Fünf Jahre haben rund 40 Personen unterschiedlicher Professionen der wichtigsten Fachgesellschaften gebraucht, um die erste Leitlinie zur Förderung der physiologischen Geburt auf hohem Niveau zu erarbeiten. Sie beinhaltet Empfehlungen, die »möglichst frei von berufspolitischen, finanziellen und institutionellen Interessen sind« (DGGG & DGHWi, 2020).
Trotz der hohen Relevanz und Qualität dieser Leitlinie wird deren Umsetzung in der klinischen Praxis oft zögerlich angegangen. Kontroverse Ansichten zeigten sich und reichten von Aussagen wie »Revolution der Geburtshilfe auf dem Weg zur selbstbestimmten Geburt«, über Angst und Panik vor allzu großen Veränderungen oder Haftpflicht bis hin zu heftiger Kritik oder gar Ignoranz der Leitlinie.
Im persönlichen Austausch berichten sowohl ärztliche als auch Hebammen-Kolleg:innen, dass das weitere Prozedere im klinischen Alltag häufig auf der Basis von »Das haben wir schon immer so gemacht« festgelegt wird. Oder: »Im Kreißsaal werden viele Entscheidungen nicht evidenzbasiert gefällt, sondern […] aus persönlichen Erfahrungen heraus.« (Drexelius, 2021) Dies ist auch in der intra- und interdisziplinären Zusammenarbeit bei der Erarbeitung der betreffenden Leitlinie deutlich geworden: Stellenweise werden tradierte Maßnahmen unreflektiert und unter Verzicht einer wissenschaftlichen Grundlage über Generationen weitergegeben (DGGG & DGHWI, 2020).
Die hierarchische Geburtshilfe
Die Geburtshilfe im deutschsprachigen Raum ist traditionell durch eine hierarchische Struktur geprägt, in der ärztliche Autorität und Entscheidungsfreiheit eine zentrale Rolle spielen. Dies trotz der Tatsache, dass Ärzt:innen in Deutschland zu jeder Geburt eine Hebamme hinzuziehen müssen.
Neues Wissen und Behandlungsalternativen erhalten nur schwer Eingang in die Praxis (Nothacker, 2013). Dadurch kann kognitive Dissonanz entstehen, insbesondere wenn man entgegen modernerer Alternativen an Altbewährtem festhalten möchte oder muss. Einmal getroffenen Entscheidungen sind äußerst resistent gegen Veränderungen (Nothacker, 2013). Vertraute Handlungsweisen scheinen Sicherheit und Halt im verantwortungsvollen und forensisch unsicheren Arbeitsumfeld der Geburtshilfe zu geben. »Je mehr wir gelernt haben, dass Gefahr an vielen Stellen lauern kann, umso wahrscheinlicher sehen wir auch dort Gefahren, wo keine sind« (Drexelius, 2021). Unwissenheit durch fehlende oder einseitige Fortbildungen könnten die Einbettung von Evidenz zusätzlich erschweren.
Obwohl evidenzbasierte Praktiken einen klaren Nutzen für die Sicherheit und das Wohlbefinden von Mutter und Kind haben, gibt es oft erhebliche Widerstände gegen Veränderungen in etablierten klinischen Prozessen.
Widerstände gegen evidenzbasierte Betreuung
Auch wenn bereits mehr als 20 Jahre seit der Entwicklung und Einführung des Konzepts der evidenzbasierten Betreuung vergangen sind, gibt es im Gesundheitswesen nach wie vor Widerstände dagegen (Schwarz & Stahl, 2013). Die Gründe dafür sind unterschiedlich (Schwarz & Stahl, 2013) und werden im intra- und interdisziplinären Austausch deutlich.
»Eminenz statt Evidenz« scheint in der Geburtshilfe im deutschsprachigen Raum das vorherrschende Betreuungskonzept zu sein, das heißt es wird häufig nicht evidenz-, sondern eminenzbasiert gearbeitet, was als scherzhafte Bezeichnung für eine Handlung auf Basis einer Expert:innenmeinung verstanden wird (Ostendorf, 2015). Dabei kann eminenzbasiert kritisch oder neutral gemeint sein (Hinneburg, 2019). Kritisch, wenn sich eine Fachperson Kraft ihrer Autorität über eine Handlungsempfehlung hinwegsetzt. Neutral, wenn es keine gute Studien- oder Datenlage zu einer Fragestellung gibt (Ostendorf, 2015).
In der Praxis fällt auf, wie weit wir von einer evidenzbasierten Gesundheitsversorgung entfernt sind, bei der Patient:innen nur Behandlungen und diagnostische Maßnahmen erhalten, die ihnen nachweislich mehr nützen als schaden, und welchen Anteil die medizinischen Fachgesellschaften daran haben (Hinneburg, 2019).
Man muss keiner Verschwörungstheorie anhängen, um hier ein Muster zu erkennen: Studien, die den eigenen Glaubenssätzen oder profitablen Praktiken widersprechen, werden schlechtgeredet. Die Argumente sind dabei so fadenscheinig, dass man nicht lange nachforschen muss, um sie zu widerlegen (Hinneburg, 2019). Dabei ist es empirisch erwiesen, dass die Einhaltung von Leitlinien die Ergebnisse für die Patient:innen verbessert (Murad, 2017).
Neben der Eminenz kann auch die persönliche Überzeugung ein Problem und einen Widerstand gegenüber einer evidenzbasierten Medizin (EbM) darstellen (Schwarz & Stahl, 2013). So erfordert evidenzbasiertes Arbeiten die Bereitschaft, mit eigenen Überzeugungen zu brechen, wenn diese nicht den bestmöglichen Betreuungsansatz für die Gebärende darstellen. Die Fähigkeit, sein eigenes Handeln und das der Kolleg:innen jederzeit kritisch zu hinterfragen, und die Erkenntnis, dass persönliche Überzeugungen falsch sein können, sind hierfür unabdingbar (Schwarz & Stahl, 2013). Wer sich seinen Alltag gut eingerichtet hat, zufrieden ist und Anerkennung für seine Arbeit erhält, wird zunächst keinen Gewinn in einer Veränderung sehen oder sehen wollen (Schwarz & Stahl, 2013). »Das Infragestellen der eigenen Arbeit (durch sich selbst oder andere) kann durchaus als Bedrohung empfunden werden und Widerstand hervorrufen.« (Schwarz & Stahl, 2013)
Dies hat auch die Gesetzgebung erkannt: In allen Berufsgesetzen und im § 95d des fünften Sozialgesetzbuches ist niedergeschrieben, dass medizinisches Fachpersonal die gesetzliche und ethische Pflicht hat, sich regelmäßig fortzubilden (DHV, o. J.).
Das evidenzbasierte Arbeiten kann ein Ausweg sein für Hebammen, die es stört, »dass sie ständig damit beschäftigt sind, die Folgen unnötiger, beunruhigender und meist falscher Verdachtsdiagnosen auszubügeln« (Schwarz & Stahl, 2013). In der Öffentlichkeit wird von allen Seiten suggeriert, »dass ein ›sicherer‹ Verlauf von Schwangerschaft und Geburt mit den Mitteln der modernen Medizin herbeigeführt und ein gesundes Kind garantiert werden kann« (Schwarz & Stahl, 2013).
Aber anstatt falsche Sicherheit vorzugaukeln und die Mittel der Geburtsmedizin als Schwangerschaftsversicherung zu verkaufen (und sich das in Form sinkenden Selbstvertrauens und abnehmender Eigenverantwortlichkeit von den Frauen bezahlen zu lassen), ist es sehr viel sinnvoller, die Frauen zu stärken und sie zu unterstützen, mit ihrer Unsicherheit umgehen zu lernen und Vertrauen zu gewinnen (Schwarz & Stahl, 2013).
Frau und Kind im Fokus
Die Leitlinie »Vaginale Geburt am Termin« stellt die Frau in den Mittelpunkt und sichert ihr die Entscheidungshoheit mit permanentem Anspruch auf adäquate Aufklärung und Beratung zu, mit der Möglichkeit, sich jederzeit anders entscheiden zu können (Buschmann, o. J.). Dies ermöglicht »Frauen eine der Situation angepasste, selbstbestimmte Geburt« (DGGG & DGHWI, 2020).
Allen Akteur:innen rund um die Geburt muss klar sein, welchen Einfluss sie auf die (werdende) Familie haben: »Die Geburt bleibt ein wesentlicher Augenblick in unserem Leben und dies betrifft nicht nur das Kind, dessen Leben von seiner Geburt beeinflusst werden kann. Auch für die werdende Mutter, den werdenden Vater und deren Familien ist dieser Augenblick ein lebensverändernder Moment. Jeder Einfluss, den Hebammen und Ärzt:innen in dieser Phase als geburtshilfliche Akteur:innen nehmen, hat das Potenzial, kurz- oder langfristig auf die Gesundheit der Frau oder des Kindes, aber auch auf die Väter und gegebenenfalls auf die Familie und die Gesellschaft Einfluss zu nehmen.« (DGGG & DGHWI, 2020) Ziel der Geburtshilfe muss es sein, den Frauen und Familien eine der Situation angepasste, selbstbestimmte Geburt zu ermöglichen.
Die Studie
Um die Herausforderungen und Ressourcen bei der Implementierung evidenzbasierter Praktiken in der Geburtshilfe im deutschsprachigen Raum zu beleuchten, dient die eigene Masterarbeit »Die S3-Leitlinie ›Vaginale Geburt am Termin‹: Herausforderungen und Ressourcen bei der Implementierung im klinischen Setting aus Sicht von Hebammen und GeburtshelferInnen im deutschsprachigen Raum« vom Dezember 2021 im Studiengang Advanced Practice Midwifery an der fhg gesundheit in Innsbruck, Österreich. Sie untersucht die interprofessionellen Perspektiven von Hebammen und (Fach-)Ärzt:innen für Gynäkologie und Geburtshilfe.
Datenlage
Um die Ist-Situation zur Anwendung von evidenzbasierter Medizin in der Geburtshilfe zu erfassen, wurde in der Masterarbeit eine systematische Literaturrecherche durchgeführt. Sie umfasst Studien zur Implementierung von Leitlinien sowie Arbeiten zu interprofessionellen Dynamiken in der Geburtshilfe.
Der empirische Teil der Studie basiert auf einer prävalenzorientierten Analyse durch Fragebögen, die quantitative und qualitative Daten erhoben. Diese Fragebögen wurden von April bis Juni 2021, also vier bis sechs Monate nach der Veröffentlichung der Leitlinie, mittels Einladungs-E-Mail und Facebook-Gruppen mit rund 4.800 Mitgliedern unterschiedlicher Arbeitsschwerpunkte an Hebammen und ärztliche Geburtshelfer:innen im deutschsprachigen Raum verteilt, um die klinische Ist-Situation zu erfassen und förderliche sowie hinderliche Faktoren bei der Implementierung der Leitlinie zu identifizieren. Eingeschlossen wurden jedoch nur Antworten von klinisch tätigen Hebammen und (Fach-) Ärzt:innen für Gynäkologie und Geburtshilfe.
Quantitative Ergebnisse
Die quantitativen Daten zeigen, dass die Mehrheit der Befragten die Leitlinie im Schadensfall als relevant einschätzt und grundlegende Kenntnisse über deren Inhalte besitzt. Es gibt jedoch Unterschiede in der Umsetzung der Empfehlungen zwischen Hebammen und ärztlichen Geburtshelfer:innen. Während einige bereit wären, die Leitlinie umzusetzen, wenn sie allein entscheiden könnten, gibt es bei anderen auch signifikante Bedenken und Herausforderungen hinsichtlich der praktischen Umsetzung.
Die größte Bereitschaft zur Umsetzung besteht in der allgemeinen Betreuung sowie in der Austritts- und Nachgeburtsphase.
Gleichzeitig zeigt sich jedoch eine signifikante Diskrepanz zwischen dem theoretischen Wissen über die Leitlinie und ihrer praktischen Anwendung. Besonders in Bereichen wie Monitoring und Interventionsstrategien besteht eine niedrige Bereitschaft zur Umsetzung der Leitlinienempfehlungen.
Dazu schrieb eine Hebamme im Fragebogen der Studie (Q46H94): »Keine Bereitschaft zur Umsetzung im Team, viele haben die Leitlinie nicht mal gelesen – Ärzte reproduzieren Meinung des CA [Anm.: Chefarztes/Chefärztin], ohne die Aussagen zu prüfen – Evidenz wird angezweifelt – Angst vor forensischen Problemen, insbesondere bei Holzrohr – Unglaubliche Defizite in CTG-Interpretation – Schlechte Ausbildung der Ärzte fördert Wunsch nach Kontrolle – Irrglaube, die Leitlinie beträfe nur ›regelrechte‹ Geburten, somit schnelle Ablehnung bei kleinster Abweichung vom Normalen.«
Qualitative Ergebnisse
Die qualitativen Daten offenbaren spezifische Herausforderungen bei der Implementierung der Leitlinie, darunter:
- Widerstände gegen Veränderungen
- Angst vor Scham bei möglichen Behandlungsfehlern bei Abweichungen vom Gewohnten
- Angst vor Haftpflicht
- Mangelnde interdisziplinäre Zusammenarbeit
- Unterschiedliche Sichtweisen und Ausbildungshintergründe von Hebammen und ärztlichen Geburtshelfer:innen.
Als förderliche Faktoren wurden identifiziert:
- Gute Zusammenarbeit im Team
- Unterstützung durch evidenzbasierte Praxis
- Positive Einstellungen gegenüber kontinuierlicher Fortbildung und professioneller Entwicklung
- Hebammen allgemein: Sie spielen aufgrund ihrer ganzheitlichen Herangehensweise eine zentrale Rolle bei der Förderung der Leitlinie.
- Intrinsische Motivation: Viele Fachkräfte sind motiviert, die beste Betreuung für Mutter und Kind zu bieten.
- Einigkeit im Team: Ein starkes Teamgefühl kann die Umsetzung der Leitlinie erleichtern.
- Zusätzliche Personalressourcen: Mehr Personal kann die Einhaltung der Leitlinienempfehlungen unterstützen.
- Die Leitlinie selbst: Sie dient als wichtige Argumentationsgrundlage für notwendige Veränderungen.
Zentrale Herausforderungen:
- Ignoranz gegenüber der Leitlinie: Viele Fachkräfte ignorieren die Leitlinie aufgrund mangelnden Wissens oder bewusster Ablehnung auf Basis von »Das haben wir schon immer so gemacht.«
- Fehlende Möglichkeit zur Eins-zu-eins-Betreuung: Strukturelle Rahmenbedingungen erlauben oft keine individuelle Betreuung, die für die Umsetzung vieler Leitlinienempfehlungen notwendig wäre.
- Forensische Unsicherheit: Die Angst vor rechtlichen Konsequenzen bei Abweichungen von etablierten Praktiken stellt ein erhebliches Hindernis dar.
Hinderliche Faktoren:
Die qualitativen Daten verdeutlichen, dass der Theorie-Praxis-Transfer durch mangelnde Ressourcen, unzureichende interdisziplinäre Kommunikation und institutionelle Widerstände erschwert ist. Ein großer Faktor ist die Abhängigkeit von der ärztlichen Behandlungsfreiheit und die daraus resultierende hierarchische Struktur. Diese stellt eine erhebliche Barriere für die Implementierung der Leitlinie dar. Hebammen berichten, dass ärztliche Anordnungen oder hausinterne Standards oft Vorrang vor evidenzbasierten Empfehlungen haben, was zu Frustration und Unsicherheit im beruflichen Alltag führt.
Ein Kernstück des ärztlichen Berufes wie auch des Hebammenberufes ist die Therapiefreiheit. Limitiert wird die ärztliche Therapiefreiheit jedoch zum Beispiel durch das Kassenarztrecht, also eine Einschränkung durch das Wirtschaftlichkeitsgebot, oder das Strafgesetzbuch, das Ärzt:innen zum Beispiel die Durchführung einer Interruptio verbietet, falls die Voraussetzungen des § 218a StGB (Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs) nicht vorliegen.
Wichtig ist im Zusammenhang mit der Therapiefreiheit zudem, dass Ärzt:innen den »medizinischen Standard« einzuhalten haben, da sie sich ansonsten haftpflichtig machen können (Frahm, 2005).
Der Patient:innenwille ist zwingend zu beachten. Darüber dürfen sich Ärzt:innen nicht oder nur ganz ausnahmsweise hinwegsetzen (Frahm, 2005), zum Beispiel in einer Notfallsituation, die keinen Aufschub duldet, um Gesundheits- oder Lebensgefahr abzuwenden (Erhard, 2015).
Diskussion
Die Diskussion der Ergebnisse hebt hervor, dass die erfolgreiche Implementierung der S3-Leitlinie »Vaginale Geburt am Termin« eine komplexe Herausforderung darstellt, die sowohl strukturelle als auch kulturelle Veränderungen in der Geburtshilfe erfordert. Um die Leitlinie effektiv umzusetzen, sind eine stärkere Integration evidenzbasierter Praktiken und eine verbesserte Kommunikation zwischen den verschiedenen Berufsgruppen notwendig. Die Untersuchung zeigt, dass Hebammen grundsätzlich bereit sind, die Leitlinie zu implementieren, jedoch häufig an systemischen Barrieren scheitern.
Zwischen der Veröffentlichung der Leitlinie »Vaginale Geburt am Termin« und der Datenerhebung in der Masterarbeit lagen lediglich vier bis sechs Monate. Darüber hinaus wurde die Leitlinie inmitten der zweiten Infektionswelle der COVID-19-Pandemie herausgegeben. Sowohl die Veröffentlichung der Leitlinie als auch die Datenerhebung fanden in einer Zeit statt, in der andere Themen als wichtiger empfunden worden sein könnten als die Implementierung einer geburtshilflichen Leitlinie.
Schlussfolgerungen und Empfehlungen
Auf Basis der 2021/2022 vorgestellten Masterarbeit sowie der Erfahrung nach fast vier Jahren mit der vorliegenden Leitlinie lassen sich Schlüsse ziehen und Empfehlungen entwickeln.
- Förderung einer evidenzbasierten Kultur: Es muss eine Kultur geschaffen werden, in der evidenzbasierte Praktiken als Standard gelten.
- Schaffung von Fortbildungsmöglichkeiten: Regelmäßige Schulungen und Weiterbildungen für Hebammen und ärztliche Geburtshelfer:innen sind notwendig, um die Leitlinie zu verankern.
- Verbesserung der interdisziplinären Zusammenarbeit: Eine bessere Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen Hebammen und ärztlichen Geburtshelfer:innen ist entscheidend für die erfolgreiche Umsetzung der Leitlinie.
- Bereitstellung ausreichender Ressourcen: Mehr Personal und eine Anpassung der strukturellen Rahmenbedingungen sind notwendig, um die Empfehlungen der Leitlinie umsetzen zu können.
- Förderung der Selbstbestimmung der Frauen: Die Stärkung der Selbstbestimmung und der Eigenverantwortung der schwangeren und gebärenden Frauen kann die Akzeptanz und die Umsetzung der Leitlinie fördern.
Lösungsansätze
Um die Herausforderungen bei der Implementierung der S3-Leitlinie zu überwinden, sind mehrere Strategien erforderlich.
Förderung der interdisziplinären Zusammenarbeit:
- Teamtraining: Regelmäßige Schulungen und Workshops für Hebammen und Ärzt:innen können das Verständnis und die Akzeptanz evidenzbasierter Praktiken fördern.
- Kommunikationsförderung: Die Etablierung offener Kommunikationskanäle kann helfen, Missverständnisse und Spannungen zwischen den Berufsgruppen abzubauen.
Stärkung der Autonomie der Hebammen:
- Klare Verantwortungsbereiche: Im Rahmen einer hebammengeleiteten Geburtshilfe kann die Definition klarer Verantwortungsbereiche die Autonomie und Entscheidungsfähigkeit von Hebammen stärken, zum Beispiel im Hebammenkreißsaal.
- Anerkennung der Hebamme als die kompetente Fachperson für Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett.
- Unterstützung durch Leitlinien: Die S3-Leitlinie sollte als verbindliche Grundlage dienen, um evidenzbasierte Entscheidungen zu unterstützen und zu legitimieren.
Verbesserung des Theorie- Praxis-Transfers:
- Fortbildungsangebote: Regelmäßige Fortbildungen und Schulungen sollten angeboten werden, um Hebammen und ärztliche Geburtshelfer:innen auf dem neuesten Stand der Wissenschaft zu halten.
- Praxisnahe Schulung: Simulationen und praxisnahe Trainings können helfen, theoretisches Wissen effektiv in die Praxis zu übertragen.
- Ressourcenbereitstellung: Die Bereitstellung ausreichender Personal- und Zeitressourcen ist notwendig, um die Umsetzung der Leitlinien zu ermöglichen.
Kultureller Wandel:
- Förderung einer evidenzbasierten Kultur: Eine Kultur, die evidenzbasierte Medizin als Standard akzeptiert, muss gefördert werden. Dies erfordert ein Umdenken auf allen Ebenen der Krankenhausorganisation.
- Geburt als normales Ereignis: Es geht um die Etablierung einer Haltung weg vom risikobasierten Ansatz hin zur Förderung und Fokussierung auf die Physiologie.
- Anerkennung der Rolle der Hebammen: Die wertvolle Rolle der Hebammen in der Geburtshilfe muss anerkannt und respektiert werden, um ihre Motivation und ihr Engagement zu stärken.
Weiterer Forschungsbedarf
Es ist notwendig, langfristige Studien durchzuführen, um die Auswirkungen der Implementierung der Leitlinie auf die Geburtshilfe und die Gesundheit von Mutter und Kind zu untersuchen. Zukünftige Studien sollten stärker auf die Praxisorientierung und die Einbeziehung der Perspektiven aller Beteiligten fokussieren, um eine umfassende Implementierungsstrategie entwickeln zu können. Darüber hinaus ist es essenziell, Bereiche mit unzureichender Datenlage zu beforschen, um die Leitlinie weiterzuentwickeln.
Offen ist, wie Gutachter:innen die Leitlinie »Vaginale Geburt am Termin« bewerten, was Hebammen und ärztlichen Geburtshelfer:innen Sicherheit bei der Anwendung der Empfehlungen verschaffen würde und welchen Einfluss gut aufgeklärte und informierte Gebärende auf die Umsetzung von Leitlinien haben können.
In weiterer Forschung sollte geklärt werden, ob die Wiedererlangung der Hebammenautonomie in ihren vorbehaltenen Tätigkeitsbereichen bei der Implementierung förderlich sein könnte und wie sich die Anerkennung der Latenzphase in Bezug auf die Sectiorate auswirken würde, insbesondere ohne Indikationsstellung eines Geburtsstillstandes unter 6 cm Muttermundseröffnung, wie in der Leitlinie beschrieben.
Interessant wäre darüber hinaus, ob eine Loslösung der Personalkosten vom DRG-System zu einer höheren Personalausstattung beitragen könnte und so insbesondere Einfluss auf die Implementierung derjenigen Empfehlungen hätte, die eine Eins-zu-eins-Betreuung voraussetzen. Verbesserungspotenzial gäbe es aktuell in den Umstrukturierungsmaßnahmen der Bundesregierung im Gesundheitssystem mehr als genug.
Fazit
Die Implementierung der S3-Leitlinie »Vaginale Geburt am Termin« erfordert umfassende strukturelle und kulturelle Veränderungen in der Geburtshilfe. Die Abhängigkeit von der ärztlichen Behandlungsfreiheit und die Schwerfälligkeit des Theorie-Praxis-Transfers stellen erhebliche Barrieren dar, die durch gezielte Maßnahmen überwunden werden können. Interdisziplinäre Zusammenarbeit, die Stärkung der Hebammenautonomie, praxisnahe Schulungen und ein kultureller Wandel hin zu evidenzbasierter Medizin sind essenziell, um die Qualität und Sicherheit der geburtshilflichen Versorgung zu verbessern.
Durch die Umsetzung dieser Strategien können Hebammen und ärztliche Geburtshelfer:innen gemeinsam dazu beitragen, die S3-Leitlinie effektiv in die Praxis zu integrieren und somit die bestmögliche Betreuung für Mutter und Kind zu gewährleisten. Es ist notwendig, dass alle Beteiligten ihre Rollen und Verantwortlichkeiten neu definieren und gemeinsam an einem Ziel arbeiten: die Förderung einer evidenzbasierten Geburtshilfe mit Frau und Kind im Fokus.
Evidenz in Kombination mit Erfahrungswissen sollte die geburtshilfliche Betreuung leiten mit dem Fokus auf Mutter und Kind, unabhängig von persönlichen Meinungen, berufspolitischen, monetären und institutionellen Interessen!