Ein Buch, das eine zentrale Aussage aus den Vorträgen der nächsten drei Tage vorwegnahm, nämlich die Bearbeitung belastender Erlebnisse im therapeutischen Gespräch, war der soeben erschienene Roman »Leuchtfeuer« von Dany Shapiro: Weil über einen schrecklichen Unfall Jahrzehnte lang nicht gesprochen wird, zerbricht eine ganze Familie.
Um Ungesagtes in der Biografie einer Frau endlich ans Tageslicht zu bringen, betonte Hocke in ihrem folgenden Vortrag: »Man muss stets fragen!« Patientinnen müsse im medizinischen Setting früh genug die Möglichkeit gegeben werden, seelisches Leid zu thematisieren. Wie oft habe sie erlebt, dass Frauen viel zu spät eine jahrelange Traumatisierung zu erkennen gaben, nämlich erst bei einer gravierenden Diagnose. Frauen bräuchten mehr Autonomie und Selbststärkung in ihrem Leben.
Die Psychosomatik wurde die Leidenschaft von Hocke, die ihrer Mentorin Prof. Dr. Anke Rohde dafür dankte, dass sie am Klinikum Bonn die Psychosomatik in der Frauenheilkunde aufgebaut und etabliert hat. Rohde erinnerte später in ihrer Rede an die erste DGPFG-Tagung 1995 in Basel. Genau in dem Jahr begann der jetzige Direktor der Uniklinik Bonn, Prof. Dr. Wolfgang Holzgreve, als Ordinarius für Frauenheilkunde und Geburtshilfe und er integrierte die dort bereits praktizierte Psychosomatik dauerhaft in den klinischen Alltag. Den Menschen in seinem Innersten wertzuschätzen, schrieb er sich auf seinen Fahnen. Er verwies mit großer Anerkennung auf das deutsche Grundgesetz – und auf eine aktuelle Ausstellung in Bonn zum Jahrestag des Grundgesetzes: »Einzigartig und wunderbar darin ist der Satz: Die Würde des Menschen ist unantastbar.«
Wer sich von den 260 Teilnehmenden die Zeit nahm, über das große Gelände des Uniklinikums zu gehen, war überrascht von den vielen Baustellen. Holzgreve möchte mit all den Modernisierungen zukunftsfähig sein und gute Arbeit unterstützen. Auch die Kunst am Bau sowie Kunstwerke in Räumen seien ihm wichtig, um zum Wohlbefinden aller beizutragen.
Posttraumatische Belastungsstörung
Den ersten Hauptvortrag hielt die in Bonn tätige Psychologin Susanne Leutner. Sie erläuterte zunächst die drei Arten von Traumatisierung:
- Sicher gebunden, mit aktueller Traumatisierung durch eine aktuelle Situation
- Erweckungserlebnis mit Dekompensation nach jahrelanger, unterdrückter Traumatisierung
- Iatrogene Schäden: Traumatisierung durch eine:n Behandler:in.
30 bis 60 % aller Menschen – Frauen etwas mehr als Männer – erlebten traumatische Situationen. 30 % würden daran erkranken und eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickeln – ein Begriff, der in beinahe jedem Vortrag der drei Tage zu hören war. Schutzfaktoren sind laut Leutner:
- Eine wahrgenommene soziale Unterstützung
- Eine Offenlegung der traumatischen Erfahrung
- Ein hohes Kohärenzgefühl.
Die Psychologin entwickelte für Menschen mit PTBS ein eigenes Behandlungskonzept: den Traumatherapie-Kompass. Entsprechend des Zustandes dosiere und balanciere sie dabei die Intensität der Traumaerinnerungen im ständigen Wechsel mit stabilisierendem Stärken eigener Ressourcen der Patient:innen.
Bewährt habe sich die Methode der Desensibilisierung und Verarbeitung durch Augenbewegung (Eye Movement Desensitization and Reprocessing, EMDR). Dr. Francine Shapiro hatte diese Psychotherapieform zur Behandlung von Traumafolgestörungen Ende der 1980er Jahre in den USA entwickelt. Kurz: Die Klient:in vergegenwärtigt sich das traumatische Erlebnis in Gedanken und Gefühlen und erlebt das belastende Ereignis innerlich erneut. Gleichzeitig folgen die Augen den hin- und hergeführten Handbewegungen der Therapeut:in. Diese Methode wurde auf dem Kongress immer wieder von Therapeut:innen angeführt. Am Ende bat Leutner die Zuhörenden, ihre Arme vor dem Oberkörper zu kreuzen wie in einer halben Selbstumarmung. Die Hände sollten dann auf die Oberarme klopfen, während man an etwas Schönes dachte – eine kleine praktische Entspannungsübung, die sich schnell im Alltag einbauen lässt.
Dr. Ulrike Schmidt von der Poliklinik für Psychiatrie der Uniklinik Bonn erläuterte spannende neurobiologische Zusammenhänge. Was sehr erhellend war: Frauen sind einfach schon durch das Östrogen vulnerabler. Das Hormon reguliere nämlich die Reaktion des Gehirns auf Stress, indem es den Rezeptor PAC1 vom Neuropeptid PACAP (Hypophysen-Adenylatcyclase-aktivierendes Polypeptid) moduliere. Je mehr Östrogen, desto stärker die Wirkung und entsprechend mehr Cortisol werde ausgeschüttet. Die Stressresilienz verändere sich unter diesem Hormon. Kindheitstraumata verstärkten durch epigenetische Prägung die Stresshormonausschüttung.
Dr. Melanie Büttner, die ein Institut und eine Praxis für Sexual-, Psycho- und Traumatherapie in München leitet, schilderte bewegend das Leid und die gesundheitliche Beeinträchtigung vieler Frauen durch physische und psychische Partnerschaftsgewalt. Viele Frauen würden Dinge aushalten, allein schon um nicht verlassen zu werden. Manche würden als Reaktion auf Traumatisierungen derart dissoziieren, dass sie sich beispielsweise nicht mehr an den kurz zuvor stattgefundenen Sex erinnerten. So konnte sich eine Frau über Jahre überhaupt nur anhand gewisser Indizien vergewissern, dass sie mit ihrem Mann Sex gehabt hatte, mit dem sie immerhin drei Kinder hatte. Als Risiko für Bindungstraumatisierungen, die wiederum häufig zu riskanten Sexpraktiken unter Drogeneinfluss führen würden, nannte Büttner auch Kindheitstraumata.
Tabuthemen und Tipps zur Psychohygiene
Mit trockenem Humor erheiterte der Gynäkologe Prof. Dr. Matthias David von der Charité in Berlin: Er hatte mit soziologischem Interesse Filme des 20. Jahrhunderts aufgespürt, die sich mit Schwangerschaftsabbruch befassen, denn generell sei der Film ein Spiegel der Gesellschaft. Anhand der Filme konnte er den jeweiligen Zeitgeist und die gesellschaftliche Einstellung zum Thema untersuchen. Er zeigte unter anderem einen Ausschnitt des Berliner Sittendramas »Cyancali« von 1930, in dem eine Mutter ihrer Tochter das Gift gibt, mit dem sich diese dann tatsächlich wegen ihrer unehelichen Schwangerschaft umbringt.
Beeindruckend auch der Ausschnitt aus »Er, sie und es« von Ulrich Schamoni, der 1966 mit seinem nahen, enttabuisierten Blick auf das Erleben rund um einen Schwangerschaftsabbruch den Startschuss für den neuen deutschen Film gab.
Die in eigener Praxis in Berlin tätige Senologin PD Dr. Friederike Siedentopf befasste sich mit Brustkrebspatientinnen. Denn ein Drittel von ihnen entwickele eine Angststörung oder Depression. Das Fatale: Der Stress und die Übererregbarkeit hätten eine schlechtere Prognose der onkologischen Erkrankung zur Folge. Ein Ansatzpunkt sei die psychische Resilienz , denn sie sei ein dynamischer und trainierbarer Lernprozess, beeinflussbar durch multiple Faktoren wie Selbstwertgefühl und realistischen Optimismus. »Wir alle können (mit-)entscheiden, was wir denken, und können unsere Gedanken steuern.«, so Siedentopf. Wie stark die Kraft der Gedanken sei, erläuterte sie an der sogenannten Zitronenimagination: Schon wenn wir nur an eine Zitrone denken, laufe uns das Wasser im Munde zusammen. Es gelte, die Ressourcen-Netzwerke im Gehirn zu fokussieren. Und: Nonverbale Reize wie Lächeln hätten eine besonders starke Wirkung auf emotionale Prozesse. Einige der Tipps zur Psychohygiene: »Zeigen sie Freundlichkeit und Freude! Nehmen Sie sich Zeit für Austausch, Verbundenheit und Dankbarkeit!«
Diskussion um die Reproduktionsmedizin
»Sie sind alle nur hier, weil ihre Eltern Sex miteinander hatten.« Mit solchen unverblümten Sätzen führte Prof. Dr. med. Heribert Kentenich vom Fertility Center in Berlin in eine Podiumsdiskussion zur Reproduktionsmedizin ein. Die Menschen hätten immer seltener Sex, zumindest Vaginalsex: 1999 noch durchschnittlich fünf Mal im Monat, 2010 drei Mal. Den Kinderwunsch vor sich her zu schieben, sei ein Problem, da die Reproduktionsfähigkeit bekanntermaßen abnehme.
Ein Problem der Reproduktionsmedizin seien die vielen Zwillingsschwangerschaften, die zu vermehrten Risiken in der Schwangerschaft führten. Zugleich räumte Kentenich mit Mythen auf: Er betonte, dass die Mutter-Kind-Bindung sowie die psychologische Entwicklung bei IVF-Kindern und Eizellspende-Kindern normal sei. Falsch sei auch der Psychomythos, dass nach einer Adoption der »Knoten platze« und dass aufgrund einer vermeintlichen Angst vor Bindung keine Schwangerschaft zustande komme, wie es der Bindungsforscher Karl-Heinz Brisch 2055 publizierte hatte.
Zugleich betonte Kentenich: Stress habe keinen Einfluss auf den Erfolg bei IVF. Aber Über- und Untergewicht sowie Rauchen begünstige Sterilität. Frische Eizellen würden dünnere Kinder hervorbringen, zuvor eingefrorene dickere.
Eine positive Nachricht für lesbische Frauen führte Kentenich noch an: Der Ehevorbehalt für künstliche Befruchtungen werde wahrscheinlich fallen. Aber manchmal müsse man auch patriarchalisch auftreten, wenn eine Reproduktionsmedizin unsinnig erscheine und gar die Gesundheit der Frau gefährde.
In der anschließenden Podiumsdiskussion hielt er sich eher zurück. Die Gynäkologin Dr. Silke Koppermann aus Hamburg störte sich bei der Reproduktionsmedizin hauptsächlich daran, wenn dritte Personen ihren Körper und Körperfunktionen zur Verfügung stellen müssten. »Welche Mutter möchte schon, dass ihr Tochter Leihmutter wird.« Eine der Diskussionsteilnehmerinnen auf dem Podium meinte, es sei gut, dass Frauen eine Unabhängigkeit von männlicher Befruchtung erreicht hätten. Eine Leihmutterschaft müsse man eben aushandeln, sie sei nicht per se etwas Falsches.
Koppermann kritisierte die Kommerzialisierung und Ausbeutung sozial schwächer gestellter Frauen. Kentenich: »Kommerzialisierung generell ist nichts Schlechtes. Wenn allerdings Frauen etwas verkauft wird, was keinen Sinn macht, wie etwa das Anritzen der Gebärmutterschleimhaut für ein vermeintlich besseres Einnisten eines Embryos, ist das nicht in Ordnung.«
Messwerte und Selbstbewältigung
Susan Garthus-Niegel, Professorin für Epidemiologie und Frauen- & Familiengesundheit an der Medical School Hamburg, gab Einblicke in die Dresdner Studie zu Elternschaft, Arbeit und Mentaler Gesundheit (DREAM). Psychologische Belastungssymptome, die leider häufig vorkämen, könnten sich unbehandelt auf die ganze Familie auswirken, so Garthus-Niegel. Es gebe noch viel zu wenig Forschung zu den biologischen Prozessen wie etwa der fetalen Programmierung durch Stress der Mutter. In der Studie hatte ihr Team bei den Kindern Haarproben genommen, die bei einem schlechten Geburtserlebnis der Mutter nachweislich einen Cortisolanstieg zeigten. Nach acht Wochen sei damit eine schlechtere motorische Entwicklung verbunden. Ein negatives Geburtserlebnis führe häufig zu Depressivität der Mutter, was sich wiederum nachteilig auf die Bindung auswirke. Die Messwerte im Haar der Kinder seien ein klarer Prädiktor für PTBS-Symptome.
Dr. Wolf Lütje, Präsident der DGPFG, gab vor seinem Vortrag mit Karl Valentin zu bedenken: »Es ist alles schon gesagt, nur noch nicht von jedem.« Und trotzdem: Er fügte neben all den sinnvollen Therapieansätzen eine eigene Perspektive hinzu: die der Selbstbewältigung und Selbstwirksamkeit. Biografien seien für ihn eine Fundgrube, generell Bücher, warum er auch Stoltenberg für den Anfang der Tagung eingeladen hatte.