Wenn wir die Zukunft der Geburtshilfe hinsichtlich der Gesundheitsziele mitgestalten wollen, dann müssen Inhalte von Leitlinien bereits in die Ausbildung von Hebammen miteinfließen. Dabei sollten originäre Sichtweisen der Hebammengemeinschaft und Hebammenwissenschaft in den Vordergrund gerückt werden (DHV, 2011; DGHWi, 2016). Auch inter- und intraprofessionelle Dissonanzen sollten schon für Studierende nachvollziehbar beleuchtet werden.
Die Studien- und Hebammenprüfungsverordnung (HebStPrV) von 2020 formuliert als vorrangiges Ausbildungsziel, dass Absolvent:innen des Studiums die »selbstständige und evidenzbasierte Förderung und Leitung physiologischer Prozesse während Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und Stillzeit« professionell umsetzen können sollen. Schlüsselworte in den Kompetenzbeschreibungen sind vor allem »evidenzbasiert« und »physiologisch«.
Jedoch selbst in Hebammenkreisen ist nicht eindeutig geklärt, was unter Physiologie im Kontext der Geburtshilfe zu verstehen ist (Skeide, 2023) (siehe auch Seite 34ff.). Welche sind zum Beispiel gesunde Mittel, um eine vaginale Geburt zu unterstützen? Oder grundsätzlich: Welche sind überhaupt physiologische Mittel oder Methoden, um Gesundheit im Kontext von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett zu erhalten und zu fördern? Tun oder Lassen bleibt die immerwährende Debatte in der Geburtshilfe.
So definiert beispielsweise die Deutsche Gesellschaft für Hebammenwissenschaft (DGHWi) eine sogenannte »gekonnte Nicht-Intervention als handlungsweisenden Leitgedanken der Hebammentätigkeit« und vertritt eine »weitestmögliche Förderung der Physiologie auch bei medizinischen Risiken« (DGHWI, 2019). Ähnlich lautet das Resümee der Hebamme und Wissenschaftlerin Dr. Beate Ramsayer in ihrem Lehrbuch »Die physiologische Geburt«. Sie kommt zu dem Schluss, dass vor dem Hintergrund der evidenzbasierten Betreuung deutlich wird, dass »eine physiologische Geburt primär kein Eingreifen, sondern eine kompetente Begleitung in Form einer begründeten gekonnten Nichtintervention erfordert« (Ramsayer, 2020, 101).
Allerdings: Über das »Nichtstun« und das, was im Kontext von »Unterlassen« als »gekonnt« gilt, ist die Datenlage ziemlich dünn (siehe auch Salis, 2011; Backs, 2022; Keller, 2023).
Widersprüche zwischen Theorie und Praxis
Gemäß der HebStPrV besteht nun für Lehrende der gesetzliche Auftrag, die Kompetenzen zur Förderung der Physiologie zu vermitteln und sich dabei möglichst auf evidenzbasierte Daten zu stützen. Dabei ist ein Terminus wie »Gekonntes Nichtstun« schwer vermittelbar und kann bei Studierenden schnell zu Fehlinterpretationen führen. Denn es reicht nun einmal nicht aus, eine Geburt nur empathisch genug in Eins-zu-eins-Betreuung auszusitzen. Der häufig zitierte Satz von Willibald Pschyrembel trifft den wesentlichen Kern konkreter: »Man muss viel wissen, um wenig zu tun«. Fundament allen Könnens ist und bleibt das Wissen wie natürlich auch die praktische Übung. »Masterly inactivity«, wie »gekonntes Nichtstun« im Englischen auch heißt, setzt eben den Stand einer »Meisterin« voraus. Erst dieser Status gibt der Hebamme die »Erlaubnis zum Nichtstun« (siehe auch Schwarz, 2014). Dieser ist jedoch rein akademisch in einem Grundstudium beziehungsweise Bachelorstudium keineswegs zu erlangen. Darüber dürfte es eigentlich keine Diskussion geben.
Indikationen, Methoden und Symptome müssen »sitzen«
Um in geburtshilflichen Situationen professionelle Entscheidungen über ein Nichtintervenieren treffen zu können, müssen umfassende Kenntnisse über sämtliche Indikationen, diagnostische Methoden und Symptome vorhanden sein und »sitzen«. Können Regelwidrigkeiten und Pathologien fachkompetent ausgeschlossen werden, darf man der Natur getrost ihren Lauf lassen. Vergessen wir bei allem Argwohn gegenüber dem Wort »medizinisch« bitte nicht, dass schließlich auch die Physiologie dem Fachbereich Medizin angehört.
Medizinisches geburtshilfliches Fachwissen auf hohem Niveau bleibt ein Herzstück der Hebammenkompetenz, da es letztlich die eine unbedingte Voraussetzung ist, um physiologische (nicht schädigende) Prozesse als solche zu erkennen und zu stützen. Das benötigt theoretisch und praktisch gute Lehre(r:innen) – und erfordert darüber hinaus eine angemessene Zeitspanne im (Arbeits-)Leben, reflektiert gearbeitet zu haben.
Die meisten Dozierenden in der Hebammenwissenschaft dürften unter anderen Bedingungen als heute ausgebildet und sozialisiert worden sein. Ihre verschiedenen Erfahrungen haben zu unterschiedlichen Sichtweisen geführt. Als individuelle Persönlichkeiten unterbreiten sie ihren Studierenden immer auch die eigene Sichtweise.
»Sie sollen uns doch aber evidenzbasiert unterrichten«, hat mir als Lehrkraft eine Studierende einmal in entrüsteter Tonart vorgeworfen. Das gestaltet sich im Lehralltag gar nicht so einfach, da entsprechende Daten auf dem Gebiet der Geburtsphysiologie fehlen. Es wird sehr viel mehr Forschung zu medizinischer Pathologie und Interventionen betrieben als zu unkompliziert verlaufenden Geburten (WHO, 2017; Downe et al., 2020). Zudem kann der Effekt eines evidenzbasierten Unterrichts erst dann nachhaltig sein, wenn er vom Klassenzimmer auch in die klinische Praxis verlagert würde (Richards, 2005).
Ein gewisser Konflikt zwischen eigener Expertise, dem gesetzlichem Lehrauftrag und den Leitlinienempfehlungen ist damit quasi vorprogrammiert. Allein deshalb schon, da der Leitlinienfokus eben nicht streng auf die Förderung der Physiologie im Sinne eines Unterlassens ausgerichtet ist, sondern den Geburtshelfenden auch weiterhin relativ viel Aktivität, genauer gesagt Anwendung von Interventionen empfiehlt.
So zeigt eine schriftliche – nicht repräsentative – Umfrage unter Studierenden verschiedener Institutionen zu ihren Wahrnehmungen bezüglich der Umsetzung der S3-Leitlinie »Vaginale Geburt am Termin« erhebliche Unterschiede auf, die individuell abhängig vom jeweiligen Einsatzort sind.
Einige Studentinnen geben an, sie hätten das »Gefühl«, die S3-Leitlinie sei noch nicht wirklich bei allen angekommen, aber es gehe doch wohl ganz langsam in die richtige Richtung. Insbesondere bei der Ermunterung zu aktiven Gebärpositionen wird ein positiver Trend wahrgenommen.
Junge Kolleginnen scheinen der S3-Leitlinie «Vaginale Geburt am Termin« aufgeschlossener gegenüber zu sein als ältere, die manchen Neuerungen eher sehr skeptisch gegenüberstünden und sich lieber auf ihre Erfahrung verließen. Manche würden sogar aktiv gegen die Empfehlungen der S3-Leitlinie angehen. Allerdings herrscht wohl der Eindruck vor, Hebammen seien insgesamt mehr der Leitlinie zugeneigt als die Ärzteschaft. Vor allem die Standards zum CTG-Schreiben blieben wie gehabt, aktives Plazentamanagement würde favorisiert und ein wirkliches Auspulsieren der Nabelschnur gebe es wohl eher nicht.