Solidarität mit den Frauen Afghanistans: Monika Hauser (2. von links) mit drei Mitarbeiterinnen von Medica Afghanistan 2012 in Kabul Foto: © Elissa Bogos/medica mondiale

Die Gründerin der Frauenrechtsorganisation medica mondiale berichtet von ihren Erfahrungen und aktuellen Studien zu Langzeitfolgen von Kriegsvergewaltigungen: Um die fortgesetzte Spirale von sexualisierter Gewalt und Traumatisierung zu durchbrechen, muss die alltägliche Gewalt gegen Frauen und Mädchen in Friedenszeiten überwunden werden. Diese Herausforderung für Gesellschaft, Politik und Fachwelt stellt sich auch in Deutschland.

Ende 1992 ging ich nach Zenica in Zentralbosnien, um zu sehen, wie ich als junge Gynäkologin hilfreich sein kann in der Unterstützung von Frauen und Mädchen, die im Krieg vergewaltigt worden waren. Aus dem Engagement entstanden die beiden Frauenorganisationen Medica Zenica und medica mondiale mit Sitz in Köln, die nun seit 23 Jahren unermüdlich Frauen fachlich begleiten. Anschließend haben wir weitere Organisationen im Kosovo und in Albanien, in Afghanistan und Liberia aufgebaut, damit traumatisierte Frauen vor Ort kompetente, empathische und langfristige Unterstützung erhalten.

Wichtig ist ein ganzheitlicher Arbeitsansatz, also die Verschränkung von psychosozialer Begleitung und politischer Menschenrechtsarbeit. Das zeigte sich auch auf einer Konferenz vor zwei Jahren in Zenica. Dort wurde deutlich, welchen langwährenden psychischen und sozialen Folgen die Überlebenden und oft auch ihre Familien ausgesetzt sind. An der gesellschaftlichen Anerkennung des Leids geht kein Weg vorbei. Es gibt keine Gerechtigkeit, wenn die Verantwortlichen in der Politik und im Gesundheitssystem nicht Verantwortung übernehmen.

Heute bestimmen auch die Gewalt im Nahen Osten und die Bewegungen Zufluchtsuchender weltweit unsere Arbeit. Seit dem Frühling 2015 führen wir im Nordirak in Kooperation mit dem kurdischen Gesundheitsministerium Fortbildungen für medizinisches und psychologisches Personal durch. Die Fachkräfte können dadurch ihren vielfach traumatisierten Patientinnen in einer traumasensiblen Haltung begegnen und auch erfahren, wie sie sich selbst in dieser extrem belastenden Arbeit schützen können. Um unseren Beitrag zur aktuellen Situation hierzulande zu leisten, haben wir im Spätsommer 2015 auch Deutschland zum Projektland erklärt.

Wir betrachten sexualisierte Gewalt als ein Kontinuum. Das heißt, diese Form der Gewalt verstetigt sich in Friedenszeiten, verschärft sich in bewaffneten Konflikten und setzt sich danach fort. Um also geschlechtsspezifische Gewalt in bewaffneten Konflikten zu verhindern, muss letztlich die alltägliche Gewalt gegen Frauen und Mädchen in Friedenszeiten überwunden werden. Die Gleichberechtigung der Geschlechter muss im Frieden verwirklicht werden.

Nach bewaffneten Konflikten endet das Leid von Überlebenden meist nicht. Sie werden von ihrer eigenen Umgebung stigmatisiert, sozial ausgegrenzt und oft genug retraumatisiert. Die zerstörerischen Folgen von Kriegsvergewaltigungen manifestieren sich auf individueller und gesamtgesellschaftlicher Ebene langfristig und verhindern die Konsolidierung friedensfähiger Nachkriegsgesellschaften.

Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs

Die kaum verarbeiteten Vergewaltigungen im und am Ende des Zweiten Weltkriegs hatten und haben zerstörerische Auswirkungen auf die deutsche Nachkriegs-Gesellschaft. Die meisten Frauen konnten nie darüber sprechen und gaben ihr unbewältigtes Trauma vielfach an ihre Kinder weiter! Und die rückkehrenden Soldaten fragten ihre Frauen, Schwestern, Mütter nicht, was sie erlebt haben, weil auch sie nicht gefragt werden wollten: Was hast du denn getan? Jahrzehntelang wurden die Folgen wie Beziehungs- und Bindungsunfähigkeit, neue Gewalt, Medikamenten- und Alkoholmissbrauch nicht in einen Zusammenhang zu Schuld und Leid im Kontext des Nationalsozialismus und Zweiten Weltkriegs gestellt. Und dies, obwohl die BRD mit der materiellen Unterstützung des Marshallplans im aufkommenden Ost-West-Konflikt in einer Sondersituation war, in der heute weder Bosnien und Herzegowina, noch Kosovo oder Afghanistan ist.

Erst in den letzten Jahren wurde das Leid der Kriegskinder und -enkel zunehmend zum Thema. Die Bilder von Flüchtlingen reaktivieren heute bei vielen Menschen, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben, eigene Erfahrungen von Hilflosigkeit, schierer Verzweiflung und Heimatlosigkeit. Dies gilt auch für die jüngeren Generationen, die die Kriegserzählungen kennen oder auch nur eine Ahnung davon haben. Die Kölner Autorin Sabine Bode sagt: „Die intellektuelle Aufarbeitung der Kriegsgewalt ist vielfach geschehen. Was fehlt, ist die emotionale.” Gibt uns das aktuelle Flüchtlingsdrama die Chance dazu? Viele der nach Deutschland geflüchteten Frauen und Mädchen haben in ihrer Heimat Gewalt erlebt, und viele erneut auf ihrer Flucht. Unerträglich ist, dass sich sexualisierte Gewalt auch in Deutschland fortsetzt: In den überfüllten Flüchtlingsunterkünften sind die Frauen und Mädchen weiterer Gewalt ausgesetzt. Sie erleben sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen, Zwangsprostitution. Aufgrund der Residenzpflicht und Wohnsitzauflagen haben die Frauen kaum Möglichkeiten, der Gewalt auszuweichen. Gleichzeitig sind die wenigen qualifizierten Beratungseinrichtungen völlig überlastet; in den letzten Jahren wurden sogar noch Ressourcen gekürzt.

Um diesen Frauen, deren Leid wir präventiv nicht verhindert haben, eine echte Lebensperspektive zu bieten, tut Aufklärung in Öffentlichkeit und Politik not. Denn dann kann auch verstanden werden, dass für Menschen mit solchen komplexen Trauma-Folgen Bosnien und Herzegowina oder Kosovo eben nicht als „sichere Herkunftsländer” betrachten werden können!

Die Erfahrungen von sexualisierter Gewalt bringen langfristige und massive Folgen für die Einzelnen und die ganze Gesellschaft mit sich (siehe Seite 22ff.).

Das bosnische Gesetz zum „Status des zivilen Kriegsopfers” von 2006 soll im Krieg vergewaltigte Frauen den Veteranen gleichstellen. Es ist einmalig und eine von Frauenaktivistinnen hart erkämpfte Errungenschaft. Dieses Gesetz soll modellhaft Überlebende unterstützen und sie gesellschaftlich integrieren. Es könnte Gerechtigkeit wie auch eine positive Erinnerungskultur beflügeln – ist aber leider praktisch hochproblematisch, da es ohne begleitende Aufklärungsmaßnahmen vielmehr die Tabuisierung und Ausgrenzung der Frauen befördert!

Mittlerweile bestätigen mehrere Berichte auch das massive Vorkommen von sexualisierter Gewalt gegen Männer und Jungen in vielen Kriegssituationen und auf der Flucht. Da dies die patriarchalen Geschlechterstereotypien in Frage stellt, ist es gesellschaftlich tabuisiert. Nur in wenigen Fällen erhalten Männer Bearbeitungsmöglichkeiten. Unbearbeitet kann diese Erfahrung gemäß patriarchaler Verhaltens-Schemata zu neuer Gewalt an Schwächeren führen.

Täter müssen bestraft werden

Als politisches Instrument ist die Resolution 1325 der Vereinten Nationen aus dem Jahre 2000 wichtig: Hier wird die Partizipation von Frauen am Wiederaufbau ihrer zerstörten Länder betont – völlig richtig, aber dafür ist eine ganzheitliche Unterstützung der traumatisierten Überlebenden unerlässlich! Nicht nur sind solche Einrichtungen wie Medica Zenica immer noch viel zu wenige. Sie müssen auch immer wieder um ihr finanzielles Überleben kämpfen. Weiter betont die Resolution, wie wichtig die Beteiligung von Frauen an Friedensverhandlungen ist – auch das sehen wir genauso. Doch Frauenrealitäten kommen nur dort vor, wo Frauen auch maßgeblich beteiligt sind. Hier fehlt nach wie vor der politische Wille, eine inklusive Kultur zu fördern. Das gilt für die Regierungen sogenannter fragiler Staaten wie auch für ihre westlichen Geldgeber.

Eine globale Studie zur bisherigen Implementierung dieser Resolution betont die Wichtigkeit, Straflosigkeit endlich zu beenden. Darin liegt ein Haupthindernis, dass Frauen überhaupt Gerechtigkeit erfahren können. Die Verurteilung von Tätern liegt sowohl bei internationalen Kriegsverbrechertribunalen als auch in nationalen Vergewaltigungsprozessen unter zehn Prozent, selbst in Deutschland. Weder juristische Konzepte noch die Gestaltung des Gerichtssettings sind auf die Überlebenden ausgerichtet.

Die Studie betont explizit die präventive Wirkung, wenn Frauen, ihre Familien und die Community beteiligt werden. Nur so ist eine individuelle und kollektive Bearbeitung der Traumata möglich. Nur so können gemeinschaftliche Heilungsprozessen in Gang kommen. Das bedeutet eine Befriedungsarbeit, die statt transgenerationaler Traumaweitergabe neue absehbare Gewalt­spiralen unterbricht. Stattdessen fördert sie Versöhnungsprozesse, die für eine gesunde Gesellschaft unerlässlich sind.

Das Gegenteil jedoch ist heute die globale Realität: ein patriarchaler Militarisierungskreislauf von Gewalt und Gegengewalt, der von Israel und Palästina über Afghanistan, Irak und Syrien bis hin zu den involvierten westlichen Staaten verläuft. Diese haben wieder einmal nicht viel mehr anzubieten als eine militärische Antwort mit Bombenattacken – im transgenerationalen Kontext auch zu sehen als Spätfolgen des Zweiten Weltkriegs und des 11. September 2001.

Politische Arbeit

Die fachliche Arbeit braucht einen ganzheitlichen, interdisziplinären Ansatz. Sie muss emanzipatorisch und auf die eigenen Ressourcen der Frauen ausgerichtet sein. Projekte müssen langfristig und nachhaltig angelegt werden. Die Fachkräfte müssen sich politisch einmischen – alleine schon zur Burnoutprävention.

Die Aufarbeitung sexualisierter Kriegsgewalt und der Umgang mit ihren Folgen sind eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Diese Aufgabe darf nicht allein auf den Schultern der Betroffenen oder der sie unterstützenden Frauenorganisationen lasten. Politik und therapeutische Fachwelt müssen noch mehr verstehen und anerkennen, welche langfristigen und zerstörerischen Folgen die komplexen Traumastörungen sexualisierter Gewalterfahrungen nach sich ziehen. Wir alle haben die Verantwortung, genügend äußere Sicherheit herzustellen. Nur so können überlebende Frauen wieder ins Leben zurückkehren und innere Sicherheit zurückgewinnen.

Vorgestellt

medica mondiale ist eine Frauenrechtsorganisation, gegründet 1993 von der Gynäkologin Monika Hauser. Sie unterstützt weltweit Hilfsprojekte für Frauen und Mädchen, die von sexualisierter Kriegsgewalt betroffen sind. Darüber hinaus leistet sie politische Aufklärungsarbeit über die Lage von Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten. In der bosnischen Stadt Zenica betreibt Medica Zenica eigenständig das damals von Monika Hauser gegründete Frauenzentrum.

Weitere Informationen: www.medicamondiale.org


Hinweis: Der Artikel basiert auf dem Eröffnungsvortrag von Dr. Monika Hauser bei der Fachtagung „Langzeitfolgen von Kriegsvergewaltigungen: Herausforderungen für Gesellschaft, Politik und Fachwelt” am 30. November 2015 in Berlin.


Zitiervorlage
Hauser M: Langzeitfolgen von Kriegsvergewaltigungen: Friedensarbeit. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2016. 68 (3): 20–21
https://staudeverlag.de/wp-content/themes/dhz/assets/img/no-photo.png