Ich bin eine Historikerin der Sinne. Seit langem hege ich eine große Sympathie zu Hebammen und zu dem, was sie bei der Geburt tun, wenn sie sie abwartend begleiten können. Dieses Tun, das auf einer gekonnten Diagnostik der unsichtbaren Dynamiken im Verlauf der Geburt fußt, verstehe ich als eine Naturforschung, die in der besten Tradition des Berufes mit Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen und einfacher Klarheit geübt wurde.
Einen alten Sinn neu fassen
Mein Verständnis der Hebammenkunst kommt nicht aus der Praxis, ich bin keine Hebamme. Sondern es wurzelt in Gesprächen mit Hebammen und aus meiner Lektüre von Quellen, in denen Hebammen von ihrem Tun berichten: zum Beispiel Martha Ballard, die im späten 18. Jahrhundert Frauen in entlegenen Höfen in Maine, USA, gut betreute (Ulrich 1992); drei Generationen von Hebammen, die in Schweizer Bergdörfern wirkten (Töngie 1992); Maria Horner, die in den 1950er und 60er Jahren im österreichischen Murtal praktizierte (Horner 1994); Ottilia Grubenmann, die bis in die 1970er Jahre hinein in Appenzell Geburten zu Hause und als Beleghebamme begleitete (Grubenmann 1993).
Mir ist in den vergangenen Jahren zunehmend klar geworden, dass die überlieferten Berichte ihrer Kunst für uns heute in ihrem Sinn und in ihrer Vielschichtigkeit unverständlich und damit wundersam geworden sind. Uns ist nicht mehr selbstverständlich, wenn eine Hebamme erzählt, wie sie der Frau bei jeder Wehe den Rücken gerieben hat, und wie sie sich, als es nicht weiterging, mit der Gebärenden zum Schlafen ins Bett gelegt hat. Dass dieses Tun begründet ist in einer Kunde über die Ökonomie der Kräfte. Uns kommt eine solche Praxis schrullig vor oder als ein Tun, das der Ehemann oder eine beliebige Person von der Straße ebenfalls hätte praktizieren können. Kaum mehr können wir den nüchternen Ernst, die Expertise, Verantwortung und die Bedeutsamkeit solcher Handlungen fassen. Denn wir sind geneigt, eine solche Praxis mit emotionaler Nähe oder anheimelnder Unprofessionalität zu verwechseln.
Als in den 1980er Jahren Laien Einblick in die Urteilsbildung und Begründung der Praxis von MedizinerInnen forderten, standen Hebammen in Deutschland noch im Schatten dieses Gefechtes, aus dem die Evidenzbasierte Medizin hervorging. Seitdem hat sich die Medizin in eine Risikomedizin verwandelt, und die Geburtshilfe wurde zunehmend in ein Risikomanagement umdefiniert. Statistik und Risikoberechnung haben sich heute als die Sprache durchgesetzt, durch welche Medizin und Geburtshilfe der Anstrich von Wissenschaftlichkeit, Sicherheit und Transparenz zukommt. Im Zuge dessen kennen sich sogar Hebammen zunehmend weniger aus in dem Sinn und der Begründung der abwartenden und begleitenden Praxis, die noch bis in die 50er Jahre mit gutem Erfolg üblich war. Ebenso wie es kaum mehr möglich erscheint, in „sachlichen“ Worten zu beschreiben, was Hebammen tun, wenn sie es unterlassen, in die Geburt einzugreifen, oder wenn sie der Gebärenden vorschlagen, eine Weile auszuruhen oder hin und her zu gehen. Hebammen stehen also vor der Situation, Worte finden zu müssen, die heute verständlich, nüchtern und vernünftig klar machen können, dass ihre Praxis auf einer soliden Wissensgrundlage fußt. Nicht die Hebammenkunst als solche ist veraltet. Sondern der Sinn dieser Praxis und ihrer Wissensfelder muss in einer modernen Sprache und entsprechend unserer Wahrnehmung neu gefasst werden.
Abwarten ist Aktivität
Mich hat immer besonders beeindruckt und auch verwirrt, wie einfach (nicht simpel) Hebammen von ihrem Tun gesprochen haben. In ihrer Studie zur Arbeit von Hebammen, die in einer Schweizer Bergregion Geburtshilfe leisteten, zitiert Claudia Töngie die Hebamme Anna Zberg, die bis in die 80er Jahre Frauen zu Hause bei der Geburt half (Töngie 1992): „Im Spital, da haben sie dann manchmal Spritzen gemacht. Hat es geheißen: ja, da machen wir vorwärts (…) man muss da nicht so lange, wir haben keine Zeit, oder ja (…) das ziehen wir nicht so lange rum. Mmh. Und, wir zu Hause mussten dann halt … in Gottes Namen, warten. Hieß es dann jeweils: warten, warten, warten. Mmh.“ Anna Zberg unterscheidet zwei Haltungen dem Gebären gegenüber: die der Medizin beziehungsweise des Spitals und die der Hebammen. Bis in den Rhythmus ihres Sprechens hinein kommt ein Kontrast zur Sprache. Die eine Geburtsbetreuung „macht vorwärts“, da hat man keine Zeit, da wird nicht gewartet. Bei den Hebammen dagegen, da hieß es jeweils „warten, warten, warten“. Anna Zberg stellt diese zwei Handlungsweisen gegenüber: eine, die eingreift und vorgreift, und eine, die abwarten kann – und weiß, dass sie abwarten muss.
In Anna Zbergs Sätzen steckt für mich ein Hinweis darauf, was die Hebammenkunst ausmacht. Das medizinische Wissen konzentrierte sich auf Beschleunigung, die Aufmerksamkeit auf Pathologien und zuletzt auf vorgreifende Prävention. Der medizinische Blick richtete sich auf Pathologien und wie diesen begegnet werden kann. Dieser Blick hat eine eigene Geschichte, bis hin zum gegenwärtigen Regime der Risikomedizin, die eingreift auf der Grundlage von Daten und Standards, also keine Diagnose im Vorliegenden mehr benötigt, um voran zu machen: von der chemischen Einleitung des Geburtsbeginns zur Wehenbeschleunigung, über die Verkürzung der Zeit, die den Gebärenden eingeräumt wird, bis hin zur vorgreifenden Öffnung des Geburtsausgangs durch den Dammschnitt und die aktive Lösung der Nachgeburt.
Auf der anderen Seite die Hebamme: Sie studiert beobachtend die Natur und weiß daher, wann sie nicht einzugreifen braucht und der Gebärarbeit ihren Lauf lassen kann. Ein solches Können des Wartens erscheint uns heute passiv. Doch das ist ein Trugschluss. Es ist ungefähr so trügerisch, wie wenn man von Sokrates, der in einer Reflexion versunken verharrte, annähme, er denke nicht. Um bei einer Geburt abwarten zu können, muss man etwas vom Gebären verstehen, es kennen und wiedererkennen können im Gegensatz zu präventiven Vorgriffen, die aufgrund von Schwellenwerten geschehen. Die Hebamme muss über Kräfte nachdenken: die Kräfte und die Natur der Gebärenden, über ihre Physis und über die Kräfte des Kindes, also darüber, was die Eigenart dieser Geburt ist. „Geburt“ im doppelten Sinne: die Entbindung der Frau und das Zur-Welt-kommen des Kindes.
Das Verhältnis zwischen Hebamme und Mediziner ist ähnlich dem zwischen einem Grundlagenforscher und einem Techniker. Sie versteht etwas von der Geburt, er kann einen Kaiserschnitt machen. Sie kennt und erkennt die konkreten Dynamiken und Rhythmen, er richtet sein Handeln nach Standardwerten und Abweichungen.
Die Passivität des Voranmachens
Im Nachdenken über das, was die Hebammenkunst auszeichnet, damals und heute, kam ich zu dem Schluss, dass im lang währenden Konflikt zwischen der Wissenschaft der Medizin und jener der Hebammen ein unvereinbares Verständnis des Wesens der Geburt verborgen liegt. Hebammen konnten der Natur ihren Lauf lassen, weil sie über die dafür nötige Beobachtungskunst verfügten und aus Erfahrung beurteilen konnten, wie diese einzelne Geburt gut und richtig verläuft. Das Eingreifen zu unterlassen ist eine höchst aktive, kundige und erkundende Tätigkeit. Im Kontrast dazu muss die präventive Risikomedizin verstanden werden als ein unkundiges und im strengen Sinne passives Handeln. Denn wenn die Erfahrung mit der lebendigen Natur fehlt, so bleibt nur noch ein Handeln nach Schema F.
Zur Kundigkeit: Leicht scheint es, dass es vor allem einer Kenntnis der Pathologien für die Geburtshilfe bedürfe, denn kennt man die Pathologien, P
könnte man auch die Geburt sicher betreuen. Doch schon am einfacheren Beispiel des Flugzeugbaus lässt sich dies widerlegen. Weiß man doch, dass sowohl der Physiker als auch der Techniker eine lockere Schraube als Problem erkennen können. Der Physiker kann das vielleicht nicht beheben, doch nur er versteht etwas von den natürlichen Voraussetzungen, die man kennen muss, wenn man fliegen will. Und die Risikomedizin, die keinen Unterschied mehr kennt zwischen einer vorliegenden Gefahr – beispielsweise für einen Dammriss – und einer Wahrscheinlichkeitsaussage – beispielsweise über Dammrisse bei über 35-Jährigen – weiß noch weniger, wann und in welcher Weise eine Geburt gut verläuft, als die klassische Medizin, die sich auf die Behandlung von Pathologien spezialisiert hatte.
Zur Passivität und Aktivität: Die Aktivität der Hebamme ist es, die Natur, die Dynamik der Geburtsarbeit und die Gebärende zu beobachten und das, was sich zeigt, zu erkennen, zu verstehen, zu beurteilen und notfalls einzugreifen, in Kenntnis der Eigenart dieser Frau und ihres kommenden Kindes. Die Risikomedizin ist passiv, indem sie das Beobachten, Nachdenken und Urteilen des Mediziners zunehmend ersetzt durch Standards, die – quasi automatisch – definierte Handlungsfolgen auslösen.
Beobachtung und Aufmerksamkeit
Nicht einzugreifen, eben abzuwarten, verlangt eine Beobachtungsgabe und Aufmerksamkeit, welche die ganze Gebärende wahrnimmt. In Gesprächen mit Kolleginnen untersuchten die beiden Hebammen Nicky Leap und Billy Hunter „The Art of Midwifery“ in England vor den 40er Jahren (Leap & Hunter 1993). Viele Hebammen beklagten die technisch vermittelte Kontrolle und die regelmäßige vaginale Inspektion als Mittel, um den Geburtsfortschritt festzustellen. Wie aber stellten sie selbst damals den „Fortschritt“ fest? Elsie K. sagt: „Manchmal unter der Geburt untersuchten wir vaginal, wenn es uns schien, dass es nötig sei, aber das war selten, sehr selten. Wir hatten die Gewohnheit, ohne vaginalen Eingriff zu beurteilen, wie die Geburt vorankam. Es war tatsächlich ganz einfach, wenn du die Gebärende beobachtest. Ich meine, dass es erbärmlich ist, unnötige Inspektionen zu machen. In normalen Verläufen sollten sie wirklich nicht nötig sein, wenn du gut auf die Patientin achtest. Ich finde, man verlässt sich zu sehr auf die vaginale Kontrolle und viel zu wenig auf eigene Beobachtungen. Es kann für die Frau nicht angenehm sein, interne Untersuchungen zu haben” (Leap & Hunter 1993, S. 162; siehe Seite 37ff.).
Typisch ist hier, dass die Hebamme voraussetzen kann, dass die Zuhörerin, die ja selbst als Hebamme praktiziert, ihr das Können der Beobachtung einräumt, so dass sie darüber keine Worte verliert. Diese Art der Expertise, für welche die Hebamme selbst als Autorität steht und von der aus sie unnötige Interventionen kritisiert, kann seit der Kritik an Experten in den 80er Jahren kaum mehr eingenommen werden. In der Forderung nach Transparenz einer Wissenschaft für Laien liegt jedoch eine Illusion, die eine andere Hebamme, Margaret A., auf den Punkt bringt: „Irgendwie, auf die eine oder andere Weise, weißt du was ist, wenn du mehr Erfahrung hast. Du brauchst nur das Gesicht der Patientin anzuschauen und kannst sagen: ‚Sie ist zwei oder drei Finger breit eröffnet’. Oder: ‚Sie kommt gut voran’. Das kannst du ihr am Gesicht ablesen, aber nicht immer an der Anzahl der Wehen, die sie hat. Es gibt nie zwei gleiche … Wenn die Geburt sich über Stunden und Stunden hinzieht, dann, ja dann würden wir sie intern untersuchen, um den Grund herauszufinden, aber sonst nicht“ (Leap & Hunter 1993, 162f.).
Keine sinnliche Wahrnehmung lässt sich vollständig in Worten objektivieren und wenn man sie auf Zahlen reduziert, so fasst man nicht mehr die Wirklichkeit. Man versuche nur, den Geschmack einer Erdbeere auf den Punkt zu bringen oder in Zahlen auszudrücken. Dennoch vermag eine Aussage, wie die von Frau A., die Aufmerksamkeit zu schulen, denn die sinnliche Wahrnehmung ist nicht beliebig. Aus Sicht der Risikomedizin ist das somatische Wissen, das mit der Erfahrung kommt, nichtssagend. Nicht nur, weil diese die Wehen und den Gebärmuttermund von der Frau isoliert, sondern viel dringlicher noch, weil für die Risikomedizin das konkrete physiologische Wissen im Einzelfall nicht zählen kann. Die Eigenart einer Frau und ihres kommenden Kindes spielt dort keine Rolle. Die Risikomedizin kann daher auch nicht feststellen, ob eine Abweichung von Schwellenwerten auf eine Pathologie oder auf die Eigenart der Patientin zurückzuführen ist.
Haltungen und Handlungen
In den Interviews wird viel davon gesprochen, wie Hebammen den Frauen Erleichterung verschaffen können, damit die Geburt gut vorankommt. Dabei spielen Haltungen und Handlungen eine Rolle, die scheinbar trivial sind, aber offenbar doch bedeutsam. Zum Beispiel, dass die Hebamme Scherze macht in den Wehenpausen, dass sie die Frau ermuntert, von sich zu sprechen und ihre Wahrnehmung ohne Hemmnisse zur Sprache zu bringen. Zugleich eine Fülle konkreter Handlungen, die heute veraltet erscheinen mögen, wie das Trinken von Biber-Öl und Handgriffe, die Geburtswege von außen weich zu machen. Dann wiederum Handlungen, die auch heute gewöhnlich praktiziert werden, aber im medizinischen Sinne nebensächlich erscheinen mögen. „Ich könnte ihr noch ein warmes Bad machen“, sagt eine, „ich glaube, das hilft – du kannst es nicht wirklich beschleunigen, meine ich. Die Natur ist für sich selbst der beste Weg, aber du kannst helfen. Gewöhnlich rieb ich ihren Rücken, wenn die Kontraktionen härter waren, weil das Kind in einer posterioren Position lag. Die Frauen haben dann mehr Rückenschmerzen, nicht wahr; sehr sehr schmerzhaft, denke ich, von dem her, was sie sagen. Ja, ich darf bloß nicht nachlassen und versuchen, sie zu ermutigen, und sage ihr, dass manche Leute eben langsamere Wehen haben – darauf bedacht sein, wie du auch ihre Gedanken beruhigen kannst. Auch schaue ich darauf, dass sie zu Essen und zu Trinken bekommt“ (Leap & Hunter 1993, 165).
Bedeutsam waren die Bewegung bei der Geburt und die Position der Gebärenden im Zusammenhang mit der Kindslage. Die Hebamme Esther S. erinnert die heftigen Schmerzen, wenn die Frau liegen muss, und ihre eigene Praxis: „Wir ließen sie in den Wehen herumlaufen, und ließen sie erst kurz vor der Geburt sich hinlegen. Manchmal kriegten sie die Kinder im Stehen – ‚Komm Liebchen, komm ins Bett. Nein, man kann sich nicht ewig herumbewegen’. Das war schön, weil sie frei waren. Da gab’s diese Überwachungsfesseln nicht. Als ich eines meiner Kinder kriegte, musste ich ins Hospital wegen eines Notfalls, und sie ließen mich nicht aus dem Bett. Ich sagte, ‚das ist furchtbar. Das bringt mich um.’ Scheußlich! Festgeschraubt! Fürchterlich! Oh nein, nein, nein, du möchtest dich bewegen. Selbstverständlich. Die Natur will, dass du dich bewegst. Du gibst ihnen die Freiheit, die sie brauchen. Du hast dich dabei so erschöpft wie sie, du bist Meilen gelaufen in einer Entbindung.“ (Leap & Hunter 166ff.). Dass die Hebamme die Gebärende herumlaufen ließ, ist keine Tradition im Sinne von unreflektierter Gewohnheit, sondern hing mit ihrem Verständnis der Zusammenhänge unter der Geburt zusammen, nämlich der These, dass die Bewegungen des Kindes den Geburtsvorgang auslösen beziehungsweise vorantreiben. So erklärt es Anna Zberg: „Das Kind hat eben, es wollte nicht herunter oder ja, schlechte Wehen gehabt.“ In einer volkskundlichen Untersuchung zur Geburtshilfe im schweizerischen Lötschental stieß der Forscher auf dieselbe Auffassung: „Die Aktivität des Kindes entscheidet über die Kraft der Wehen und damit über Dauer und Verlauf der Geburt“ (Töngie 1993): Lizentiatsarbeit, S. 50, FN 24).
Alle Hebammen in den Interviews mit Leap und Hunter erzählten mit Stolz davon, wie sie durch Warten, Geduld und einen Sinn für die Eigenzeit der Geburt Dammrisse vermeiden konnten. Die Hebamme Elsie K. sagt: „Man hatte uns gelehrt, das Kind kommen zu lassen und nicht einfach das Baby aufzufangen. Wir wussten, wie das Perineum zu beachten. Es war schlimm, wenn es einen Riss gab. Wir wussten, wie das ordentlich und vorsichtig handhaben …“ (Leap & Hunter 1993, 169f.). Im Hospital hatte sie seinerzeit den Kopf etwas zu schnell entwickelt und bemerkte das bei der Beobachtung einer erfahreneren Hebamme: „und da verstand ich, dass ich viel langsamer sein musste. Geduld ist das Wichtigste in der Hebammenkunst“. Eine andere Hebamme, Elisabeth C., ergänzt: „Du brauchtest die Dinge nicht zu beschleunigen. Die Zeit war nicht eigentlich besonders wichtig. Du hast nichts beeilt. Die Zeit war die, die du brauchst. Vielleicht hat es die ganze Nacht gedauert, aber das war halt deine Zeit“ (Leap & Hunter 1993, 170).
Wieder sieht man, dass allgemeines Wissen – nicht zu schnell den Kopf des Kindes entwickeln, sonst reißt der Damm – und eine Kenntnis der Besonderheit der Geburt zusammentreffen mussten. Das „zu schnell“ lässt sich nicht in Uhrenzeitobjektivieren, sondern muss konkret im Verlauf jeder einzelnen Geburt bedacht werden. „Ich weiß ganz sicher, dass das, was für die eine Frau stimmt, für die andere ganz verkehrt sein kann und es nur sehr wenige Dinge gibt, die immer Gültigkeit haben“, schrieb mir eine Hebammenfreundin im Gespräch über die Geltung von Zahlen, Statistiken und Leitlinien. Statistische Daten und Schwellenwerte sind Aussagen, die allgemein sind und keinen Raum lassen für das Besondere.
Unterscheidungsvermögen
In der Nachgeburtsperiode befürchteten Hebammen einen unvorhergesehenen Blutsturz. Umso bemerkenswerter ist es, dass sie sich davon distanzierten, die Gebärmutter unmittelbar nach der Geburt des Kindes, etwa durch synthetisches Oxytocin, zu neuerlichen Wehen anzureizen. „Na, wir warteten ab, außer bei einer bösen Blutung. Wir warteten einfach weiter ab und dann, ja, wir fingen sie gewöhnlich auf, wenn sie rauskam. Es war kein Problem damit. Wir würden die Mutter ermutigen und sagen: ‚komm, presse mit jeder Wehe’, und damit gab es keine Schwierigkeiten. Manche brauchten länger als andere … Wir würden sie in die Klinik überweisen, wenn sie nicht heraußen war nach, na, sagen wir zwölf Stunden oder so“. (Leap & Hunter 1993, 173) Auch andere Zeuginnen berichten Ähnliches. Esther S. sagt: „Du hast einfach gewartet. Du hast nur deine Hand dort drauf gelassen, um zu prüfen, und dann, wenn du merkst, dass die Plazenta frei ist, dann, einfach … runter und raus und das war’s“ (Leap & Hunter 1993, 173).
Viele der Hebammenzeuginnen sprechen kritisch von der Hast, mit der die Nachgeburtsperiode heute intervenierend provoziert wird. Eine betont, dass es zu diesem abwartenden Handeln Erfahrung und Unterscheidungsvermögen braucht: „Als ich erfahrener wurde, lernte ich, es der Gebärenden zu überlassen, ihre dritte Phase selbst zu tun. Das fand ich viel einfacher. Du lässt sie entspannen und dann ist die dritte Phase kaum je eine mühsame Sache – außer natürlich sie blutet … aber Plazenten, die zurückbleiben, sind äußerst selten. Aus meinen über 2.200 Geburten erinnere ich noch nicht einmal ein Dutzend. Nur sehr wenige von ihnen mussten ins Krankenhaus für eine manuelle Plazentalösung, das war äußerst selten. Wir klemmten die Nabelschnur ab und schnitten sie durch, wenn sie zu pulsieren aufgehört hatte.“ (Leap & Hunter 1993, 173). Auch hier wird klar, dass es sich um keine Passivität handelt, auch wenn die Sätze der Hebammen von einer großen Bescheidenheit sind. Zu merken, wann die Plazenta frei ist, setzt voraus, ihre Bewegungen und die Bewegungen der Gebärmutter im Zusammenspiel zu kennen, und diese Kenntnis war gewiss nicht physisch-mechanisch, sondern gedanklich durchdrungenes haptisches Wissen, eben, was man somatisch nennt: eine gedanklich-sprachlich reflektierte Wahrnehmung.
„Ich habe festgestellt“, so Esther S., „dass mehr Hebammen und Ärzte im Hospital zurückbleibende Plazenten hatten als ich jemals – weil sie Syntometrin gaben, und dann musst du sie ganz schnell, ganz rasch herausbringen, bevor sie gefangen ist. Ich mag das gar nicht. Es ist eine so andere Art der Entbindung, und an der Geschwindigkeit musst du sehr arbeiten! Nein, ich schätze meine eigene, herkömmliche Weise. Gewöhnlich hattest du die Plazenta innerhalb von 20 Minuten – ein kleines Zeichen und dann dachtest du, ‚Ah! Das heißt, sie trennt sich – prima!’“ (Leap & Hunter 1993, 173f.). Woran und wie mag Esther S. dieses „Zeichen“ (a little show) erkannt haben, wohin lenkte sie ihre Aufmerksamkeit und wie lässt sich das verstehen? Kann es sein, dass die Hebamme unter den vielen verschiedenen kleinen Zeichen, die ihr die Lösung der Nachgeburt anzeigen, mit „a little show“ die „gute“ Lösungsblutung gemeint hatte in Abgrenzung zur „bösen“ Blutung?
Eine Wissenschaft, die deutet
Die Mitte der Hebammenkunst war das aktive und bewusste Abwarten, was man Besonnenheit nennt. Auf die abschließende Frage von Leap und Hunter, was die wichtigste Qualität einer Hebamme sei, kommt zur Sprache, dass es vor allem Geduld braucht, die Kunst der Geduld, das Verständnis für die Gebärende. Die alten Erzählungen bauten in ihrer Schlichtheit auf der Selbstverständlichkeit auf, dass ihre Praxis als kundiges Handeln verstanden werden konnte. Aus heutiger Sicht, da wir dieses Selbstverständnis nicht mehr haben und geneigt sind, Abwarten für passiv, also fahrlässig zu halten, klingen diese Geschichten romantisch an.
Dass die Hebammen ihre Praxis nicht abstrahieren oder weiter über das hinaus erklären, was sie offensichtlich getan haben, mag heute sogar als anstößig aufgefasst werden. Dies spricht jedoch nicht dafür, dass diese ältere Praxis unsinnig oder rückständig oder gar gefährlich war, sondern dass wir sie kaum noch verstehen können, dass sie uns nicht mehr unmittelbar einleuchtet. Wir müssen uns einen Begriff von der Natur der Geburt erst neu erdenken und Sinnzusammenhänge zwischen Beobachtungen und Vorgängen neu erforschen, und zwar vor dem Hintergrund einer doppelten Problematik: die Schwierigkeiten und Widerstände, ältere Quellen neu zu interpretieren, und die Schwierigkeit, dass die Geburt heute von Risiken her bedacht wird, von berechneten schlimmsten Ereignissen, und damit die Kenntnis über die Naturen der Geburt entwertet wird. Die Herausforderung, die Eigenart der Hebammenkunst heute zu bestimmen, läuft deshalb für mich zuerst darauf hinaus, zwei „Modelle“, zwei sich ehemals ergänzende und heute gegensätzliche Formen des Wissens und zwei heterogene Haltungen zur Natur der Geburt zu unterscheiden: das medizinische Modell, das den Frauen einen guten Geburtsverlauf kaum mehr zutraut und davon nichts versteht, und die Kunst der Hebammen, die Natur des konkreten Geburtsgeschehens diagnostisch und prognostisch erkennen zu können. Die Geburtsbegleitung ist keine „angewandte“ und keine „reine“, sondern eine exegetische Wissenschaft, nämlich eine Wissenschaft, die deutet und auslegt, und bei der Praxis und Erkennen untrennbar sind. In der Mitte dieser Wissenschaft steht das hellwache, aktive Abwarten können.
Neue Hebammenforschung
In den vergangenen Jahren hatte ich Gelegenheit, anlässlich des Masterstudiengangs zur physiologischen Geburt in Salzburg, den die italienische Hebamme Verena Schmid leitet, mit erfahrenen Hebammen darüber zu sprechen, welche Art von Forschung nötig wäre, ihre Fragen und Beobachtungen aus der Praxis eigenständig voranzubringen. Und zwar ansetzend an jenem blinden Fleck, der durch die Risikomedizin entstand und in dem viel originäres Hebammenwissen verdunkelt wurde. Aus Gesprächen, insbesondere mit Josy Kühberger, Carolina Iglesias, Sabine Schmuck und Helene Gschwend, verstand ich, dass dieses Forschen einen ungewohnten Blick einnehmen und von der Praxis her Zusammenhänge im Geburtsgeschehen neu aufarbeiten und durchdenken müsste, die durch die spezialisierte, quantifizierende Forschung getrennt werden und an Daten nicht „gesehen“ werden können. „Zum Beispiel würd’ ich wirklich gern mehr über Wehen wissen!“, schrieb mir eine Hebamme. „Für eine ‚Wehenmutter’ weiß ich wirklich wenig darüber. Über Wehendiagnostik und auch, ob es stimmt, dass sich immer erst die Wehen verändern, bevor sich die Herztöne verändern. Ich glaub schon. Und ich glaub, dass da viel, viel Wissen verloren gegangen ist, seit man den Wehenverlauf nur mehr von einem Papierstreifen abliest und nicht mehr an den Frauen … Und warum hören sich manche Wehen so ‚gut’ an und andere machen einen nervös? Diese Dinge. Und wo gehören diese Fragen hin? Doch wieder in die Medizin?“
Ich hoffe, „diese Dinge“ können in der neuen Hebammenforschung bearbeitet werden. Eine Voraussetzung dafür ist, dass die Forscherinnen etwas wissen und herausfinden wollen, was sie noch nicht „wissen“, weil es im blinden Fleck der gegenwärtigen Organisation anerkannter Medizinwissenschaft tabuisiert wurde. Dass sie also unerschrocken, mutig, mit Selbstvertrauen und besonnen ihre Beobachtungen im Wirklichen zum Ausgangspunkt nehmen.
Feinheiten und Einsichten
Sabine Schmuck, die viel von Musik versteht, begann systematisch zu erforschen, welche Feinheiten des kindlichen Herzschlages sie mit dem Hörrohr ausmachen kann und welche „Qualitäten“ der uterinen Vorgänge nicht mehr erkannt werden können, wenn allein die technische Aufzeichnung praxisleitend wird. Das geübte Ohr der erfahrenen Geburtshelferin im Verbund mit ihrer Beobachtungskunst und ihrer Wahrnehmung der Gebärenden vermag es offenbar, das feine Zusammenspiel zwischen der Wehentätigkeit der Frau und der Bewegung des kommenden Kindes äußerst genau auszumachen und die Pausen im Vorankommen der Geburt beurteilen zu können. Vor allem erlaubt das kundige Hinhören zugleich, auf die Befindlichkeit der Gebärenden aufmerksam zu sein und sie diagnostisch einzubeziehen. Hier denke ich an die kurbrandenburgische Hof-Wehemutter, die selbstbewusste Siegemundin aus dem 17. Jahrhundert, die ähnlich vom Erkenntnisvermögen ihrer Hände berichtete: „Was brauch ich sehen, weil ich es mit den Händen weiß“.
Carolina Iglesias befremdete sich am Dogma der „aktiven Leitung“ der Plazentarperiode, die heute unmittelbar nach dem Austritt des Kindes einsetzt mit dem raschen Abbinden und Trennen der Nabelschnur, der Vergabe von Syntocinon und dem Ziehen an der Nabelschnur, um die Plazenta herauszuholen. Sie beklagte, wie durch diese Eingriffe die Mutter im kostbaren Augenblick nach der Geburt nicht mit sich und dem Kind zur Ruhe kommen kann. Carolina Iglesias sichtete daraufhin sämtliche Studien und Leitlinien, welche die aktive Leitung empfehlen, und untersuchte die Begründung für diese Intervention. Sie fand, dass vorrangig das Risiko für einen Blutverlust angeführt wird und dies wiederum auf dem Vorurteil der Standardliteratur basiert, diese Periode sei „die gefährlichste Phase während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett“ und die Physiologie an und für sich defizitär (Iglesias 2013).
Der Standard der Aktivität wird mit Messungen und Vergleichen von Blutmengen begründet, obwohl sie physiologisch unbedeutend sind. Verlässt die Hebamme den Lichtkegel von Risiko und Pathologie und ist sie in der Kunst des Abwartens geübt, kommen bisher ausgeblendete Kriterien der Beurteilung und Beobachtung zu ihrem Recht. Um diese genauer zu erforschen, wandte sich Carolina Iglesias Texten früherer Geburtshelfer zu, die den Rhythmus, die Dynamik, den Sinn dieser inneren Ablösung als Teil des Geburtsgeschehens insgesamt untersuchten. Dieses weitgehend vergessene physiologische Verständnis stützte sie dann durch die Auskünfte erfahrener GeburtsmedizinerInnen heute, die eine „passive Leitung“ praktizieren und davon berichten, welche Aspekte sie in ihrer Beobachtung und Wahrnehmung der Gebärenden beachten, um das proportionale Zusammenspiel der Ablösung, Faltung und Ausscheidung „im Pulsschlag der Gebärmutter“ verstehen zu können.
Ich habe von Carolina verstanden, dass die vermeintlich passive Leitung dieser Geburtsperiode tatsächlich eine hochkonzentrierte, nachdenkliche, kundige Beobachtungskunst voraussetzt und erfordert. Sie konnte so den Befund der Statistiken und die Vermutung vieler Geburtshelferinnen, „dass Frauen in der aktiven Leitung mehr Schmerzmittel brauchen, stärker an Übelkeit leiden und einen erhöhten Blutdruck aufweisen“ und Neugeborene nach einer aktiven Leitung ein durchschnittlich niedrigeres Gewicht haben (Iglesias (2013), 18), was als „Nebeneffekte“ des Risikomanagements abgeschoben werden kann, viel grundlegender abstützen. Sie konnte plausibel machen, dass der Sinn des körperlichen Geschehens genauer verstanden und neuerlich erforscht werden muss, um ihn intelligent beobachten und die Frau gut und sicher betreuen zu können.
Josy Kühbergers Überlegungen zur Zeitspanne des Geburtsbeginns zeigen, wie wichtig es ist, jenseits der Uhrenzeit nachzudenken und zu forschen (siehe auch Seite 42ff.). „Diese Wochen sind scheinbar ein bisschen ein Stiefkind in unserer Arbeit. Es ist interessant, aber die ganze Literatur dazu beschränkt sich auf die Aufdeckung und Einordnung von Risikofaktoren“. Kundiger zu beobachten wären die physiologischen Abläufe, die dem „Beginn“ vorausgehen, wie sie beobachtet und unterstützt werden können.
In der Medizin werden die Kindsbewegungen nur gezählt als Marker für ein eventuelles Risiko. Aber die Frauen spüren viel mehr, etwa wie sie sich in den letzten Wochen in ihrer Qualität verändern, wie die Schlafphasen länger werden, wie die Kinder aufmerksamer auf Reize von außen reagieren und auf Berührung, wie sie Geburtsbewegungen üben, Schluckauf haben als Vorbereitung für die eigene Atmung. „Alles Dinge, die (…) die darüber Auskunft geben, wie es einem Kind geht. Man kann sie erfragen, beobachten und tasten und sie sind Teil der Diagnose und Prognose. Aber aufgeschrieben sind sie nicht. Wäre aber gut, damit Hebammen wissen, worauf sie achten könnten.“
Hebammenkunst an der Wegscheide
Wir stehen, so meine ich, vor einer Wiedergeburt der Hebammenkunst in einer Situation, in der diese Kunst bedroht ist. Denn erstens ist – unter der Hegemonie von Risikomedizin und unversicherbarem Risiko – die Hausgeburt vom Aussterben bedroht. Zweitens kann die Hebammenkunst als Wissenschaft von der Natur der Geburt kaum mehr verstanden werden. Während in der biologischen Grundlagenforschung die Beobachtung und Erforschung der Natur noch als Erkenntnisquelle sogar für praktische Anwendungen betrachtet wird – etwa die Photosynthese von Pflanzen oder die Flugkünste von Bienen als beispielhaft verstanden werden für Photovoltaik oder den Bau von Flugkörpern – hat die Evidenzbasierte Medizin das Verhältnis von Natur und Praxis verkehrt. Die Natur der Geburt macht als Forschungsgegenstand keinen Sinn mehr, weil die Geburt als unvollkommen aufgefasst wird und als Quelle der Erkenntnis nicht mehr zu taugen scheint.
Kein Biologe würde Bienen mit gebrochenen Flügeln als Ausgangspunkt für die Beforschung des Fliegens heranziehen. Aber die Risikomedizin hat keine Probleme damit, schlimmstmögliche Ereignisse während der Geburt als Modell heranzuziehen, um die „beste“ geburtshilfliche Praxis zu definieren. Kein Wunder, dass die Beforschung der Natur der Geburt als Erkenntnisquelle für eine sinnvolle Geburtshilfe als ein untragbares, also nicht versicherbares, Risiko erscheinen muss, während auf der anderen Seite die Beforschung der Flugkünste von Tieren, die nicht unter dem Gesichtspunkt des Risikos erfolgt, als Voraussetzung gelten kann, die Risiken des Fliegens und der technischen Praxis in den Griff zu bekommen. Der pathologische und pathologisierende Blick auf die Natur der Geburt untergräbt nicht nur die Gewissheit, dass Frauen begabt sind, Kinder zur Welt zu bringen, er beraubt Hebammen auch ihres Forschungsgegenstandes, der Natur der Geburt, und damit der Grundlage ihrer (abwartenden) Praxis.
Die Hebammenkunst steht an einer Wegscheide. Was wäre der Gegenstand ihrer Forschung und wo wäre ihr Forschungszentrum? Je nachdem, auf welche Position man sich stellt, kann man zwei Antworten auf diese Frage geben. Die erste Antwort müsste lauten, dass der Gegenstand der Hebammenwissenschaft die schlimmstmöglichen Ereignisse und ihre Prävention seien. Diese Antwort führt in die Klinik als Forschungszentrum. Die zweite Antwort würde lauten, dass der Gegenstand der Hebammenwissenschaft die Natur der Geburt ist. Sie führt in die Hausgeburten und die Geburtshäuser als Forschungszentren.
Eine Hebammenfreundin schrieb mir von der Ahnung einer Hebamme, die das erste Mal bei einer Hausgeburt half, dass neben der ganzen Verunsicherung und dem Hin und Her zwischen verschiedenen Sichtweisen, Leitlinien und Evidenzen, es noch Raum dafür geben könnte, dass es einfach geschehen darf, das Gebären-Können der Frauen: „Die Sehnsucht ist da und das lässt uns suchen und was wir finden, lässt das Vertrauen wieder wachsen“.