Ein Kind, das bereitwillig etwa ein Drittel der Nahrung aufnimmt, dann aber plötzlich unglücklich wird, leidet möglicherweise unter Reflux bedingten Schmerzen. Foto: © Kerstin Pukall

Im ersten Teil des Artikels ging es um Essstörungen bei Kindern, die durch psychologische Entwicklungsstörungen oder eine nicht förderliche Interaktion mit der Mutter entstehen (siehe DHZ 2/2013, Seite 38ff.). In diesem Teil geht es um Fütterstörungen mit oder nach einer medizinischen Problematik. Diese richtig zu klassifizieren, erleichtert ihre Einordung und die Kommunikation darüber – auch für die Hebamme.

Im täglichen Berufsalltag und in der Konfrontation mit anderen Berufsgruppen wie KinderfachärztInnen, PsychologInnen oder TherapeutInnen ist jedes standardisierte Kommunikationsinstrument von Vorteil, da die besprochenen Inhalte sonst häufig mit wertendem persönlichem Vokabular begleitet werden. Diese sind in der Diskussion und der Wahl der therapeutischen Intervention oft nicht dienlich. Die sogenannte Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD10) weist aber keine Kategorie auf, in der Ess- oder Fütterungsstörungen bei Kleinkindern – geschweige bei Neu- und Frühgeborenen – treffend charakterisiert werden können. Deshalb verwendet die Universitätsklinik für Kinderheilkunde in Graz seit fast 30 Jahren routinemäßig das multiaxiale DC 0-3 (DiagnosticClassification Zero toThree)-System.

Einordnung nach dem „Grazer Modell”

Die AutorInnen des sogenannten „Grazer Modells” engagierten sich bereits von 1992 bis 1994 als PädiaterInnen in der Arbeitsgruppe des National Center for Clinical Infant Programs (NCCIP), die die erste Ausgabe DC 0-3 in Washington publizierte. Glücklicherweise wurde in der revidierten Ausgabe 2005 (DC 0-3R) die Hauptkategorie „Essverhaltensstörung” (600) auf wissenschaftlicher Basis in sechs weitere diagnostische Subkategorien eingeteilt, praxisnah und detailliert beschrieben.

Sensorisch bedingte Abneigung gegen Nahrung

Die Gruppe der Essstörungen, denen eine sensorisch bedingte Abneigung gegen Nahrung zugrunde liegt, ist ätiologisch sehr heterogen: Einerseits wird sie bei Kindern mit neurologischen Defiziten und Schwierigkeiten in der sensorischen Perzeption und Integration verwendet. Andererseits werden Kinder nach angeborener oder geburtstraumatischer Hirnschädigung mit vermehrtem Speichelfluss, Würgen oder Husten als Symptome von Dysphagie und beeinträchtigter Schluckfunktion ebenso reagieren. Diese Symptome treten häufig auf bei Kindern mit sensorischen Wahrnehmungsproblemen, allgemeinem Entwicklungsrückstand, Erkrankungen der Luftröhre, Paralysen der Stimmbänder oder Dysfunktion der Epiglottis auf und sind symptomatisch für Hirnläsionen.

Man sieht sie demnach häufig bei Kindern nach schwerer intrauteriner oder peripartaler Asphyxie, im Zustand nach intraventrikulärer Blutung, nach angeborener Chromosomen-Aberration und anderen Syndromen. Diese stehen immer in Zusammenhang mit einer beeinträchtigten motorischen Entwicklung. Die Kinder haben Schwierigkeiten, den Muskeltonus angepasst zu regulieren. Die Entwicklung der Spiegelneuronen ist beeinträchtigt.

Diese diagnostische Gruppe besteht aus vier Hauptgruppen: Da ist die Gruppe der physisch gesunden Kinder, deren Hauptproblem eine atypische sensorische Reaktion auf Geschmack, Konsistenzen und Gerüche von Nahrungsmitteln ist. Dies ist etwa bei Kindern mit tiefgreifenden Entwicklungsstörungen, frühkindlichem Autismus oder Down-Syndrom der Fall. Diese Kinder bleiben oft auf einer unreifen Stufe ihrer Essentwicklung stehen. Sie scheinen die zu erwartenden weiteren Entwicklungsschritte in Richtung Löffelkost oder fester Kost nicht zu erlernen. Sie reagieren wenig auf ein attraktives gemischtes Nahrungsangebot – und scheinen das Konzept von Nahrungsaufnahme nicht zu verstehen.

Dann gibt es die Kinder mit einer nachgewiesenen Entwicklungs- und neurologischen Beeinträchtigung, deren Einfluss auf die Saug- und Schluckfunktion oftmals missachtet wird, bis die Fütterungsstörung entdeckt wird. Saugen könnte anfangs gelingen, doch beim Beginn des Zufütterns von püriertem Essen und festen Nahrungsmitteln zeigen sich erstmals Probleme. Nachdem die Essentwicklung ein integrierter Teil der gesamten grob- und feinmotorischen Reifung ist, zeigt sich oftmals auch ein ösophagealer Reflux. Jede Pathologie, die in Zusammenhang mit neurologischen und sensorischen Innervationen steht, wird symptomatisch, sobald Nahrungsmengen erhöht werden oder eine komplexere Schluckfunktion erforderlich ist.

Außerdem existiert die Gruppe der sogenannten „Picky eaters” mit ihrem hochselektiven Essverhalten. Meist sind diese Kinder bezüglich Kognition und anderen Entwicklungsparametern altersgemäß oder nur wenig beeinträchtigt entwickelt. Sie zeigen eine orale Übersensibilität mit sehr ausgeprägten Geschmacks- und Konsistenzpräferenzen und akzeptieren nur wenige Nahrungsmittel. Manchmal scheint es, als würde sich ihr Verhalten besonders bei einer speziellen Bezugsperson (beispielsweise nur in der Nähe der Mutter) zeigen. Meist tritt das hochselektive Essverhalten allerdings in allen Situationen mit allen Personen auf. Eine Analyse der Ernährung mit Nahrungsmittelallergiebestimmung sowie eine Einschätzung von sozialem Gewinn versus sozialer Benachteiligung ist notwendig, um zu entscheiden, ob und welche Behandlung erforderlich ist.

Schließlich gibt es die vierte Gruppe der gemischt oral-sensorischen Empfindungs- und Wahrnehmungsprobleme mit neurologischen motorischen Defiziten in der Schluckfunktion, Entwicklungsrückstand und einer möglicherweise zugrunde liegenden neurodegenerativen Erkrankung.

Fazit: Kinder mit dieser Kategorie einer sensorisch bedingten Abneigung gegen Nahrung benötigen immer eine spezifische interdisziplinäre Analyse und Evaluation der Saug- und Schluckfunktionen und -koordination durch SpezialistInnen. LogopädInnen sind hier eine große Hilfe und sollten mit RadiologInnen, KinderfachärztInnen und HNO-ÄrztInnen zusammenarbeiten, um beim Vorliegen einer Dysphagie im engeren Sinne den bestmöglichen Weg zu finden, das betroffene Kind zu ernähren. Bei Kindern, die unter tiefgreifenden Entwicklungsstörungen leiden, muss eine Psychologin oder eine Psychologe mit Spezialisierung auf Entwicklung und Kommunikation in den Behandlungsplan integriert werden.

Essverhaltensstörung mit oder nach einer medizinischen Problematik

Jegliche zugrunde liegende medizinische Problematik kann sich auf die allgemeine Entwicklung, den Appetit, die Motivation und die Erkundungsbereitschaft eines Kindes negativ auswirken. Dies kann sich während der Phase der Erkrankung zeigen und besteht manchmal auch nach der körperlichen Genesung weiter. Dies gilt für alle Kinder, die an jeglicher Art einer schweren medizinischen Problematik leiden. Wenn Kinder Monate stationärer Behandlung erlebt und überlebt haben, kann jedes Signal – wie eben auch eine Verweigerung von Nahrung – als positiv aufgenommen werden. Denn dies ließe sich auch als ihr wachsender Sinn für Selbstbestimmung und das Zurückfinden in ein normales Leben interpretieren.

Wenn aber ein mangelnder Appetit zu Gewichtsstagnation führt oder sogar zu Gewichtsverlust, muss den Kindern deutlich gemacht werden, dass ihr Körper Nahrung braucht, um wieder gesund zu werden. Ausreichende Ernährung ist unter Umständen das wichtigste Medikament für den geschwächten Körper. Manche Kinder werden ein durch die Krankheit entstandenes Gewichtsdefizit leicht aufholen. Andere, die bereits vor ihrer Erkrankung eher leichtgewichtig waren, könnten Ernährungszusätze oder sogar zeitlich begrenzte Supplementnahrungen benötigen. Zeitlich begrenzte Sondenernährung über eine sogenannte perkutane endoskopische Gastrostomie (PEG), sofern die Dauer der schweren Erkrankung auf über zwei bis drei Monate geschätzt wird – mit anschließend durch ExpertInnen begleitete Sondenentwöhnung – ist definitiv die bessere Wahl als wochenlanges Nörgeln, Mahnen, Drängeln sowie Produzieren einer reaktiven, sekundären oder chronischen Fütter- oder Essstörung.

Alle Essverhaltensstörungen, die im Zusammenhang mit einer aktuellen oder vergangenen medizinischen Problematik stehen, können durch diese diagnostische Kategorie klassifiziert werden. Diese Gruppe steht grundsätzlich für posttraumatische Essverhaltensstörungen nach medizinischen Behandlungen, die beispielsweise nach Erstickungsepisoden, schweren gastrointestinalen Infektionen oder Infektionen im Mundbereich auftreten. Doch zeigt sich auch, dass auch Kinder nach extremer Frühgeburtlichkeit in der Sprechstunde in diese Kategorie eingeschlossen werden müssen, ebenso Kinder nach Organtransplantationen oder Krebserkrankungen, mit kardiologischen, pulmonologischen, nephrologischen und hepatischen Fehlregulationen sowie mit seltenen Stoffwechselerkrankungen, die einer spezifischen, oftmals übel schmeckenden Diät bedürfen.

Fazit: In jedem Fall einer zugrunde liegenden medizinischen Problematik ist es Aufgabe der MedizinerInnen, jene Parameter, die durch die Krankheit oder deren Behandlung auftreten, zu erkennen beziehungsweise aufzuzeigen: dass es sich „nur” um Konflikte im Essverhalten handelt, die auf Grund des grundsätzlich positiven medizinischen Fortschritts auftreten. PsychologInnen sind die nächsten Partner des Arztes bezüglich dieser Herausforderung. Die Rolle der Hebamme ist hier eher eine zuweisende. Beziehungsweise obliegt ihr die wichtige Früherkennung von Trinkschwierigkeiten, die im Zusammenhang mit einer komplexen medizinischen multifaktoriellen Geschichte des Kindes und der Eltern-Kind-Interaktion stehen.

Erkrankungen des Gastrointestinaltraktes

Ein Kind, das bereitwillig etwa ein Drittel der erwarteten Essensmenge aufnimmt, dann aber zu schreien beginnt, sich durchbiegt und plötzlich unglücklich wird, leidet oftmals unter Reflux bedingten Schmerzen. Die meisten Störungen, die mit diesem Code klassifiziert werden, entstehen durch, bei und nach medizinischen Problemen im Zungen-, Mund-, Rachen-, Speiseröhren-, Magen-, Zwölffingerdarm-, Darm- und analen Bereich. Alle bereits dargestellten Kategorien können zusätzlich in einem Zusammenhang mit Reflux stehen. Diese Kinder werden alle positiven Befunde bei Reflux-Untersuchungen aufweisen und selten auf die gezielte Medikation alleine reagieren, wenn der regulative oder interaktive Kernkonflikt der Essverhaltensstörung im Behandlungsplan nicht angesprochen wird. Die Kinder, die in dieser Gruppe klassifiziert werden, haben oftmals auch Operationen hinter sich, wie Gaumenspalten, Ösophagusatresien, Darmstenosen oder Operationen im Analbereich.

Seltene Umstände mit Veränderung der Nahrungsaufnahme

Ein Kind, das mit der Nahrungsaufnahme beginnt, dann aber sehr plötzlich blass wird und nahezu geschockt scheint, dessen Herzfrequenz steigt und das zu schwitzen beginnt, leidet möglicherweise an einem Dumping-Syndrom. Diese seltene, aber sehr beeindruckende klinische Präsentation stellt in den meisten Fällen ein medizinisch bedingtes Problem dar. Es resultiert aus einem Nichtvertragen von zu großen Mengen an Nahrung oder Sondenernährung mit der Fehllage der Sondenspitze im Magen, was schnell zu einem Verschluss des Ringmuskels führt.

Einige Zustände im Zusammenhang mit seltenen Essverhaltensproblemen haben eine genetische Basis. Die genetische Fehlbildung kann zu anatomischen, neurosensorischen oder hormonellen Dysregulationen führen, die für die Fütterungsproblematik verantwortlich sein können. Eine retrospektive Analyse von zuvor ausschließlich Sonden ernährten Kindern mit Chromosomenanomalien, die ohne jegliche Probleme entwöhnt werden konnten, weist darauf hin, dass andere Einflüsse auf die Eltern eher für das Fütterungsproblem verantwortlich sind als die spezielle neurologische und/oder anatomische Situation. Je schneller die Eltern Unterstützung erhalten, um über die unerwartete Gesamtsituation und/oder untypische Entwicklung ihres Kindes hinwegzukommen, desto leichter wird es ihnen fallen, ihr Kind gezielt, liebevoll und positiv zu unterstützen.

Resümee

Mütter sind zwar unter der Geburt oftmals ungemein stark, danach aber häufig wie rohe Eier mit zarten und zerbrechlichen Schalen. Ein gut gemeinter, aber falsch verstandener Rat kann eine unbeabsichtigte Kränkung und eine lebenslang schmerzende psychische Wunde verursachen und sogar noch Jahrzehnte danach für prophetische negative Vorahnungen verantwortlich gemacht werden. Darum ist die Rolle und Aufgabe jeder Hebamme, die eine belastende oder schwierige Fütterungssituation beobachtet, in erster Linie keine diagnostizierende oder wertende, sondern eine zuhörende und erstmals rezeptive. Das Erzählen persönlicher Erfahrungen aus dem eigenen Erleben gilt als unprofessionell und ist auch selten wirklich unterstützend. Im Gegenzug kann eine frühe und ausreichend klare diagnostische Zuteilung einer erfahrenen Geburtshelferin in die genannten und beschriebenen Hauptgruppen frühkindlicher Ess- und Fütterungsprobleme eine unverzichtbare positive Voraussetzung für eine spezifische effiziente und gezielte Hilfe durch SpezialistInnen sein.

Der gesunde Menschenverstand und jede das Selbstvertrauen verunsicherter Mütter unterstützende Grundhaltung müssen darum in einem Gleichgewicht stehen, so dass das Wohlbefinden und Gedeihen des abhängigen Säuglings im Mittelpunkt steht. In den meisten Fällen wird ein wohlwollendes und respektvolles Zuhören schon viel – wenn nicht das einzig Notwendige – für einen ersten Veränderungsimpuls ausmachen. Manchmal kann dies den Teufelskreis negativer Selbstwertungen und daraus resultierender nicht feinfühliger Interaktionen zwischen Müttern und ihren Babys wieder in eine neue und positivere Richtung beeinflussen. Schon dadurch kann bei einer gestressten Mutter plötzlich einfach der Knoten platzen.

Schulungen als Programm

Schulungsprogramme wie das SAFE-Programm (www.safe-programm.de) können vor allem bei Regulationsdysbalancen und Interaktionsschwierigkeiten empfohlen werden. Meist sollte jedoch beim Vorliegen einer bereits klinisch manifesten Gedeihstörung des Kindes unbedingt der Kinderarzt und in Folge auch spezielle „Essstörungsambulanzen” aufgesucht werden.

www.notube.com bietet mit einem bisher erstmaligen individuellen LTE (learn to eat)-Online Programm eine auf das individuelle Kind fokussierte Spezialberatung für Eltern an. Die Kontaktaufnahme im Falle einer Anfrage zu einem spezifischen Kind und dessen Eignung für dieses neue telemedizinische Angebot ist über support@notube.com kostenfrei. Glücklicherweise wird diese zu Hause im familiären Rahmen stattfindende medizinisch fundierte Spezialberatung unter Hilfestellung von Videoanalysen zunehmend auch von den Krankenkassen übernommen. Jeder Antrag auf Kostenübernahme muss aber individuell geprüft werden.

Erste Hilfe durch Hebammen
  • Das Kind untersuchen und wiegen, wenn es gut hydriert und tonisiert ist, keine unmittelbaren Handlungsempfehlungen aussprechen.
  • Die auffällige und/oder belastende Fütterungsszene beobachten, ohne zu kommentieren.
  • Keine Wertungen, keine persönlichen Assoziationen oder Erinnerungen beispielsweise an die eigenen Kinder anbieten.
  • Gedanken, Gefühle, Ängste und Wünsche der Mutter erfragen.
  • Keine konkreten Kommentare oder Ratschläge anbieten, Mutter und Kind sollten „ihre Lösung” selbst finden
  • Wohlwollende kurzfristige Besuche – keine Panik, außer bei schlechtem Zustand des Kindes.
  • Den Vater einbeziehen und das Thema Unterstützung ansprechen.
  • Anbieten, auch kurzfristig wiederzukommen.
  • Wenn sich die Problematik innerhalb von 48 bis 72 Stunden nicht wesentlich gebessert hat, Zuweisung zum Kinderarzt oder Krankenhaus.
Zitiervorlage
Dunitz-Scheer M: Frühkindliche Essstörungen, Teil 2: Pathologien erkennen. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2014. 66 (3): 58–61
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