Im Sommer 2015 hat ein Paar die Erstberatung der Hebamme und Trauerbegleiterin Ursula Burren von der Frauenklinik in Bern in Anspruch genommen. Die beispielhafte Geschichte zeigt die Arbeitsweise und den Wert der Trauerbegleitung. Die verwaisten Eltern sind überzeugt: Hätte es das Angebot nicht gegeben, würde heute ihr verstorbener Sohn Ryan in ihrer Erinnerung nicht existieren.

Sina und Jens durchlebten in den vergangenen Jahren ein Auf und Ab zwischen Hoffnung und Verlust (Namen von der Redaktion geändert). Für sie war der Familienwunsch allgegenwärtig. So sehr, dass sich das Paar nach einer ungünstigen Prognose im Kinderwunschzentrum entschloss, es mit In-vitro-Befruchtung (IVF) zu versuchen. Keine einfache Entscheidung: Vor jeder IVF-Behandlung hat sich das Paar jeweils die Frage erneut gestellt, ob ein weiterer Versuch stattfinden soll. Schließlich wurde Sina durch Stimulation viermal schwanger. Alle diese Kinder verstarben noch vor der zwölften Schwangerschaftswoche. Einmal wurde Sina erst gar nicht schwanger. Nach der fünften IVF beschlossen Sina und Jens, sich in ihr Schicksal zu fügen. Sie waren bereit, zu akzeptieren, dass sie kinderlos bleiben würden.

Jeder einzelne Verlust hat in Sina eine Narbe hinterlassen. „Im Rahmen der IVF fühlte ich mich auf mich alleine gestellt. Niemand hat je gefragt, ob ich mit den Verlusten umgehen kann. Nicht einmal ich mich selbst“, sagt sie. „Mir hat die Unterstützung gefehlt. Dabei habe ich mich zunehmend müde und erschöpft gefühlt. Doch zu diesem Zeitpunkt war mir noch nicht bewusst, dass ich still und unbewusst um meine verstorbenen Kinder trauern würde.“

Vier Wochen nach dem letzten Abort wurde Sina spontan mit Ryan schwanger. Bereits in der zehnten Schwangerschaftswoche zeigten sich erste Fehlbildungen. Für Sina und Jens kam ein Schwangerschaftsabbruch nicht in Frage. Für sie war immer klar, dass sie auch ein behindertes Kind akzeptieren würden. Die Fruchtwasserpunktion gab Gewissheit: Ryan hatte eine Trisomie 18 und multiple Fehlbildungen. Nun war klar, dass ihr Kind nicht überleben würde. Für Sina ein Schock. In dem Moment wollte sie alles so rasch wie möglich hinter sich bringen und wieder ein normales Leben führen dürfen. Bereits während des Ultraschalls wurde Sina empfohlen, Kontakt zu Ursula Burren aufzunehmen. Die Lebens- und Trauerbegleiterin der Frauenklinik am Universitätsspital Bern könne sie beraten und eine wertvolle Unterstützung in dieser schweren Zeit sein. Sina wunderte sich: Wozu brauchte sie eine Trauerbegleiterin?

Warum sie trotz der Vorbehalte Ursula Burren noch am selben Abend kontaktierte, kann Sina heute nicht erklären. „Ich war fest der Meinung, dass mir die Trauerbegleiterin nicht weiterhelfen könne, und sie mir höchstens sagen würde, was ich tun soll.“ – Ein Gedanke, den Sina zum Erstgespräch mitnahm. Ursula und Sina trafen sich am nächsten Tag.

Ursula Burren hörte zu und spürte Sinas Versuch, den ungeborenen Ryan möglichst auf Distanz zu halten. Die Trauerbegleiterin griff dieses Thema auf, indem sie Sina aufzeigte, dass Ryan ihr Kind sei und es immer bleiben würde. Für Sina eine Offenbarung. Mit der Akzeptanz, dass sie Mutter von Ryan sei und eine Beziehung zu diesem Kind haben dürfe, eröffneten sich ihr neue Wege. Ursula Burren spürte den Rollenwechsel von Sina noch während des Gesprächs. Nun konnte sie ihr die Möglichkeiten aufzeigen.

Im Gespräch stand Sina wiederholt vor der Frage, wie es weitergehen soll. Will sie das Kind austragen? Soll sie die Schwangerschaft abbrechen? Sina war verzweifelt und sah keinen Weg. Sie hatte nach wie vor das Gefühl, sich möglichst rasch für ein Prozedere entscheiden zu müssen. Ursula Burren konnte in dem Moment nachvollziehen, unter welchem Druck Sina stehen würde und begann mit der Entschleunigung, indem sie Sina aufzeigte, dass keine Eile drohe. Sie ließ Sina weitererzählen.

Sina beschrieb ihre Zerrissenheit. Sie konnte sich nicht vorstellen, die Schwangerschaft weiterzuführen und täglich auf Ryans Tod zu warten. Andererseits war es für sie unvorstellbar, wider die Natur die Schwangerschaft abzubrechen und Ryans Leben zu verkürzen. „Nehmen Sie sich Zeit“, empfahl ihr daraufhin Ursula Burren, „entscheiden Sie sich in den nächsten Tagen für einen Weg und beobachten Sie, wie es Ihnen dabei geht. Und überlegen Sie sich, wie Sie sich von Ihrem Kind verabschieden möchten.“ Dabei solle sie auch Großeltern, Geschwister, Angehörige und Freunde mit in den Abschieds- und Trauerprozess einbeziehen.

Sina und Jens gingen nach Hause. Wider jede Erwartung fühlte sich Sina zum ersten Mal in ihrer Geburtsgeschichte nicht allein. Sie spürte Verständnis – kein Mitleid, sondern Mitgefühl. Sina durfte nun Mutter sein, Jens Vater. Sie durften trauern und die Zeit mit Ryan genießen. Sina und Jens hatten eine Telefonnummer in der Tasche, unter der sie jederzeit Unterstützung erhalten konnten. Und es kamen erste Ideen auf, wie sie sich von ihrem Kind verabschieden könnten.

Sina und Jens entschlossen sich schließlich, schweren Herzens, die Schwangerschaft abzubrechen. Sie organsierten eine Abschiedsfeier für Ryan. 20 Personen inklusive Ursula Burren nahmen daran teil. Die Trauerfamilie gab Ryan Wünsche mit auf seinen Weg. „Ryan ist Teil unserer Familie geworden“, sagt Sina.

Ryan wurde in einem von Sina und Jens bemalten Sarg beigesetzt: Ein Prinz stand auf einem Regenbogen und lächelte allen zu. Er war umgeben von Herzen.

Für Sina war die Beteiligung der Verwandten und Bekannten, aber auch der Beistand der Trauerbegleiterin, eine wichtige Unterstützung. Sie konnte sich nicht vorstellen, diesen Moment allein durchzustehen. Sie sagt: „Wir haben gemeinsam geweint und gelacht. Es ist so traurig und doch so schön.“

Zitiervorlage
Hugentobler M: “Ein Teil der Familie”. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2016. 68 (2): 32
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