Prävention und Gesundheitsförderung kann sich am Verhalten oder an den Verhältnissen orientieren – das neue Präventionsgesetz bleibt bei der Verhaltensprävention. Foto: © imago/westend61
Am 10. Juli 2015 ist das neue Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention in Kraft getreten (Präventionsgesetz – PrävG). Jährlich werden nun eine halbe Milliarde Euro mehr für Vorsorgeleistungen zur Verfügung gestellt. Damit steigt der Anteil der Leistungen für Prävention an den Gesamtausgaben von 300 Milliarden Euro der gesetzlichen Krankenkassen von 0,15 auf 0,26 Prozent. Der Anteil für Prävention beträgt statt wie bisher 3,09 Euro nun 7 Euro pro Versichertem und Jahr.
Bereits 2004 hatte eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe die ersten Eckpunkte für das Gesetz vorgelegt. Dreimal scheiterte es anschließend im parlamentarischen Prozess, bevor es nun im vierten Anlauf beschlossen wurde. Dabei unterscheidet sich der aktuelle Gesetzentwurf kaum von dem der schwarzgelben Koalition, der vor zwei Jahren noch gescheitert war. Mit den Stimmen der Regierungsfraktionen CDU/CSU und SPD wurde das Gesetz nun beschlossen, während Bündnis 90/Die Grünen und Die Linken den Entwurf ablehnten. Die Linken kritisierten die mangelnde Evidenzbasierung, Bündnis 90/Die Grünen die unzureichende Einbindung der Kommunen, die für sie den Dreh- und Angelpunkt der Gesundheitsförderung darstellen.
Veränderte Bedingungen – neues Gesetz
Der demografische Wandel, die Zunahme von chronisch-degenerativen und psychischen Erkrankungen und die veränderten Anforderungen in der Arbeitswelt werden als Ausgangslage für das neue Gesetz gesehen. Die Antwort darauf ist, die Lebenswelt, in der wir leben, lernen und arbeiten, so zu gestalten, dass sie die Gesundheit unterstützt. Die gesundheitliche Prävention soll vor allem dort stattfinden, wo die Menschen sich täglich aufhalten: in Kindertagesstätten, Schulen und Betrieben. Darüber hinaus sollen die Früherkennungsuntersuchungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene weiterentwickelt und der Impfschutz verbessert werden. Die genaue Ausgestaltung des Gesetzes obliegt zu großen Teilen den Ländern, den Kommunen und dem Gemeinsamen Bundesausschuss.
Den meisten KritikerInnen geht das neue Gesetz nicht weit genug. Der frühere Berliner Gesundheitssenator Ulf Fink (CDU) meint dazu: „Wir müssen erreichen, dass die Prävention eine genauso starke Säule im deutschen Gesundheitswesen wird wie die Kuration, die Rehabilitation und die Pflege heute. Aber davon sind wir weit entfernt.“ Die wesentlichen Ziele des Präventionsgesetzes lassen sich wie folgt beschreiben:
Gesundheit unterliegt starken sozialen Einflüssen. Der Unterschied in der Lebenserwartung der niedrigsten gegenüber der höchsten sozialen Schicht beträgt durchschnittlich fünf Jahre. Die Chance (Odds Ratio) für einen Myokardinfarkt ist in der Gruppe der Menschen mit Haupt- oder Realschulabschuss ohne Ausbildung 3,4 Mal so hoch wie bei Menschen mit einem FH- oder Uni-Abschluss. Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen lasten überproportional auf Menschen des sozioökonomisch schwachen Milieus. Ein Großteil der im Gesetz vorgebrachten Änderungen zielt auf die Veränderung der Verhaltensweisen der Menschen und damit auf eine Verhaltensprävention. Wirksame politische Präventionsansätze können sich jedoch nicht ausschließlich auf das Gesundheitssystem stützen, sondern müssen Ressort übergreifend an einer „Health in all policies“-Strategie arbeiten. Bislang wurden keine Ansätze für eine Verhältnisprävention verfolgt, bei der die sozioökonomischen Verhältnisse als Determinanten der Gesundheit gesehen und zum Beispiel soziale Ungleichheiten verringert werden.
Der Präsident der Deutschen Diabetes Gesellschaft Erhard Siegel fordert konkrete Maßnahmen, wie eine tägliche Stunde Sport in der Schule oder das Verbot von nicht kindgerechter Lebensmittelwerbung. So kritisiert er beispielsweise, dass die deutsche Fußballnationalmannschaft Werbung für Coca Cola und Nutella macht. Er schlägt eine steuerliche Entlastung für gesunde Lebensmittel vor, sichere Qualitätsstandards für Schul- und Kitaverpflegungen und eine transparente Lebensmittelkennzeichnung.
Johannes Scholl und Michael Schneider vom Mannheimer Institut für Public Health geben zu bedenken, dass ein „mündiger Verbraucher“ über ausreichend Bildung und hinreichend transparente Informationen verfügen müsse, um Konsumentscheidungen treffen zu können, dass beides jedoch zurzeit nicht immer gewährleistet sei. Sie weisen den großen Investitionsunterschied hin zwischen Werbung für energiedichte, zuckerreiche Produkte und den Mitteln, die für seriöse Aufklärung aufgewendet werden. Auch sie kritisieren die nicht ausreichend transparente Lebensmittelkennzeichnung.
Die Ärzteschaft soll im Präventionsrat keine Stimme haben. Dabei nehmen die ÄrztInnen eine Schlüsselrolle in der Prävention ein. Eine Förderung der „sprechenden Medizin“, die das Gespräch mit den PatientInnen sucht und damit zu einem veränderten Lebensstil beitragen kann, sowie eine Förderung der Prävention in der Aus-, und Weiterbildung von ÄrztInnen wurden damit nicht wahrgenommen. Auch die Beteiligung von BürgerInnen sowie anderen medizinischen Berufsgruppen, wie Hebammen, ist im Präventionsrat ist nicht vorgesehen.
Darüber hinaus wird die Finanzierung der Prävention durch die gesetzlichen Krankenkassen kritisiert, da Prävention auch als gesamtgesellschaftliche Aufgabe gesehen werden kann, die nun von den gesetzlich Versicherten alleine getragen werden muss. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), eine fachliche Bundesbehörde, soll zukünftig auch aus Mitteln der Krankenkasse und nicht wie bisher aus Steuermitteln finanziert werden. Dabei ist unklar, wie die Unabhängigkeit der BZgA gegenüber den Krankenkassen gewährleistet werden soll.
Bei Neueinstellungen im Gesundheitsbereich soll der Impfschutz eine größere Rolle spielen. Eine Ablehnung der Bewerberin auf Grund eines mangelnden Impfschutzes soll demnach möglich sein. Dies betrifft auch Hebammen, die sich auf eine Anstellung im Kreißsaal bewerben. Die Präventionsmaßnahmen im Betrieb, vor allem bei Schichtarbeit, sollen verstärkt werden. Wie dies jedoch praktisch ausgestaltet wird, bleibt abzuwarten.
Der Zeitraum für die Inanspruchnahme von Hebammenhilfe nach der Geburt wurde von acht auf zwölf Wochen erweitert. Darüber hinausgehende Leistungen können wie bisher auf ärztliche Anordnung hin erfolgen (siehe Kasten). Die Anzahl der abrechenbaren Leistungen bleibt wie bisher auf 20 Leistungen in den ersten zehn Tagen und weitere 16 Leistungen in der Folgezeit beschränkt, so steht es in der Begründung des Gesetzestextes. Damit erweitert sich lediglich der Zeitraum für die Inanspruchnahme der Leistung. Eine Beratung zu Stillproblemen war jedoch auch zuvor schon in dieser Zeit abrechenbar. Der Deutsche Hebammenverband (DHV) befürchtet, dass die Nennung der Leistungsmenge in der Begründung des Gesetzestextes auf Grund der schriftlichen Fixierung einen Einfluss auf zukünftige Verhandlungen mit den gesetzlichen Krankenkassen nehmen könnte und sieht hier einen Eingriff in die Selbstverwaltung der Hebammenverbände mit den gesetzlichen Krankenkassen.
Nicht viel. Der Bundesrat kritisiert, dass die Gesundheitsförderungspotenziale insbesondere während des Zeitraums vor und nach einer Geburt zu wenig berücksichtigt worden seien. Er begründet, dass in keiner anderen Lebensphase das Lebensumfeld und der Lebensstil so nachhaltig auf die spätere Gesundheit von Kind, Mutter und Familie wirken, wie in der Schwangerschaft und dem ersten Lebensjahr des Kindes. Die Maßnahmen des neuen Präventionsgesetzes um den Zeitraum der Geburt beschränken sich auf die kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen, die Erweiterungen des Zeitraums für Hebammenleistungen sowie eine Zusammenarbeit mit IN FORM, einer Initiative für gesunde Ernährung und mehr Bewegung der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung. Die Möglichkeit der Gesundheitsförderung in der ganzen Familie in dieser sensiblen Zeit sei somit schlichtweg verpasst worden. Dies kritisierte auch der Deutsche Hebammenverband (DHV) in einer Stellungnahme zum Gesetzentwurf.
In der Zielsetzung des Gesetzestextes heißt es, dass die Eigenkompetenz der Versicherten gestärkt werden und die Leistungen der Krankenkassen geschlechtsspezifischen Besonderheiten Rechnung tragen sollten. Für diese aus Hebammenperspektive zentralen Eckpunkte lassen sich jedoch keine konkreten Maßnahmen finden. Als Evaluation dient lediglich der von der nationalen Präventionskonferenz zu erstellende Bericht über die Entwicklungen. Die Evidenzbasierung, die in der Medizin eine nicht mehr wegzudenkende Rolle spielt und die die Wirksamkeit von medizinischen Maßnahmen überprüft, hat das neue Präventionsgesetz leider nicht erreicht. Weder wurde in den beschlossenen Maßnahmen darauf geachtet noch ist eine echte Evaluierung der beschlossenen Maßnahmen vorgesehen. Die Wirksamkeit des neuen Präventionsgesetzes bleibt damit im Dunkeln.
Dr. Angelica Ensel: Welche Möglichkeiten haben Hebammen, im Rahmen des Präventionsgesetzes Aktivitäten zu entwickeln?
>>Mirjam Peters: Das neue Gesetzt sieht lediglich vor, die Rahmenbedingungen zu verändern. Die genaue Ausgestaltung obliegt den Krankenkassen und den einzelnen Ländern und Kommunen. Es bleibt abzuwarten, welche Veränderungen es auf dieser Ebene geben wird. Ob eine Krankenkasse ein Projekt initiieren wird, an dem Hebammen beteiligt oder vielleicht schon dabei sind, ist mir nicht bekannt. Sicherlich wären auch hier Studien hilfreich, die die Wirksamkeit einer bestimmten Intervention der Hebammen im Präventionsbereich zeigen könnten. Diese sind jedoch in der Regel sehr aufwändig.
Stellungnahme des Deutschen Hebammenverbandes: https://www.hebammenverband.de/aktuell/pressemitteilungen/pressemitteilung-detail/datum/2015/04/22/artikel/das-praeventionsgesetz-darf-nicht-in-die-selbstverwaltung-eingreifen/
Gerst Th.: Prävention: Mit gutem Beispiel vorangehen. Dtsch Arztebl 2015. 112 (26): A-1153 / B-965 / C-937
Scholl J, Schneider M: Gesundheitspolitik: Gesundheitsförderung und Prävention weiterdenken.
Dtsch Arztebl 2015; 112(44): A-1830 / B-1511 / C-1475
Strategic Review of Health Inequalities in England: The Marmot Review – Fair Society Healthy Lives. Statistics Britain 2010