationären Bereich war die Umsetzbarkeit durch hohe Arbeitsdichte und Personalmangel erschwert.
Die Teilnehmerinnen waren insgesamt mit der Fortbildungsreihe sehr zufrieden. Sie wünschten eine weiterführende und aufbauende Fortbildung, um ihre gewonnenen Fähigkeiten und ihren Wissenszuwachs zu festigen und zu erweitern. Diese Veranstaltungsreihe ermöglichte einen Einblick in das Fachgebiet der Psychosomatik und das komplexe Zusammenspiel von Körper, Geist und Seele.
Ressourcen stärken
Ressourcenorientiertes Arbeiten kann gelingen, wenn wir Beschwerden aus diesem Zusammenhang heraus als Dysregulation von Körper und Seele verstehen. Doch das Verstehen allein genügt nicht, um den Frauen hilfreich und verständnisvoll zu begegnen. Ein fundiertes psychosomatisches Grundverständnis und der erweiterte Blick auf die psychosozialen Anforderungen in unserem Beruf sind als Grundlagen für eine professionelle Betreuung unumgänglich.
Als Hebamme begegnen wir den Frauen in ihrem sozialen Umfeld und können mögliche Sorgen und Probleme vor Ort erfassen und ansprechen. Hierzu bedarf es einer gezielten Kommunikationsschulung zur verbalen Intervention, um niedrigschwellige kompetente Unterstützung zu ermöglichen. Wichtig ist auch die Reflexion der eigenen Arbeit und der Beziehungsgestaltung. Dadurch erweitert sich der Handlungs- und Interventionsspielraum, um die Familien in ihren Kompetenzen und Ressourcen zu stärken und zu fördern sowie eigene Grenzen und Möglichkeiten zu erkennen. Der Aufbau von Netzwerken und damit die Zusammenarbeit verschiedener Professionen lässt die Zufriedenheit mit der eigenen Arbeit wachsen, schützt gleichzeitig aber auch vor der eigenen Überforderung.