Vernehmung der ZeugInnen
Die betroffene Mutter, die der Vorsitzende Richter am 29. Oktober als Zeugin vernehmen möchte, klärt er zunächst auf: »Es geht um den Vorwurf des Totschlags am 12. Juli 2010 zum Nachteil eines Ihrer Zwillinge.« Die heute 36-jährige Angestellte brauche die Fragen nicht zu beantworten, um sich nicht selbst zu belasten. »Sie waren ja mal beschuldigt«, erläutert der Vorsitzende. Das Verfahren sei eingestellt worden, könne aber jederzeit wieder aufgenommen werden: »Die Gefahr ist nicht komplett weg.« Die Zeugin möchte nicht aussagen und wird entlassen. Auf die Frage, ob ihre Ehe bereits geschieden sei, antwortet sie: »Noch nicht.« Ihr Ehemann, der anschließend befragt werden soll, wird ebenfalls über seine Rechte als Zeuge aufgeklärt. »Ich möchte nichts sagen«, gibt er gleich an. Auch dieser Zeugenauftritt bleibt kurz.
Nach einer Pause beginnt die Befragung einer weiteren Zeugin, der 39-jährigen Kriminalbeamtin, die vor vier Jahren in dem Fall ermittelt hatte. Die Mutter sei damals aussagewillig gewesen, beginnt die Zeugin: Sie habe vollumfänglich mit ihr zusammengearbeitet und über den gesamten Vorfall berichtet.
Zur Schwangerenvorsorge sei die Mutter zu ihrem Berliner Frauenarzt gegangen, schildert die Kripobeamtin ihre überraschend präzisen Erinnerungen an die Ermittlungen. Beim ersten und zweiten Termin habe er eine intakte Zwillingsschwangerschaft festgestellt. Er habe die Schwangere zusätzlich zu einem renommierten Spezialisten für Feindiagnostik überwiesen. Der habe bei der eineiigen Zwillingsschwangerschaft keine Auffälligkeiten festgestellt, aber darauf hingewiesen, dass ein Fetofetales Transfusionssyndrom (FFTS) auftreten könne. Tatsächlich habe der Professor dies beim nächsten Termin diagnostiziert und die Schwangere nach Hamburg an das Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) zur Laserbehandlung überwiesen. Dort seien die gemeinsamen »Versorgungsleitungen« zwischen den Kindern mit Laser unterbrochen und das übermäßig vorhandene Fruchtwasser entnommen worden. Der Berliner Pränataldiagnostiker habe vier bis fünf Wochen nach der Behandlung festgestellt, dass bei einem der Zwillingsmädchen die Gehirnmasse nicht ausreichend vorhanden gewesen sei. In der Charité sei der Befund bestätigt worden.
Die Mutter habe der Kripobeamtin beschrieben, wie sie dort im Ultraschallbild ihre beiden Kinder gesehen habe: Beim ersten Zwilling sei das Gehirn normal vorhanden gewesen, beim zweiten stark unterentwickelt. Es sei ein eindringlicher Moment gewesen, berichtet die Polizistin vom damaligen Gespräch mit der Mutter – der Arzt in der Charité habe sich in seiner Wortwahl nicht taktvoll verhalten.
Nach der Diagnose sei die Frau weiter bei ihrem Gynäkologen in Behandlung gewesen, der im Austausch mit dem Feindiagnostiker gestanden habe. Der selektive Fetozid in der Charité habe im Raum gestanden. Nach der Erfahrung dort, habe sie sich verloren gefühlt und nicht gewusst, wo sie hinsolle.
Ihr Frauenarzt und der Pränataldiagnostiker hätten dann Kontakt mit einem anderen Berliner Klinikum aufgenommen, wo die angeklagte Oberärztin ihre Ansprechpartnerin gewesen sei. Bei ihr habe sich die Mutter zum ersten Mal gut behandelt gefühlt, all ihre Fragen seien umfassend beantwortet worden. Sie sei dort zwei Wochen stationär aufgenommen gewesen. In der Zeit sei auch über den selektiven Fetozid gesprochen worden. Nach ihrer Entlassung habe sie wöchentlich zu Kontrollen in die Klinik kommen sollen und für alle Fälle habe die Oberärztin ihr ihre Mobiltelefonnummer gegeben.
Geburt per Kaiserschnitt
Am 11. Juli 2010 habe die Schwangere zu Hause ein leichtes Ziehen im Bauch bemerkt, Blutstropfen seien abgegangen, erinnert sich die Polizistin an die Ermittlungsgespräche mit der Mutter. Als die Wehen häufiger wurden, sei ihr telefonisch geraten worden, in die Klinik zu kommen. Die Wehenhemmer, die man ihr dort verabreicht habe, seien ihr eher wie »Wehenbeschleuniger« vorgekommen. Während einer Untersuchung sei die Fruchtblase geplatzt. Im Kreißsaal sei daraufhin der Kaiserschnitt in die Wege geleitet worden, der aufgrund der Zwillingsschwangerschaft schon lange geplant gewesen sei. Ihr Mann sei während der OP beruhigend bei ihr gewesen. Mit einer Spinalanästhesie sei sie dann schläfrig weggedämmert. Die beiden angeklagten Ärzte hätten operiert. Irgendwann sei ihr ihre gesunde Tochter gezeigt worden, die dann gleich weggebracht worden sei.
Der Vorsitzende gleicht die Aussagen der Polizeibeamtin mit dem Protokoll der Vernehmung vor vier Jahren ab, um manche Punkte zu vertiefen. »Sie hat ein ›Rumgeruckel‹ im Bauch verspürt und ein Ziehen«, erinnert sich die Zeugin an die Aussagen der Mutter, und sei dann »zugenäht worden«. Dann habe sie ihre tote Tochter zum Abschiednehmen bekommen. Ihre gesunde Tochter habe sie nach deren Erstversorgung eine halbe Stunde später bekommen.
Den Vorsitzenden interessieren die vorherigen Gespräche mit der Oberärztin: »Was war geplant?« Die Polizistin erwidert, während des Krankenhausaufenthalts habe die Ärztin empfohlen, die Schwangerschaft möglichst weit über die 30. Woche hinauszubringen, das gesunde Kind sollte möglichst kräftig und lebensfähig werden – »je länger desto besser«. Der Fetozid habe im Rahmen des Kaiserschnitts durchgeführt werden sollen. »Die Ärztin hat nicht selbst ‚getötet’ gesagt«, wiederholt sie die Aussage der Mutter aus ihrer Erinnerung. Der Kaiserschnitt sei aus anderen Gründen bereits geplant gewesen, nicht speziell für den Fetozid.
Richter Schertz erkundigt sich, ob die Schwangere und die Oberärztin darüber gesprochen hätten, »was überhaupt erlaubt ist?« Die Mutter habe vor vier Jahren ausgesagt: »Es hieß immer, dass wir auf der rechtlich sicheren Seite sind, solange das Kind den Mutterleib nicht verlässt.« Mehrfach habe sie bei der Vernehmung ausgesagt, sie habe sich nicht gut aufgehoben gefühlt, bis die Oberärztin sich ihrer angenommen und ihr vermittelt habe: »Ich bin für Sie da!«
Nicht gut verkraftet
In welcher Verfassung die Mutter fünf Jahre nach dem Geschehen gewesen sei, möchte der Richter wissen. »Die ganze Familie hat es nicht gut verkraftet«, schildert die Zeugin, nicht nur den Fetozid selbst: »Dass sie die Entscheidung in der Schwangerschaft überhaupt treffen musste. Es gab Probleme mit der Tochter, die immer wieder danach fragte. Und sie hat schlecht verkraftet, dass das alles in ihrem Körper stattfand.« »War das Thema im Vorfeld – die Folgen?«, erkundigt sich der Vorsitzende Schertz. Die Mutter habe damals während der Entscheidung keine psychologische Beratung gehabt, erwidert die Kriminalbeamtin. Bei der Befragung sei sie immer wieder sehr emotional gewesen. Sie habe erst später, im September 2015 psychotherapeutische Hilfe in Anspruch genommen.
Der Vorsitzende möchte die Anteile der beiden Ärzte an der Behandlung genauer wissen. Erste Ansprechpartnerin sei die Oberärztin gewesen, der Chefarzt habe sich vorab einmal vorgestellt, erst im Kreißsaal zur Geburt habe die Mutter ihn dann wiedergesehen. Welche Aussagen zur möglichen Behinderung des einen Kindes gemacht worden seien, fragt der Vorsitzende. Ihr Kind könne maximal schlucken, habe man ihr vorausgesagt. In der Charité war gemutmaßt worden, dass das Kind unter Umständen die Geburt nicht überlebe oder bereits im Mutterleib sterben könne.
Der beisitzende Richter fragt nach der Laserbehandlung in Hamburg. Die Mutter sei in der fortgeschrittenen Schwangerschaft noch ein zweites Mal ans UKE überwiesen worden und unter Strapazen nach Hamburg gefahren, schildert die Zeugin. Sie sei davon ausgegangen, dass man dort über den selektiven Fetozid in der Ethikkommission entscheiden wollte, sie habe dort eigentlich gehört werden sollen. Das sei dann aber nicht mehr Thema gewesen. Die Kripobeamtin erinnert sich: »Ich meine, dass sie gesagt hat, ihr Fall sei schlecht für den Ruf des Krankenhauses.« Nachdem ihr Pränataldiagnostiker die Kaliumchloridspritze erwähnt habe, sei die Ethikkommission entsetzt gewesen und die Maßnahme sei »schlichtweg abgelehnt« worden. Niemand, weder ein Ansprechpartner aus der Kommission noch sonst jemand aus dem UKE, sei danach für sie erreichbar gewesen. Sie habe sich nicht gut beraten gefühlt.
Antworten auf alle Fragen
Der Vorsitzende Richter fragt die Zeugin noch einmal zu der Aussage der Mutter, sie habe sich bei der angeklagten Oberärztin gut aufgehoben gefühlt und ihre Fragen seien beantwortet worden: »Hat das häufiger stattgefunden?« Ja, die Mutter habe in einem Kalender all ihre Fragen eingetragen, erläutert die Polizistin. Die Antworten habe sie dann jeweils daneben geschrieben. Weitere Einzelheiten erfragt der Richter: »Stichwort: Gefahr für das gesunde Kind«. Aus dem Vernehmungsprotokoll, aus dem er vorliest, geht hervor, dass die Mutter von dem Risiko wusste, dass ein Fetozid auch für das gesunde Kind gefährlich gewesen wäre, weil möglicherweise nicht alle Gefäßverbindungen durch die Lasertherapie getrennt worden seien.
Die Staatsanwältin fragt nach dem Kalender der Mutter: »Welche Antwort bekam sie auf die Frage, ob ein Fetozid auch noch möglich sei, wenn der Muttermund eröffnet sei?« »Ja, das wäre möglich«, sei der Schwangeren damals geantwortet worden. Die Staatsanwältin bleibt bei diesem Punkt: »Bitte schildern Sie, wie der Fetozid durchgeführt werden sollte.« Die Zeugin beginnt: »Nachdem das gesunde Kind geboren war, sollte das kranke Kind ‚totgespritzt’ werden. ‚Totgespritzt’ war nicht ihre Wortwahl, das ist jetzt mein Wort.«
Die Strafverteidigerin der Oberärztin, Dr. Tonja Gaibler, bringt nochmal ins Spiel, dass der Kontakt zum UKE in Hamburg unbefriedigend verlaufen und dort niemand mehr für die Schwangere zu erreichen gewesen sei. Nach Angaben der Zeugin sei der Schwangeren dann von ihrem behandelnden Gynäkologen mitgeteilt worden, dass der Professor, der den Eingriff hätte machen sollen, im Urlaub sein würde, so dass Hamburg ausschied.
Die Verhandlung soll am darauffolgenden Dienstag, den 5. November, mit der Anhörung des Sachverständigen Prof. Dr. Peter Kozlowski fortgesetzt werden.
Fetofetales Transfusionssyndrom
»Ich bitte Sie, auch vorzustellen, welche Möglichkeiten des selektiven Fetozids es gibt«, beginnt der Vorsitzende Richter am folgenden Verhandlungstag, als Prof. Dr. Kozlowski sein Gutachten erläutert. Er ist Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe, Medizinische Genetik, Spezielle Geburtshilfe und Perinatalmedizin und ausgewiesener Experte der Pränataldiagnostik.
Zunächst soll er aus »unparteilicher Sicht« den Schwangerschaftsverlauf darstellen. Die Situation und die möglichen Maßnahmen kommentiert er dabei fachlich. Unter anderem schildert er die Situation und das Vorgehen beim FFTS. Im Jahr 2010 seien bei circa 678.000 Geburten etwa 12.000 Zwillinge geboren worden, davon 3.000 monozygot, als eineiige Zwillinge – und davon wiederum 2.700 monochorial, mit einer gemeinsamen Plazenta. Sie gelten mit einem Anteil von 3 bis 4 auf 1.000 Schwangerschaften als »Hochrisiko«. Die Fehlbildungsrate sei erhöht. Es gebe eine dreifach höhere Wahrscheinlichkeit für eine Totgeburt und ein 50 % höheres Risiko für eine Frühgeburt als bei einer dichorialen Schwangerschaft, bei der jedes Kind seine eigene Plazenta habe. Bei mindestens 300 Zwillingsschwangerschaften pro Jahr entwickele sich ein FFTS. Nach Zahlen von 2008 aus Hamburg überlebten nach einer korrekt ausgeführten Lasertherapie in 83 % der Fälle mindestens eines der Kinder, in 60 % beide Zwillinge und bei 17 % keiner der Zwillinge. Heute sei die Überlebensrate etwa 10 % höher.
Bei der Beratung betroffener Schwangerer habe man im Jahr 2010 die gleichen Optionen gehabt wie heute: erstens Abbruch der gesamten Schwangerschaft aus medizinischer Indikation. Es gebe dazu keine belastbaren Zahlen, weil es hierzulande kein Fetalregister gebe, wo man Schwangerschaften nachverfolgen könne. Zweitens eine frühzeitige »Reduzierung« von einer Zwillings- auf eine Einlingsschwangerschaft – nach dem Prinzip »alles oder nichts«: »Entweder der zweite übersteht es oder nicht.« Die dritte Option sei, dass die Frau die Schwangerschaft annehme und man versuche, das Beste draus zu machen mit engmaschigen Kontrollen.
Falls sich ein FFTS manifestiert, belaste die miteinander geteilte Blutmenge den »Empfänger«, das weiter unten liegende Kind, und führe bei ihm zu Bluthochdruck. Der »Spender«, das höher liegende Kind, bei dem zu wenig Blut ankommt, leide umgekehrt unter Hypotonie – bei ihm könne die Nierenfunktion zum Erliegen kommen. 2010 boten sich zwei Therapieoptionen: zum einen wiederholte Fruchtwasserreduktion beim Empfänger und zweitens die Laserdurchtrennung der Gefäße. Die Überlebensrate sei hierbei höher. Dennoch könnten Rezidive auftreten, weil in es in der Tiefe erneut zu Transfusionen kommen könne. Prognosen seien schwer möglich. Hirnschäden träten bei 6 bis 8 % der Fälle auf. Nach der Laserbehandlung könnten neurologische Schädigungen nach der 26. bis 28. Schwangerschaftswoche mittels Ultraschalls und MRT diagnostiziert werden. Auch nach erfolgreicher Lasertherapie könne es durch ungleiche Plazentaanteile zu schwerem Wachstumsrückstand bei einem der Kinder kommen. Wie gehe man vor, wenn spät eine Fehlbildung, eine starke Wachstumsverminderung oder gravierende Erkrankung eines Zwillings diagnostiziert würde? Eine selektive Schwangerschaftsbeendigung durch Fetozid sei nicht wie bei einem Einling möglich, erläutert Kozlowski. Normalerweise injiziere man Kaliumchlorid, womit der Herzstillstand eintritt. Bei einer Zwillingsschwangerschaft sei die Gefahr jedoch zu groß, dass die gefährliche Substanz auch zum gesunden Kind übertritt. Man entscheide sich für Maßnahmen, wie die bipolare Nabelschnurokklusion, den Verschluss der Nabelschnur mit Hilfe eines drei Millimeter dicken Instruments, oder die Nabelschnur werde verschlossen, indem der Nabelbereich des Fetus mit koaguliert werde. Dies sei sehr komplikationsträchtig. Der Zeitpunkt des Eingriffs solle deshalb so spät wie möglich gewählt werden. 2010 hätten nur wenige Zentren die Expertise gehabt, einen solchen Eingriff durchzuführen: außer in Hamburg und Bonn gebe es europaweit solche Zentren noch in Leiden, Paris und Barcelona.
Kozlowski stellt die überschaubaren Zahlen aus der Fachliteratur vor. Sie zeigen, wie risikoreich das Krankheitsbild ist, welche Chancen und Gefahren die Laserbehandlung birgt und wie gefährlich es auch für den anderen Zwilling ist, wenn eines der Kinder intrauterin getötet wird. Der Zeitpunkt des Eingriffs sei planbar – die Zeit bis zur Geburt nur dann optimal kurz, wenn Fetozid und Geburt in derselben Einrichtung vorgenommen würden. Weil der spontane Geburtseintritt schwer vorauszusehen sei, sei nicht gewährleistet, dass die Schwangere dann rechtzeitig ein spezialisiertes Zentrum erreicht: »Es handelt sich um seltene Eingriffe. Es gibt nur wenige Experten, die das können«, schildert der Gutachter. Würden Fetozid und Geburt zeitlich voneinander getrennt, »würde man auf die Schwangere ein höheres Risiko übertragen, dass sie auch das gesunde Kind verliert oder dass es mit einem Schaden überlebt.«
Hirnschädigung
Richter Schertz kommt auf die konkrete Situation zurück: Anfang Mai habe der Pränataldiagnostiker eine große Fruchtwasserdiskrepanz festgestellt, der »Spender«-Zwilling habe kein Fruchtwasser mehr gehabt. Am nächsten Tag sei die Schwangere im UKE aufgenommen und aufgeklärt, und am übernächsten Tag die Laserbehandlung vorgenommen worden. Bei der anschließenden Kontrolle habe sich die Fruchtwassermenge normalisiert. Auch 16 Tage später in der 25+2 Schwangerschaftswoche sei der Befund unauffällig gewesen. Kurz darauf habe der betreuende Frauenarzt auffällig vergrößerte Hirnkammern festgestellt und sechs Tage später habe der Pränataldiagnostiker die schwere Hirnschädigung des zweiten Zwillings diagnostiziert, eine periventrikuläre Leukomalazie – die Schädigung der weißen Substanz im Gehirn, die wenige Tage darauf in der Charité bestätigt worden sei. Drei Tage später sei die Schwangere dann zum zweiten Mal in Hamburg gewesen. Vor dem Lasereingriff im Mai sei sie dort korrekt aufgeklärt worden, dass schwerwiegende Veränderungen der Hirnsubstanz auftreten könnten. Der betreuende Pränataldiagnostiker habe den Fall nach dem ergebnislosen Besuch im UKE dann im Klinikum in Berlin vorgestellt, wo die Schwangere bei verkürztem Muttermund stationär bis zum 9. Juli aufgenommen worden sei und sich am 11. Juli wieder mit Wehen gemeldet habe. Dort sei in der Nacht um 3.20 Uhr bei stärkeren Wehen und drei Zentimeter eröffnetem Muttermund der Entschluss zur Sectio gefallen.
Der Vorsitzende fragt nach dem bipolaren Nabelverschluss mit medizinischen Geräten. Ob dadurch keine Eröffnung der Gebärmutter notwendig sei und kein Medikament injiziert würde, ob das gesunde Kind bei dem Verfahren nicht in Gefahr sei? Der Sachverständige nennt eine Studie, wonach von 80 gesunden Kindern bei diesem Eingriff am Geschwisterkind 9 innerhalb von 24 Stunden verstorben seien. Er erläutert, wie ein geplanter Eingriff vorgenommen wird – »… wenn, dann nicht so spät in der 32. Schwangerschaftswoche. Dann kann es nicht passieren, dass die Frau nachts mit Wehen kommt.«
»Ist es möglich, die Nabelschnur abzuklemmen, wenn die Wehen bereits eingesetzt haben?«, fragt der Richter weiter. »Technisch ist es nicht ausgeschlossen«, ist die Antwort. Ob die Sectio genauso bei gesunden Kindern geplant worden wäre? »Ja«, antwortet Kozlowski. Der beisitzende Richter möchte wissen, ob Eröffnungswehen vorgelegen hätten. Bei Zwillingsschwangerschaften könne es normal sein, dass der Muttermund zwei bis drei Zentimeter eröffnet sei, ohne Geburtseintritt. Aber Wehen, die durch Wehenhemmer nicht aufgehört hätten, fragt der Richter nach. »Es ist nicht auszuschließen«, schätzt der Gutachter.
Der beisitzende Richter bemerkt: »Wenn ich es richtig verstanden habe, ist das hier angewandte Verfahren für den gesunden Zwilling das risikoärmste.« Wann die Kaliumchloridspritze verabreicht worden sei? Der Gutachter erläutert, als der erste Zwilling entwickelt worden sei. »Wird der Herzstillstand nicht schon herbeigeführt, wenn die Nabelschnur abgeklemmt wurde?« Dem OP-Bericht habe er entnommen, dass die Blutzufuhr damit unterbrochen worden und der sofortige Herzstillstand eingetreten sei. »Also damit’s schneller geht«, gibt der Gutachter zur Antwort. »Wenn nicht, hätte es länger gedauert.«
»Warum haben Sie über dieses Verfahren nichts in der Literatur gefunden?«, fragt die Staatsanwältin den Gutachter. Darüber könne er nur spekulieren. Man befinde sich in einer rechtlich nicht eindeutigen Zone und wolle sich womöglich nicht einer Beanstandung aussetzen. »Wollten Sie formulieren ‚rechtlich nicht zulässig’?«, insistiert die Staatsanwältin. »Nein, aus meiner Sicht nicht.«
Der Verteidiger des ehemaligen Chefarztes fragt nach der Nabelschnurokklusion als Methode des Fetozids. Auch das berge doch ein Risiko für das gesunde Kind: »Es wird mit zwei Instrumenten durch die Bauchdecke vorgenommen, wir haben auch ein Loch in der Gebärmutter«. Ja, bestätigt Kozlowski, die Punktion erhöhe das Risiko der Frühgeburt. Zum FFTS fragt der Verteidiger weiter, ob von einer Unterbrechung erst zu sprechen sei, wenn wirklich alle Gefäße unterbunden seien? Nach dem Lasereingriff in Hamburg sei dies nicht sicher gewesen, erinnert der Gutachter: In der gesamten Plazenta könne es weitere Querverbindungen geben, die man nicht erreicht habe. Es gebe keine vollständige Trennung.
Ausführlich geht es um eine zweizeitige Zwillingsgeburt. Der Verteidiger des ehemaligen Chefarztes, Rolf-Werner Bock fragt, ob die Fruchtblase des kranken Kindes, das sich nach der Kaiserschnittgeburt des ersten Kindes noch in Utero befunden habe, beschädigt gewesen sei. »Nein«, ist die Antwort. »Hätte es auch Stunden oder Tage später geboren werden können?« »So etwas ist selten, aber bekannt«, bemerkt der Sachverständige. »Ist es also möglich, dass der erste Zwilling geboren ist, der zweite Zwilling noch nicht unter der Geburt?«, führt der Verteidiger seinen Gedanken fort. »Das kann ich nicht beantworten«, überlegt der Gutachter. »Ist es möglich, den Uterus wieder zu verschließen und abzuwarten?«, fragt Bock. »Das sei nicht auszuschließen«, schätzt Kozlowski ein, so etwas gebe es beispielsweise bei Operationen am Fetus. Der Verteidiger fährt fort: Bei der Fetalchirurgie würde der Fetus exkorporiert und anschließend wieder in den Uterus eingebracht – Fruchtblase, Uterus und Bauchdecke wieder verschlossen? »Ja«, bestätigt der Gutachter. Dann sei folgendes Szenario möglich: »Im Rahmen der Fetalchirurgie exkorporiert und inkorporiert man den Fetus, die Schwangerschaft geht weiter, der Eingriff misslingt und die Mutter erhält eine Indikation zum späten Schwangerschaftsabbruch?« »Das ist möglich«, antwortet der Gutachter.
Es geht weiter mit gedachten Szenarien, um die Thematik Geburtsbeginn zu beleuchten und den Fetozid bei geöffnetem Uterus einzuordnen. Schließlich wird der Sachverständige entlassen.
Anonyme Anzeige
»Für den Fall, dass es zu einer Bestrafung kommt«, kommt der Vorsitzende zum nächsten Punkt, wolle die Kammer über die ungewöhnliche Länge des Verfahrens Bericht erstatten. Am 20. Juli 2013 sei die anonyme Anzeige eines Klinikmitarbeiters eingegangen, die zur Strafanzeige geführt habe. Am 20. November 2013 habe die Staatsanwaltschaft das Verfahren eingestellt. Nach einer wiederholten anonymen Anzeige am 27. Mai 2014 sei die Wiederaufnahme der Ermittlungen verfügt worden. Im Juni 2014 seien die Praxisräume der behandelnden Frauenärzte und die Räume des Klinikums mit richterlichem Beschluss durchsucht und am 3. September 2014 ein erster Gutachter beauftragt worden, der sein Gutachten am 6. März 2015 vorgelegt habe. Zur Anklage sei es dann am 1. Juli 2016 gekommen.
Wiederholt sei es zu »Verfristungen« gekommen, weil die Strafkammer ausgelastet gewesen sei. Auch habe sich der erste Gutachter zwar nicht fachlich, aber persönlich als ungeeignet erwiesen. Das neue Gutachten sei am 7. Dezember 2018 übermittelt und anschließend das Hauptverfahren eröffnet worden.
Neben dem OP-Bericht vom 12. Juli 2010 verliest der Vorsitzende Richter die anonyme Anzeige, die zur Strafanzeige geführt hatte. Die Person, die den Fall gemeldet hatte, erklärt darin ihren Schritt: »… weil ich die Spätabtreibungspraxis nicht länger ertragen kann«. Sie sei immer wieder damit konfrontiert, dass lebensfähige Kinder getötet würden. Weil der Eingriff an ihrer Klinik so einfach möglich sei, kämen immer mehr Eltern mit dem Wunsch nach einem Spätabbruch von weiter her. Sie beobachte einen regelrechten »Spätabtreibungstourismus« und vermute ein »gutes Geschäft« für die Klinik. Ihr Gewissen belaste sie und sie »möchte nicht länger stummer Mitwisser sein«. Sie bittet mit der Anzeige darum, die gesamte Spätabtreibungspraxis zu überprüfen. Beigelegt ist der OP-Bericht zu dem verhandelten Fall. Weil sie Angst um ihren Arbeitsplatz habe, wolle die Person anonym bleiben.
Der Vorsitzende Richter kündigt für den nächsten Verhandlungstag die »Schlussvorträge« an.
Die Plädoyers
In ihrem Plädoyer am 12. November wird die Staatsanwältin eine Bestrafung beider Angeklagter wegen eines minderschweren Falls des Totschlags von eineinhalb Jahren Haftstrafe mit einer Bewährung von zwei Jahren fordern. Es sollen keine Berufsverbote ausgesprochen werden. Beide Anwälte werden für ihre Mandanten den Antrag auf Freispruch stellen.