Hebammen sind durch ihre frühe Präsenz in den Familien wichtige Beobachterinnen der Interaktion zwischen Mutter und Kind. Foto: © Kerstin Pukall
Die Hebamme ist in der Klinik und beim Wochenbettbesuch für Eltern häufig die erste Ansprechpartnerin, die Fragen zur Ernährung des Kindes beantwortet. Mitunter entgleist das Thema „Füttern“ bereits sehr früh – und die Zeiten der Nahrungsaufnahme werden für alle Beteiligten anstrengend. Dies kann bereits in den ersten Lebenswochen des Kindes oder auch sehr akut zum Ende des ersten Lebensjahres auftreten. Aktuelles Fachwissen und eine objektive Art zu kommunizieren sind in Momenten, in denen Hebammen als Fachfrauen dazu befragt werden, eine wichtige Grundlage des Gesprächs. Es gilt den Eindruck zu vermeiden, man benenne die von den Betroffenen geschilderten Schwierigkeiten nur auf der Grundlage eines rein „intuitiven Bauchgefühls”. Ein Grundwissen über international anerkannte diagnostische Klassifikationssysteme zu haben, ist dabei notwendig und hilfreich. Es sind praktische Instrumente, um anamnestische Beschreibungen und Beobachtungen auf der Basis von klar definierten Symptomen mündlich und schriftlich festzuhalten.
Zusätzlich zur qualitativen Evaluation und Benennung der spezifischen Fütterungsproblematik bietet das multiaxiale Klassifikationssystem weitere Optionen an: Es hält die Güte und Feinfühligkeit der Mutter-Baby- und auch Vater-Kind-
Interaktion schriftlich fest, die spezifisch geschulte PsychologInnen untersuchen sollten. Andere somatische Variablen, wie Gastroösophagealen Reflux, vorangegangene Operationen durch KinderfachärztInnen, KinderchirurgInnen und/oder deren Dokumentation in Form von Arztbriefen, fließen ebenfalls ein. Die im Folgenden genannten drei diagnostischen Kategorien treten vor allem bei somatisch vollkommen gesunden Säuglingen auf. Dabei kann das subjektive Erleben des Symptoms in der Wahrnehmung der Mutter durchaus belastend, auffällig oder gar traumatisch sein. Für Hebammen sind speziell die beiden erstgenannten Störungsbilder relevant.
Die Vorstellung eines sehr jungen Säuglings mit dem Leitsymptom einer Trinkstörung, die unmittelbar postnatal, aber auf alle Fälle schon in den ersten zwei Lebensmonaten auftritt, ist sehr charakteristisch und spezifisch. Typischerweise klingt die Beschreibung der Eltern oft dramatischer, als das Baby auf den ersten Eindruck klinisch erscheint. Beobachtet man jedoch die geschilderte Fütterungsszene selbst, wird das Ausmaß des elterlichen Leidensdrucks und auch die quantitativ unbefriedigende Trinkleistung sofort klar. Wenn das Baby trinken möchte, ist es meist ruhelos und hungrig, saugt für drei oder vier Sekunden, dreht aber dann sein Köpfchen von Brust oder Flasche weg und beginnt heftig zu schreien. Dieses Verhalten wiederholt sich ständig, resultiert in schlechter Gewichtszunahme, Anspannung und Erschöpfung auf allen Seiten. Das Baby wird als aufgeregt beschrieben, es braucht wenig Schlaf, ist sehr anspruchsvoll und selten einfach glücklich und entspannt. Das Füttern hat meistens schon seit der Geburt nicht gut funktioniert und neigt dazu, ohne Hilfestellung immer schlechter zu funktionieren.
Der Hebamme, dem behandelnden Arzt oder involvierten TherapeutInnen wird bei der Schilderung dieser Charakteristika dringend empfohlen, sich eine Fütterungsszene konkret anzuschauen, sich vorerst zwei bis drei Tage zurückzuhalten und weitere Analysen im Sinne einer sogenannten somatischen Untersuchung anzuordnen. Da die Fütterungsprobleme die generellen Schwierigkeiten des Kindes in seiner Regulationsfähigkeit widerspiegeln, muss dies gezielt in der folgenden spezifischen Elternberatung therapeutisch angesprochen werden.
Jede Form einer nicht dringend indizierten medizinischen Untersuchung (auch eine einfache Blutabnahme) würde die Situation negativ beeinflussen und dem Kind unter Umständen sogar schaden. Die richtige Beratung muss so schnell wie möglich beginnen und wird auch rasch Erfolg zeigen, sobald das Baby dabei unterstützt wird, seine Grundstimmungen zu regulieren und zu organisieren.
Das Fütterungsproblem wird meist als Teil des Gesamtproblems der Regulationsstörung mit gelöst. Die Rolle der einfühlsamen Hebamme kann es sein, den Eltern die Regulationsstörung zu erklären, entsprechende Literatur anzubieten und sie so lange zu begleiten oder gezielt weiter zu verweisen, bis das Baby sich besser regulieren kann und ruhiger wird. Da das geschilderte Verhalten, die Schwierigkeiten und Symptome des Kindes als sich direkt und persönlich gegen die Mutter richtend missinterpretiert werden, ist die Situation oftmals ein Notfall und ein Risiko für eventuelle Kindesmisshandlung – sofortige Intervention und effektive Hilfe sind entscheidend.
Fazit: Ein Baby, das begierig zu saugen beginnt, dann aber sofort aufhört und aufgeregt und nicht zu beruhigen ist, ist typisch für diese Art der frühkindlichen Regulationsstörung, die bereits unmittelbar post partum auftreten kann. Die therapeutische Aufgabe ist es, so schnell wie möglich gezielte und spezifische Beratung zu organisieren.
Die Bedeutung der prompten Hilfe ist essenziell, da sich die Mütter dieser Babys in einem protrahierten Erschöpfungs- und Ausnahmezustand befinden. Sie hatten keine Gelegenheit, sich nach der Geburt auch nur annähernd ausreichend zu erholen. Darum gilt es als ersten Schritt, die Anzahl von zusätzlichen Helfern zu erweitern und Vater, Großeltern, Freunde oder Babysitter zusätzlich zur Akutentlastung einzuschalten.
Die Bedeutung der spezifischen Hilfe ist ebenfalls nicht zu unterschätzen, da es einer besonderen Ausbildung bedarf, die sich in Theorie und Praxis genau auf die Symptomatik der Regulationsstörung an sich und ihre begleitenden interaktiven Sekundärprozesse fokussiert.
Wird man ungewollt oder beabsichtigt Zeuge einer solchen Fütterungssituation, in der Bindungsprobleme zugrunde liegen, nimmt man eine Atmosphäre von Erschöpfung, Depression, Verzweiflung, einer geringen Frequenz von Kommunikationssignalen, geringem Interesse sowie wenig Blickkontakt zwischen Mutter und Kind wahr. Die Beobachtung selbst kann durch die Übertragung der gestörten Interaktionsprozesse auch bei routinierten und langjährig erfahrenen Hebammen Müdigkeit und sogar Erschöpfungsgefühle auslösen. Bei dieser Fütterungsstörung ist es vor allem die Atmosphäre zwischen Mutter und Kind, die charakteristisch ist, und nicht irgendein spezifisches Einzelsymptom. Begutachtungen und therapeutische Überlegungen sollten sich auf die emotionale Situation der Mutter konzentrieren und die Erhebung ihrer Beziehungs- sowie sozioökonomischen Situation mit einbeziehen. Hier können sich oftmals große Defizite zeigen, die sich in unspezifischem Stress, Lethargie, Desinteresse, Frustration oder geringem Einfühlungsvermögen bis hin zu Ärger und Feindseligkeit oder sogar offener Aggression gegen das Baby in der Fütterungsszene äußern können. Das Kind, in der Regel drei bis vier Monate alt, wird vorgestellt, da es sich beim Füttern „nicht normal“ zu verhalten scheint. Bei gestillten Babys kommt diese Störung in der Regel nicht vor. Das Stillen wurde meist nach zwei bis drei Wochen abgebrochen, Füttern mit der Flasche scheint dann meist kurzfristig ein wenig besser zu gehen. Aber die Nahrungsaufnahme erfolgt langsam, das Baby muss oft für die Mahlzeiten geweckt werden und scheint nicht in der Lage zu sein, klare und eindeutige Hungersignale zu zeigen. Die Mutter wird dabei eher erschöpft, ruhig und besorgt als ängstlich agitiert erscheinen. Das Füttern aus der Flasche erledigt die Mutter ohne jegliche Leidenschaft, Freude oder Enthusiasmus; die gesamte Situation ist durch Traurigkeit und stille Verzweiflung gekennzeichnet. Es könnte auch bei der Mutter eine bisher nicht bekannte psychiatrische Vorerkrankung bestehen. Oftmals sind ausreichende psychosoziale Ressourcen der möglicherweise alleinerziehenden Mutter oder jungen Familie kaum bis gar nicht vorhanden.
Fazit: Das Ziel der Intervention ist es, das Bindungsproblem zu thematisieren, ein Netzwerk zu installieren und effektive Unterstützung und sofortige Hilfe zu organisieren. Regelmäßige Hausbesuche der Hebamme mit direktiven Anleitungen zu klarer Tagesstrukturierung sind wichtig und gefragt, sollten jedoch in Fällen mit ausgeprägter Symptomatik nicht ohne psychologische Supervision und ohne Wachstumsevaluation des Kindes durch den Kinderarzt erfolgen! Eine gemeinsame Einweisung von Mutter und Kind in spezielle Fachkliniken für psychiatrisch erkrankte Mütter (postpartale Depression) kann notwendig werden, wenn kein ausreichend ressourcenstarkes und emotional sowie praktisch funktionierendes Familiensystem vorhanden ist.
Der Zustand einer infantilen Anorexie präsentiert sich dramatisch, ohne auf den ersten Blick akut medizinisch kritisch zu erscheinen. Eine verzweifelte Mutter kommt als Notfall: „Mein Kind hat jetzt komplett aufgehört zu essen!“ Während sie dies sagt, kommt ein meist gut entwickeltes, intelligent wirkendes, zartes Kind herein. Wenn Sie dies mit: „Gut, bitte beruhigen Sie sich, das kann offensichtlich nicht ganz richtig sein.“ kommentieren, wird die Mutter niemals wieder mit Ihnen sprechen! Darum gilt die Faustregel: Jede geschilderte frühkindliche Fütterungsstörung ist so lange als Störung wahr- und ernstzunehmen, bis sich auch der Leidensdruck – unabhängig vom kindlichen somatischen Befund – normalisiert hat.
In diesem Fall beginnt das Fütterungsproblem erst nach einigen Monaten unauffälligen Fütterns. Das Baby, das nun meist sechs bis acht Monate alt ist, entwickelt sich hervorragend und beginnt die Welt zu erkunden. Das Sitzen ist stabil, der Muskeltonus ist gut, das Kind greift nach Essen, vor allem nach jenem auf dem Teller anderer Personen, und möchte den Löffel selbst halten. Aufgrund eines erhöhten Wunsches explizit bemühter Elternpaare nach Kontrolle, Zeiteinteilung, Sauberkeit und Ordnung, fühlt sich die Mutter für das Füttern von exakten Nahrungsmengen und -inhalten verantwortlich. Der wachsende Wunsch des Kindes, die Welt selbstständig zu erkunden und autonom zu werden, prallt auf die stressige Atmosphäre von Angst, Kontrolle und Druck rund um die Fütterungszeiten. Dieses Kind wird nun wachsenden Widerstand dagegen entwickeln, was wiederum dazu führt, dass die Mutter stärker darum bemüht ist, das Kind „zurück in ihren Schoß“ zu holen. Die Fütterungsszene wird bald für beide zu einem Albtraum. Väter tendieren dazu, wenig hilfreiche Anmerkungen zu geben wie: „Ich würde vorschlagen, dass du es ein wenig leichter nehmen solltest.“ Ebenso äußern Großmütter und Schwiegermütter gut gemeinte, aber wenig nützliche und irritierende Kommentare.
Das Resultat ist Verweigerungsverhalten schon beim bloßen Anblick oder der Zubereitung von Mahlzeiten. Das Kind leidet deutlich unter den wiederholt übergriffigen und nicht einfühlsamen Esssituationen. Es könnte auch Angst und Furcht zeigen und sogar traumatisiert wirken. Diese Kinder sind meistens klug und liebenswert in jeder anderen Situation, haben einen starken Willen, sind stur, zeigen eine altersgerechte motorische Entwicklung und sind entschlossen, den Kampf zwischen ihnen und der Mutter zu gewinnen.
Jedes Kind, das begierig auf Füttern ist, aber nach mehr Selbstkontrolle verlangt, wird damit beginnen, das permanente Angebot von Nahrung zu bekämpfen. Diese Kategorie ist die am häufigsten auftretende Fütterungsstörung in sozial gut situierten Familien, die speziell versuchen, jeden Wunsch ihres meist erstgeborenen Kindes zu respektieren. Die Kinder werden oftmals als Prinzen und Prinzessinnen bezeichnet oder als Tyrannen oder Monster. In der psychiatrischen Literatur werden die Konflikte als „Störung in der Abnabelung“ (Individuationsphase) beschrieben. Sie können in dem lebensbedrohlichen Zustand der infantilen Anorexie resultieren. Dies beginnt meist völlig unerwartet während der bekannten „Ich möchte es selbst tun!“-Phase und führt zu einem charakteristischen Abknicken und Abflachen der Gewichtsperzentilen-Kurve am Ende des ersten Lebensjahres. Eine Magensonde sollte nur bei einem lebensbedrohlichen Zustand kurzfristig empfohlen werden, um gefährliche Unterernährung zu behandeln. Sie ist grundsätzlich als Behandlung dieser Störung kontraindiziert, da die Sonde eine weitere invasive und kausal unspezifische Behandlung darstellt. Das Risiko des Kindes, sondenabhängig zu werden, ist groß und das Weiterbestehen des zu Grunde liegenden Konflikts ist anzunehmen.
Fazit: Es handelt sich in diesem Fall um einen Konflikt zwischen dem wachsenden Bedürfnis des Kindes nach Autonomie – oft bei sehr aktiven Kindern mit guter Entwicklung – und dem für das Kind unangemessenen und erhöhten Kontrollbedürfnis der Mutter. Die therapeutische Aufgabe ist es, das Kind aus dem Teufelskreis des immer stärker werdenden Drucks zu befreien, Selbsternährung durch Fingerfood zu fördern und die Eltern im Übergang von der Aufgabe als „aktive Fütterer“ hin zu „Bereitstellern von Nahrung“ zu unterstützen. Es geht darum, mittels kurzfristiger Kontrollen die Dramatik der mütterlichen Wahrnehmung negativer Symptome zu mildern.
Hinweis: Im zweiten Teil wird die Autorin Essverhaltensstörungen mit oder nach einer medizinischen Problematik vorstellen.