Dr. Monika Hauser, ausgezeichnet mit dem Alternativen Nobelpreis Foto: © Henrik Nielsen/medica mondiale

Sexualisierte (Kriegs-)Gewalt wird von Frauenrechtsorganisationen als eine Ursache für die Destabilisierung von Gesellschaften benannt, die sich in einer Gewaltspirale bis in die Familien hinein fortsetzt. Diese Kollektiverfahrung behindert auch den Frieden, solange es keine Aufarbeitung und Wiedergutmachung für die Überlebenden gibt. Ein Gespräch mit Dr. Monika Hauser, Gründerin und Vorsitzende von medica mondiale e.V.

Männer haben bei der Überwindung sexualisierter (Kriegs-)Gewalt gegen Frauen und ihrer Wiedergutmachung eine zentrale Rolle. Sensibilisierte und mutige Männer werden auf allen gesellschaftlichen Ebenen gebraucht, um mit Frauen und Mädchen zusammen eine Transformation hin zu mehr Gleichberechtigung zu gestalten. Diese Aufgabe kann nicht allein engagierten Frauen und den Überlebenden überlassen bleiben. Frauen und Mädchen, die sexualisierte (Kriegs-)Gewalt erlebt haben, empfinden gerade die Unterstützung von ihren männlichen Familienangehörigen als sehr bedeutsam für die Bewältigung der Langzeitfolgen. Das hat eine Studie belegt, die 2014 in Zusammenarbeit der Frauenrechtsorganisationen medica mondiale e.V. und Medica Zenica entstanden ist. Sie hat die Langzeitfolgen bei 51 Probandinnen untersucht, die sexualisierte Kriegsgewalt im Krieg in Bosnien und Herzegowina überlebt haben (MZ-Studie, 2014). Werden sie unterstützt, hat dies auch positive Auswirkungen auf die nachfolgenden Generationen. Dazu ist es wichtig, dass Männer einbezogen werden.

Es braucht einen Bewusstseinsprozess gegenüber männlichen (und auch weiblichen) Rollenbildern im Hinblick auf die Stigmatisierung (auch als Täter) und Entstigmatisierung der Überlebenden. Männer brauchen eine Sensibilisierung dafür, wie sie als Chefärzte, Polizeibeamte, Verwaltungsangestellte oder auch Familienväter durch ein unreflektiertes Handeln zu Re-Traumatisierungen und Gewaltkreisläufen beitragen und diese ändern können. Dr. Monika Hauser hat sich mit ihrem Verein medica mondiale zum Ziel gesetzt, auf allen gesellschaftlichen Ebenen, das heißt individuell, im sozialen Umfeld, institutionell, politisch und gesamtgesellschaftlich, sexualisierter (Kriegs-)Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit einem trauma-sensiblen Ansatz zu begegnen .

Auf politischer Ebene mahnt medica mondiale e.V. die politischen Entscheidungsträger dazu an, Frauen an Friedensprozessen zu beteiligen, die Überlebenden sexualisierter Kriegsgewalt als »Kriegsopfer« anzuerkennen und Entschädigungszahlungen zu entrichten. Sie setzt sich für die Umsetzung Nationaler Aktionspläne im Zuge der Resolution 1325 »Frauen, Frieden, Sicherheit« des UN-Sicherheitsrates ein, die den besonderen Schutzbedarf von Frauen und Mädchen in Kriegsgebieten unterstreicht und deren aktive Rolle in politischen Prozessen und in Institutionen zur Bewältigung und Verhütung von Konflikten stärken soll.

Während immer noch in vielen Bereichen, einschließlich Computerspielen, Internet, TV und anderen Medien sexualisierte Gewalterfahrungen von Frauen verharmlost, normalisiert und Rollenklischees perpetuiert werden, wirkt die erlittene sexualisierte Gewalt oft im gesamten Leben der realen Frau nach. Diese Gewalterfahrung ist weder von ihr gewollt, noch eine Lappalie oder gleich wieder vorbei, wie oft suggeriert wird; vielmehr handelt es sich um eine schwere Menschenrechtsverletzung mit langwierigen Folgen für die gesamte Gesellschaft (siehe Tabelle, Seite 76).

Überlebende, nicht »Opfer«

Die Frauen und Mädchen, die sexualisierte Kriegsgewalt erlebt haben, sollten dabei nicht nur als Opfer gesehen werden, sondern im Wesentlichen als »Überlebende« einer zunächst vernichtenden Erfahrung. Sie haben für sich Bewältigungsstrategien entwickelt, um mit dem erlebten Schmerz, der Angst und den Traumafolgen umzugehen und weiterzuleben.

Maria Zemp, die mit medica mondiale den Mehrebenen-Ansatz entwickelt hat, sagt sogar, dass die »Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) […] keine Krankheit dar[stellen], sondern […] auf psychophysiologische Bewältigungsstrategien hin[deuten], die dem Schutz vor einem weiteren Ausgeliefertsein dienen und ein Leben nach dem Trauma ermöglichen« könnten (Zemp, 2016).

Abbildung 1: Sexualisierter (Kriegs-)Gewalt muss man auf allen Ebenen begegnen. Mehrebenen- Ansatz nach medica mondiale e.V./Maria Zemp Illustration: © Melanie M. Klimmer

Transgenerationale Traumata

Sexualisierte Kriegsgewalt wird weit in die Gesellschaften hineingetragen. Es leiden nicht nur die Frauen unter den physischen und psychischen Langzeitfolgen. Auch die »Kinder des Krieges«, die aus Kriegsvergewaltigungen hervorgehen, und die weiteren Kinder der Überlebenden leiden häufig unter transgenerationalen Traumata; Partner:innen fühlen sich oft hilflos.

Transgenerationale Traumata äußern sich oft in neurologischen und psychiatrischen Problemen, insbesondere in schweren Depressionen, stellt Dr. Monika Hauser fest. »Kinder fühlen sich ohnehin schuldig, wenn sie bemerken, dass mit der Mutter irgendetwas nicht stimmt. Sie beziehen es sofort auf sich, wenn sie unkonzentriert, nicht ganz präsent und unglücklich wirkt oder bei jedem Geräusch zusammenzuckt. Und sie denken dann eher, es liege an ihnen, sie hätten irgendetwas nicht richtig gemacht oder wären nicht brav genug gewesen«, fährt die Gynäkologin fort. »Und dann kommt noch speziell hinzu, dass die Mutter vielleicht mal sagt: »Ich hasse dich! Wegen dir ist alles so schlimm! Wegen dir hassen uns die Leute! Das Kind hat dann kaum eine Chance, ein Wohlbefinden im eigenen Körper, eine positive Identität oder überhaupt Stabilität für sich zu entwickeln.« Sehr früh schon hätten die Kinder das Gefühl, für die Mutter da sein zu müssen. Die Sorge kehre sich um.

Die zugrundeliegende Dynamik zu erkennen, die am Ende in eine schwere Depression des Kindes münden kann, sei für viele Mütter nicht so einfach, sagt Dr. Monika Hauser. Es sei eine schwierige Aufgabe, von außen zu kommen und zu erklären, dass hier eine schwere Menschenrechtsverletzung stattgefunden habe. »Es liegt auch in der Verantwortung der Gesellschaft, diese Mütter und deren Kinder in ihrer Mitte aufzunehmen«, erklärt die Vorständin und Gründerin von medica mondiale e.V.

Tabelle: Wie sexualisierte Gewalt im Leben von Frauen nachwirkt. Quelle: entwickelt von Melanie M. Klimmer nach dem Transcend-Ansatz nach Johan Galtung: Galtung, J. (2007). Konflikte & Konfliktlösungen. Eine Einführung in die Transcend-Methode: Die Transcend-Methode und ihre Anwendung. Kai Homilius Verlag

»Zeigt auf den Täter, nicht auf mich«

Da Mitarbeitende in Hospitälern, Krisenambulanzen und anderen Einrichtungen des Gesundheitswesens oft die Ersten sind, denen sich Überlebende offenbaren und anvertrauen (müssen), sensibilisiert medica mondiale e.V. in transnationalen Programmen diese Berufsgruppen im Besonderen, unter anderem in Bosnien und Herzegowina, im Kosovo, Nordirak und bis August 2021 auch in Afghanistan. »Ich vergesse nicht, wie ein bosnischer Gynäkologe zu mir sagte: ›Diese Selbstreflexion und dieses Training haben mich zu einem besseren Menschen gemacht‹. Wir müssen in all diesen Ländern davon ausgehen, dass das Personal selbst vom Krieg traumatisiert ist und eigene Gewalterfahrungen durchgemacht hat«,erzählt Dr. Monika Hauser. »In unseren Trainings stellen sie dann fest, dass diese Arbeit an sich selbst weit über die mit traumatisierten Patientinnen hinausgeht.« Den Zugang zu Männern finde man in der Regel über die Thematisierung ihrer eigenen weiblichen Familienangehörigen. »Die meisten haben Ehefrauen, Schwestern, Töchter«, sagt die Gynäkologin. »Sie wollen nicht, dass sie Schaden nehmen.« Und dafür müssten sie auch einen aktiven Part übernehmen.

Rückkehrer von der Front

Die Gründerin von medica mondiale erinnert sich an die Anfänge ihrer Organisation im Jahre 1993 während des Krieges in Bosnien und Herzegowina. In der Zeit zwischen April 1992 und Dezember 1995, in der die militärischen Auseinandersetzungen währten, wurden 20-50.000 Frauen und Mädchen systematisch vergewaltigt, zwangsgeschwängert und oft erst in einem fortgeschrittenen Schwangerschaftsstadium wieder freigelassen, wenn es für eine Abtreibung zu spät war (MZ-Studie, 2014).

Eine ihrer Kolleginnen bemühte sich als Psychiaterin darum, eine ambulante Beratungsstelle für zurückkehrende Frontsoldaten einzurichten, weil sie feststellte, dass viele von ihnen aufgrund ihrer Traumatisierungen die erlebte und unverarbeitete Gewalt in ihre eigenen Familien hineintrugen. »Der verantwortliche Kommandant, dem sie den Vorschlag machte, sagt nur: »Meine Männer sind nicht traumatisiert«, berichtet Dr. Monika Hauser. »Solche Antworten hören wir häufig, und das ist Teil des Problems. Denn, wenn nicht einmal anerkannt ist, dass auch Männer traumatisiert werden können, kommen wir an die Thematik sexualisierter Kriegsgewalt überhaupt nicht mehr ran.«

Gewaltzyklen durchbrechen

Das sei die eigentliche Tragik, sagt Hauser: »Ob Chefarzt in Kabul, Kommandant in Zenica – in patriarchalen Gesellschaften müssen Männer immer die Stereotype des starken Mannes bedienen. Es ist viel zu gefährlich für sie, auch einmal Schwäche zu zeigen und in sich reinschauen zu lassen, denn dann könnten sie zusammenbrechen und vielleicht nicht mehr funktionieren«, erklärt die Gynäkologin weiter. »Solange da aber keine Aufarbeitung erfolgt, müssen wir von immer neuen Gewaltzyklen ausgehen.« Deshalb sei Sensibilisierung so wichtig. »Es spielt keine Rolle, ob wir von Bosnien oder irgendeinem anderen Land sprechen. Männer haben in patriarchalen Gesellschaften oft überhaupt keinen Raum, um zu sprechen«, sagt Dr. Monika Hauser. Wie lange habe es in der Bundesrepublik Deutschland gedauert, bis anerkannt worden sei, dass zurückkehrende Bundeswehrsoldaten eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) haben können? »Wie lange hat es gedauert, bis verstanden worden ist, dass Soldaten selbstverständlich traumatisiert sein können aufgrund dessen, was sie getan, erlebt und gesehen haben, den Tod ihrer Kamerad:innen! Lange hat sich die Bundeswehr gegen ihre Verantwortung gewehrt, ihnen fachliche, psychologische Unterstützung zu finanzieren«, erklärt sie.

Dr. Monika Hauser mit einem Militärkommandanten in Bosnien 1993: Schon in den Anfängen von medica mondiale in Bosnien und Herzegowina geht es um die Einbindung und Sensibilisierung von Männern, um Kreisläufe sexualisierter Kriegsgewalt zu durchbrechen. Foto: © Cornelia Guertler/medica mondiale.

Männer einbinden

Dass es mittlerweile internationale Resolutionen zum Thema Kriegsvergewaltigungen gibt, betrachtet medica mondiale e.V. als großen Erfolg der feministischen Bewegung. Das Problem sei aber die Umsetzung, für die oft der politische Wille fehle – auch in Deutschland. Als Verursacher der Problematik müssten auch die Männer besser und konkreter eingebunden werden. »Natürlich wünschen wir uns mehr proaktive Männer, die auch aus freien Stücken auf unsere Kolleginnen in den Partnerorganisationen zukommen. Der Wert sensibilisierter Männer, die mit uns gemeinsam für mehr Geschlechtergerechtigkeit kämpfen, ist unbestritten: Die Aufgabe ist unendlich groß und scheinbar unaufhörlich, als dass sie von Frauenorganisationen alleine zu schaffen wäre. Wir sind da als gesamte Gesellschaft in der Pflicht.«

»Wenn Männer ihre Definition von Männlichkeit reflektieren, aus den engen Räumen stereotyper Erwartungshaltungen heraustreten und neue Rollenkonzepte ausprobieren, liegt darin ein großes Befreiungspotenzial: für Männer, für Frauen, für alle Gender – und für unsere ganze Gesellschaft.« (Robert Franken, HeForShe-Botschafter, Deutschland 2018)

Der Ansatz von medica mondiale e.V. ist kein karitativer, nur zu Hilfe eilender. Es geht der Organisation auch um einen soziopolitischen Fokus: »Unsere Patientinnen haben schwere Menschenrechtsverletzungen überlebt, haben sexualisierte Gewalt überlebt. Und nun haben sie alles Recht der Welt, nach der erfahrenen sexualisierten Gewalt von uns eine adäquate Unterstützung zu bekommen«, betont die Gynäkologin. medica mondiale definiert sexualisierte Gewalt im Krieg als »Gewalt mit sexuellen Mitteln« und meint insbesondere Vergewaltigung, aber auch Zwangsschwängerung und sexuelle Versklavung. Vergewaltigung stellt dabei keinen aggressiven Ausdruck von Sexualität dar, sondern ist ein sexueller Ausdruck von Aggression: Die Gewalt wird sexualisiert. Sie dient der Ausübung von Macht, Kontrolle und Unterdrückung einer anderen Person (medica mondiale 2016).

Seit 2002 ist medica mondiale e.V. in Afghanistan aktiv. Auch hier entwickelte die Organisation Projekte zur Sensibilisierung des Gesundheitspersonals. Dr. Monika Hauser erinnert sich: »In Gesprächen mit den Chefärzten sagte man uns damals: ›Traumaarbeit? Wir brauchen doch keine Traumaarbeit! Was wir brauchen ist das neueste, japanische Ultraschallgerät.‹ Die technische Ausstattung aber war nach einer Stunde kein Thema mehr«, berichtet die Gynäkologin. Jeder dieser Chefärzte, jeder, hatte angefangen zu weinen. »Sie sagten zu mir: »Und wer schaut auf mein Trauma? Jahrelang wusste ich, wenn ich nach Hause kam, nicht, ob meine Familie noch vollzählig am Tisch sitzen würde. Noch nie habe ich darüber sprechen können, was ich erlebt habe. Und ich bedauere zutiefst, dass ich meine Menschlichkeit eingebüßt habe und es mir manchmal im Nachtdienst einfach gleichgültig ist, wenn ich höre, dass eine Frau unter der Geburt schwer blutet. Da gehe ich dann nicht unbedingt hin.«

Traumasensibler Ansatz

Es kommt auf das Verhalten des Personals an. Mit dem Verhalten des Gesundheitspersonals befassen sich auch die Methoden, die medica mondiale und ihre Partnerorganisationen in die Institutionen bringen und dort implementieren: »Wie kann ich Sicherheit für die Patientin herstellen, wie ihr Stabilität vermitteln und mehr Kontrolle über das Geschehen zurückgeben?«, fragt Dr. Monika Hauser. »Durch die Gewalt hat die Überlebende die Kontrolle über die Situation, über den eigenen Körper komplett verloren. Daher ist es so wichtig, dass das Gesundheitspersonal der Patientin genau erklärt, was sie zu erwarten hat, von der Anamnese über die Klärung der Diagnose bis zum therapeutischen Weg. So kann sie Einspruch erheben und sagen, was sie möchte und was nicht.«

In den Modulen inbegriffen ist die Selbstreflexion. »Sie gehört in jede Gesundheitseinrichtung«, betont Dr. Monika Hauser. Um Übertragung und Gegenübertragung von Traumata zu vermeiden, müssten sich die Mitarbeitenden die Frage stellen: »Was ist meine eigene Biografie?« und: »Was sind meine eigenen Traumata?« Das müsse reflektiert werden. Auf Management-Ebene brauche es das Bewusstsein für »Selfcare« (Selbstfürsorge) und »Staffcare« (Fürsorge für die Mitarbeitenden). »Ohne diese persönliche Fürsorge ist die Arbeit mit traumatisierten Menschen nicht zu bewältigen «, sagt Dr. Monika Hauser. »Gerade für viele Männer ist es eine große Hürde, auf sich zu achten und sich auch einmal einzugestehen, dass sie selbst Unterstützung brauchen.« Ein scheinbar hoher Anspruch aber helfe nicht automatisch bei der Implementierung eines Trauma-sensiblen Ansatzes, dem STA®-Ansatz. »Es müssen sehr viele Zwischenschritte gemacht werden, bis ein protektives Gesetz auch nur minimal umgesetzt werden kann, zumal in Nachkriegsstaaten oft tiefste Armut und Korruption vorherrschend sind.«

»Wir sind am Leben. Wir wurden verletzt, doch wir sind mutig und stark.« (Zitat einer Klientin, Medica Zenica e.V. (MZ-Studie, 2014)

Kinder des Krieges und Kinder, die aus Vergewaltigungen generell hervorgehen, werden in vielen Gesellschaften als Symbol der Sünde gesehen. Obwohl die Kinder und ihre Mütter gerade jetzt die ganze Fürsorge und Unterstützung der Community am nötigsten bräuchten, um das Erlebte zu überwinden, sehen sie sich stattdessen häufig den stigmatisierenden und ausgrenzenden Strukturen ihrer Gesellschaft gegenüber. Die langfristigen Folgen für die Gesundheit der Mütter und die ihrer Kinder sind erheblich, wie die MZ-Studie am Beispiel des Krieges in Bosnien und Herzegowina (1992-1995) evaluieren konnte (MZ-Studie 2014).

»Schauen wir uns das Beispiel der Jezidinnen im Nordirak an, wo viele im Kontext des Genozids vom Islamischen Staat verschleppt worden sind und in den erzwungenen Beziehungen mit diesen Männern Kinder bekommen haben«, sagt Dr. Monika Hauser. »Als sie befreit wurden und die Möglichkeit hatten, wieder in die jezidische Gemeinschaft zurückzukehren, hat man ihnen deutlich gesagt: ›Ihr dürft zurückkommen, aber ohne die Kinder.‹ Für die Mütter war das schrecklich«, erklärt sie. »Ich erfuhr von Frauen, die ihre Kinder zunächst dem IS überlassen haben, um in ihren Familien wieder aufgenommen zu werden, die aber danach wieder zum IS zurückgegangen sind, um ihre Kinder zu suchen.«

Weiterführende Links
Die Organisation von Frauen für Frauen
medica mondiale e.V. setzt sich gegen sexualisierte (Kriegs-)Gewalt ein und unterstützt Frauen und Mädchen bei der Überwindung ihrer Folgen. Dabei arbeitet die Organisation mit 40 Partnerorganisationen in 13 Ländern weltweit zusammen, sensibilisiert Fachkräfte, die mit Überlebenden arbeiten, und setzt sich auf politischer Ebene für Frauenrechte ein. Selbst- und Personalfürsorge gehören bei allen Aktivitäten mit Frauen, die unter Traumatisierungen leiden, selbstverständlich dazu. In diesem Jahr feiert die NGO ihr 30-jähriges Bestehen.
https://medicamondiale.org/

Medica Zenica e.V. unterstützt seit 1993 in Bosnien und Herzegowina Mädchen und Frauen, die sexualisierte (Kriegs-) Gewalt und Traumata überlebt haben. > https://medicazenica.org/

Die Organisation von Männern für Frauen
»Men can stop rape«, mit Sitz im US-Bundesstaat Colombia befähigt männliche Jugendliche und junge Männer sowie Einrichtungen darin, Vergewaltigung und andere Formen von männlicher Gewalt zu verhindern, für die Problematik zu sensibilisieren, eine andere Männlichkeit ohne Gewalt zu entwickeln und sich mit Frauen für die Gleichstellung der Geschlechter zusammenzutun. > https://mcsr.org/

Patriarchale Strukturen sind internalisiert

Da »die Verarbeitung und Integration von traumatischen Erfahrungen […] weitgehend davon ab[hängt], ob die Betroffenen in ihrer sozialen Umgebung unterstützt oder ausgeschlossen werden, ob die Tat gesetzlich geächtet wird oder nicht und ob eine psychosoziale Versorgungsstruktur mit einem niedrigschwelligen Angebot ausreichend finanziert wird oder nicht« (Zemp, 2016), ist es unerlässlich, unvermindert mit der Sensibilisierungs- und Bewusstseinsarbeit im Umgang mit traumatisierte Frauen und Mädchen auf allen gesellschaftlichen Ebenen fortzufahren. Dazu braucht es die Kooperation mit Männern, die es trotz möglicher und zum Teil sehr wahrscheinlicher, persönlicher Nachteile für ihren eigenen Status wagen, sich für die Belange von traumatisierten Frauen einzusetzen. Bei Männern kann die Arbeit am eigenen Trauma Türöffner dafür sein.

»Stärkende Beziehungen verbunden mit sozialer Unterstützung sind ein wesentlicher Stabilitätsfaktor in der Trauma-Verarbeitung« (MZ-Studie, 2014)

Das Personal in Hospitälern, Justiz oder Verwaltung habe die patriarchalen Strukturen, Stereotype und Vorurteile internalisiert, erklärt die medica mondiale-Gründerin. »Es muss diese gesellschaftliche Dynamik von Stigma, Tabuisierung und Schweigen aber durchschauen, sonst kann es die Überlebenden nicht optimal unterstützen und stellt mit einem unreflektierten Verhalten selbst eine Re-Traumatisierungsgefahr für diese besonders vulnerable Gruppe dar. Sie sagen dann: Die Frau wollte es doch so, warum war sie zur falschen Zeit am falschen Ort? Oder hat sie den Soldaten vielleicht dazu ermutigt? – Selbst im Kriegskontext haben wir all diese patriarchalen Stereotype.«

So sind auch die Hebammen hierzulande gefordert, reflektiert im Umgang mit den Überlebenden zu sein, die aus Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten kommen. Auch hier kann es eine Herausforderung darstellen, Überlastungen einzugestehen oder in patriarchal-hierarchischen Krankenhausstrukturen reflektiert und Trauma-sensibel zu handeln.

Die Geschichte von medica mondiale e.V.
April 1992 |Belagerung Sarajevos/Ausbruch des Bosnienkrieges
Veranlasst durch die systematischen Vergewaltigungen von 25.000 Frauen in Bosnien reist Dr. Monika Hauser ins Kriegsgebiet

1993 |Gründung von »Medica« (später »medica mondiale«)
Eröffnung von »Medica Zenica« – erstes Frauentherapiezentrum mit gynäkologischer Ambulanz (70 km entfernt von Sarajevo); aufsuchende, medizinische, psychologische und soziale Unterstützung, Unterkunft und Ausbildung für Überlebende von Srebrenica folgen

1997 |Kampagne »Ich mische mich da ein« gegen Zwangsabschiebung
medica mondiale fordert die frauenspezifische Härtefallregelung für bosnische Überlebende sexualisierter Kriegsgewalt

1999 |Interdisziplinäres Frauen-Zentrum im Kosovo eröffnet
Überlebende sexualisierter Kriegsgewalt und Vertreibung erfahren nach militärischer Eskalation um den Status des Kosovo medizinische, psychosoziale, rechtliche und existenzfördernde Unterstützung

2001/2002 |Afghanistan: Schutzhäuser in Kabul/Programm »Ärztinnen der Hoffnung«
Büro in Kabul eröffnet nach dem Sturz des Taliban-Regimes: überregionale Vernetzung mit »Purple Nest« (Schutzhaus für 15 Witwen, alleinstehende Frauen mit ihren Kindern); Programme für afghanische Gesundheitsfachleute im traumasensiblen Ansatz und »Ärztinnen der Hoffnung« für Kurzzeiteinsätze; Insassinnen des Frauengefängnisses erhalten Rechtsbeistand; Schulung für Wärter:innen in UN-Standards

2003 |Zweiter Irak-Krieg: Nothilfe für 4.000 Frauen und Kinder

2004 |Große-Seen-Region Afrikas: Länderübergreifender Einsatz
Bei systematische Vergewaltigungen in Ruanda, Burundi, Uganda und der Demokratischen Republik Kongo seit den 1980er Jahren werden Frauen und Mädchen schwer verletzt; Kooperation mit PAIF in den Provinzen Nord-/Süd-Kivu (Kongo) in der medizinischen, psychosozialen, wirtschaftlichen Hilfe

2005 |Einsatz für Geflüchtete in Uganda
Finanzierung von 40 Ärzt:innen in zwei ugandischen Lagern mit 45.000 Geflüchteten, auch aus dem Südsudan. Bei den seit mehr als 25 Jahren wütenden Kämpfen werden unzählige Frauen und Mädchen von Rebellen verschleppt, sexuell versklavt, vergewaltigt und schwanger

2005 |2020 |Aufarbeitung in Deutschland
Kampagnen »Zeit zu sprechen« (2005) und »Niemals nur Geschichte« (2020) von medica mondiale e.V. rufen zur Aufarbeitung von Vergewaltigungen im Zweiten Weltkrieg auf

2006 |2015 |2018 |Durchbruch für die Entschädigungsrente
Regierungen in Bosnien und Herzegowina, Kroatien und im Kosovo anerkennen die monatliche Entschädigungsrente und den Invalid:innenstatus für kriegsvergewaltigte Frauen und Mädchen

2006 |Unterstützungsstrukturen für Liberia
Von 1989 bis 2003 sterben 250.000 Menschen im Bürgerkrieg, drei von vier Frauen werden vergewaltigt; medica mondiale e.V. bildet in ländlichen Regionen Dorfberater:innen aus, die Überlebende psychosozial beraten und die Dorfgemeinschaften sensibilisieren

2007 |Ruanda: Unterstützung für ausgegrenzte Frauen und »Kinder des Krieges«
Radikale Hutu töten von April bis Juli 1994 über 800.000 Tutsi und andere Oppositionelle, vergewaltigen fast 500.000 Frauen und Mädchen, viele werden schwanger und verlieren die Solidarität ihrer Familien/Communitys; in Kooperation mit der Hilfsorganisation SEVOTA erhalten sie Unterstützung

2008 |Right Livelihood Award
Dr. Monika Hauser wird mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet

2009 |Deutschland: »Kriegsgewalt und Trauma«-Workshops für Haupt- und Ehrenamtliche
Fortbildungsprogramm zum Stress- und Traumasensiblen Umgang (STA-Ansatz®) mit Frauen/Mädchen aus Kriegs- und Krisengebieten

2010/2011/2015 |Nachhaltige Strukturen in Afghanistan, Liberia und dem Kosovo
»Medica Afghanistan«, »Medica Gjakova« (Kosovo) und »Medica Liberia« werden eigenständige NGOs mit eigenen Strukturen und Zielen

2015 |Länderbüro in Burundi
Kooperation mit NGOs in der DR Kongo, in Burundi, Ruanda und Uganda von Burundi aus; Aufbau/Training eines Traumaexpert:innen-Pools

2015/2016 |Autonome Region Kurdistan: Einsatz im Nordirak, Eröffnung des Länderbüros
Nachdem 2014 rund 10.000 Jesid:innen getötet oder entführt, mehr als 6.000 vergewaltigt und versklavt worden sind: Unterstützung des Gesundheitsministeriums für das »Women Survival Center« in der Stadt Dohuk, Trainings für staatliche Ärzt:innen/Psycholog:innen im STA-Ansatz®

2018 |Anlaufstellen für Überlebende in der Autonomen Region Kurdistan (Nordirak)
Beginn der Kooperation mit der Organisation EMMA für Entschädigungsgesetze/Rechte von Überlebenden sexualisierter (Kriegs-)Gewalt

2018 |Sierra Leone & Elfenbeinküste: Kampf gegen Genitalverstümmelung
Unterstützung von Frauenrechtsorganisationen für die Ausbildung von Multiplikator:innen gegen FGM und andere Projekte beginnt

2019 |Länderübergreifendes »See-Far«-Projekt startet
Gemeinsame Aufklärungskampagnen/Advocacy-Strategien mit Partnerorganisationen für die Rechte von Frauen und Mädchen

2020 |Corona-Pandemie: Gewalt gegen Frauen steigt in einigen Ländern um 40 %
Die Teams von medica mondiale e.V. richten Notfall-Hotlines und Online-Beratungen für gewaltbetroffene Frauen ein

2021/2022 |Evakuierung von 100 »Medica Afghanistan«-Aktivistinnen mit Familien
Nach der Machübernahme der Taliban: Krisenstab arbeitet rund um die Uhr, um Aktivistinnen in Sicherheit zu bringen

2022 |Unterstützung Überlebender in der Ukraine
Unterstützung des Netzwerks WAVE (Women Against Violence Europe): Trainings im STA-Ansatz® sowie zu Selbst- und Teamfürsorge

2023 |30 Jahre medica mondiale e.V.

Zitiervorlage
Klimmer, M. M. (2023). Den Kreislauf sexualisierter (Kriegs-)Gewalt durchbrechen: Mutige Männer einbinden. Deutsche Hebammen Zeitschrift, 75 (5), 74–80.
Literatur
medica mondiale e.V. (2016). Ansätze zur Unterstützung von Überlebenden sexualisierter Kriegsgewalt, Political Briefing, Köln.

MZ-Studie: Medica Zenica e.V./medica mondiale e.V. (Hrsg.). (2014). »We are still alive«. Wir wurden verletzt, doch wir sind mutig und stark. Eine Studie zu Langzeitfolgen von Kriegsvergewaltigungen und zu Bewältigungsstrategien von Überlebenden in Bosnien und Herzegowina, Zusammenfassung, Köln (kurz: MZ-Studie). doi: http://dx.doi.org/10.15498/89451.2

UN Women – Nationales Komitee Deutschland e.V. (2018). Jahresbericht HeForShe in Deutschland, Bonn. https://heforshe.org/sites/default/files/2022-12/HeForShe%20Alliance%20Impact%20Report%202022_1.pdf

Zemp, M. (2016). Expertin statt Opfer. Deutsche Hebammen Zeitschrift 68 (3).

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