Katja Baumgarten: Am 1. Oktober verabschieden Sie sich in die Rente. Wie ist es für Sie als Hebamme losgegangen?
Andrea Stiefel: Es war eher Zufall, wie ich zum Hebammenberuf gekommen bin. Ich wollte nicht länger zur Schule gehen, sondern einen Beruf lernen, der mit Menschen zu tun hat. Unsere Nachbarin war Hebamme. Sie hatte auch meine Mutter im Wochenbett betreut. Mit ihr bin ich ab und zu mitgegangen. Sie sagte: »Wenn ich einmal in Rente gehe, ist es gut, wenn wir hier jemand Junges haben. In München gibt es eine Schule, da kannst du dich bewerben.« Da dachte ich, ja, das gefällt mir, ich werde Hebamme.
Es war damals nicht einfach, einen Ausbildungsplatz zu bekommen.
Die Münchner Hebammenschule hatte 400 Bewerberinnen für 50 Plätze. Ich war 17 Jahre alt, kurz von meinem 18. Geburtstag. Völlig unerwartet habe ich den Platz bekommen.
Wie hat Ihnen die Hebammenausbildung gefallen?
1977 habe ich mit meiner Ausbildung angefangen, die damals noch zwei Jahre dauerte. Den Beruf fand ich spannend, aber die Ausbildung war sehr schwierig: Ich wurde nicht immer nett behandelt und hatte zu parieren. Wir mussten noch im Internat zu zweit in einem Zimmer wohnen und wurden teilweise zu Unzeiten gerufen, um spontan im Dienst einzuspringen. Wenn ich das heute den Studierenden erzähle, lachen sie und können sich das nicht vorstellen. Mich so unterzuordnen, das war hart für mich als junger Mensch. Vielleicht ist es mir leichter gefallen, weil ich aus einem recht strengen Elternhaus komme. Aber ich fand es fragwürdig, wie mit einem umgegangen wurde.
Wie zum Beispiel?
Beispielsweise wurde das Zimmer kontrolliert und durchsucht. War es nicht ordentlich, wurde man vor der Klasse bloßgestellt: Man würde nie eine gute Hebamme, weil man ein unordentliches Zimmer hat. Oder sie haben geguckt, ob wir Verhütungsmittel nehmen. Es gab auch schöne Sachen, wir haben miteinander gefeiert, haben Ausflüge gemacht. Die Grenzüberschreitungen waren das Schwierigste. Oder bei Lehrvisiten vorgeführt zu werden oder von manchen Hebammen behandelt zu werden wie der letzte Depp. Das hat mich mehr gestört als die viele Arbeit, die gehörte dazu. Ich habe immer gedacht, so werde ich später nie – so wie man in der Ausbildung behandelt wird, das ist nicht in Ordnung.
Wie ging es danach weiter?
Nach dem Examen 1979 ging eine meiner Mitschülerinnen nach Berlin. Im Martin-Luther-Krankenhaus, wo sie anfangen wollte, suchten sie noch eine Hebamme. Ich dachte, Berlin ist spannend, da ist was los. Als ich mich beworben habe, bin ich direkt genommen worden, ohne mich vorzustellen. Gerhard Martius, der damalige Klinikchef, kannte die Oberhebamme der Hebammenschule. Auf ihr Urteil hat er sich unbesehen verlassen – eigentlich absurd, wenn man sich das heute vorstellt. Zum Entsetzen meiner Eltern habe ich dann in Berlin im Kreißsaal angefangen und 1982 kam dort auch meine Tochter zur Welt.
Wie war die Geburtshilfe im Martin-Luther-Krankenhaus?
Wenn die Ärzte das Gefühl hatten, man weiß, was man tut, konnte man als Hebamme sehr selbstständig arbeiten und es hat nicht immer jemand dazwischengeredet. Man hatte die Möglichkeit, die Geburten mit den Frauen zu gestalten.
Die PDA wurde dort schon sehr früh gegeben als Single Shot. Es gab noch viele Privatpatientinnen zur Martius-Zeit. In Berlin war es angesagt, dort hinzugehen. Zu seiner Zeit gab’s ja noch Absurditäten wie die programmierte Geburt, Amnioskopien und die ständigen Untersuchungen, um zu sehen, wie weit der Muttermund geöffnet war. Wenn der errechnete Termin überschritten war, wurde eingeleitet.
In der Zeit wurden auch noch sehr viele Dammschnitte gemacht.
Ja, aber in unserem Kreißsaal nicht routinemäßig. Wenn es ohne ging, war es in Ordnung. Bei einem Riss musste man sich allerdings rechtfertigen.
Wie stand man dort zu aufrechten Geburtspositionen? Ab 1980 haben in Deutschland einzelne Kliniken eine Geburtshilfe angeboten, die von Sheila Kitzinger, Michel Odent und Frédérick Leboyer inspiriert war. Wie war das in Berlin?
So eine Szene gab es noch nicht, in einzelnen Krankenhäusern wurde es vielleicht schon etwas umgesetzt. Wenn die Frauen eine Single-Shot-PDA hatten, konnten sie sich natürlich kaum bewegen. Sie haben in Seitenlage geboren, oder wir konnten das Rückenteil hochstellen und sie etwas aufrechter setzen. Aber zu dem Zeitpunkt gab es noch nicht die große Innovation. Vierfüßler-Stand, was man später gemacht hat, Gebärhocker oder Wassergeburt waren da noch kein Thema. Man hatte als Hebamme relativ viel Freiheit, die Geburten so zu leiten und zu begleiten, wie man es gut fand und wie die Frau das wünschte. Außer es war eine Privatpatientin, da musste man sich natürlich an die Regularien des Chefarztes oder des jeweiligen Oberarztes oder jeweiligen Oberärztin halten.
Wie sahen diese Regularien aus?
Manche haben einen einfach machen lassen. Bei anderen hatte man schnell raus, sie nicht zu früh zu rufen, um der Frau zu ermöglichen, spontan zu gebären. Damit nicht die Saugglocke angesetzt wird, wenn das Kind nach dreimal pressen nicht kommt – als »Erleichterung«. So wurde das verkauft. Ich habe es oft als hinterhältig empfunden, der Frau nachher zu suggerieren, »wir haben Ihnen jetzt geholfen«, wenn sie es eigentlich selbst gekonnt hätte. Sogar »Durchtrittsnarkosen« gab es dort Anfang der 80er-Jahre noch, obwohl sie eigentlich damals schon aus der Zeit gefallen waren. Da hat man überlegt, wie lange braucht dieser Arzt, bis er von zu Hause hier ankommt – was kann ich machen, damit ich der Frau und dem Kind so etwas erspare?
Haben die Frauen diese Geburtshilfe damals akzeptiert? Bücher, die eine humane Geburtshilfe gefordert haben, waren schon sehr populär.
Die meisten Frauen haben sich einfach in die Hände derjenigen begeben, die sie betreut haben. Sie haben selten Wünsche geäußert, selbst wenn wir sie bei ihrer Anmeldung danach gefragt haben. Die Geburtshilfe hat sich erst mit der Zeit verändert. Hier in Berlin gab es eine innovative Bewegung für selbstbestimmtes Gebären schon bevor es Ende der 1980er, Anfang der 90er-Jahre die ersten Geburtshäuser gab. Einige Krankenhäuser haben diese Ideen aufgegriffen, wie das Krankenhaus Havelhöhe. Andere haben länger gebraucht.
Wie ging es Ihnen im Martin-Luther-Krankenhaus?
Im Martin-Luther-Krankenhaus habe ich mich immer wohl gefühlt – mit dem Team, mit den Kolleginnen. 1980 wurde dort eine Hebammenschule gegründet. Mit den Auszubildenden zu arbeiten hat mir immer Spaß gemacht. Ich hatte im Hinterkopf: Du wirst sie nie so behandeln, wie du behandelt worden bist. Das habe ich mein ganzes Leben beibehalten: mit Auszubildenden oder mit Studierenden auf Augenhöhe zu arbeiteten, sie als Menschen zu respektieren, fair miteinander umzugehen. Aber auch Kritik zu äußern, wenn sie angebracht ist, auf eine Art, die andere nicht verletzt und ihnen nicht das Gefühl gibt, sie hätten keinerlei Rechte. Als Studierende oder als Auszubildende ist man das letzte Glied in der Kette. Wenn ich ehemalige Schülerinnen und Studierende treffe, höre ich oft: Wir haben dich in guter Erinnerung, du warst fair zu uns.
Wann wurden Sie Hebammenlehrerin?
Von 1989 bis 1990 habe ich den einjährigen Weiterbildungslehrgang als Lehrerin für Hebammenwesen absolviert und bin nach etwa zehn Jahren Kreißsaal im Juli 1991 in die Hebammenschule am Martin-Luther-Krankenhaus gewechselt. Dort habe ich unter anderem mit Ulrike Harder zusammengearbeitet, die ebenfalls Hebammenlehrerin war. Als alleinerziehende Mutter war es eine Erleichterung, aus dem Schichtdienst rauszugehen, es war auch für mein Kind besser und hat mir einfach Riesenspaß gemacht.
Den Namen Gerhard Martius kennt man aus Lehrbüchern. Hatten Sie in der Hebammenschule Kontakt zu ihm?
Als ich an der Schule war, war Gerhard Martius schon in Rente. Als Kreißsaalhebamme hatte ich mit ihm gearbeitet. Es war »sein Kind« gewesen, diese Schule aufzubauen. Die Lehrerinnen haben sie letztlich in ihrem Stil prägt. Natürlich haben auch Ärzte unterrichtet, aber es schwebte nicht immer die ärztliche Oberaufsicht darüber.
Was hat Ihnen dort besonders gut gefallen?
Die Hebammenschule war einzügig. Weil wir nur den einen Kurs hatten, haben wir die Schülerinnen in der Praxis und in der Theorie sehr eng begleitet und haben eine intensive Bindung zu ihnen aufgebaut. Es war schade, dass diese Schule 1995 nach etwa 15 Jahren geschlossen wurde. Nach einem Jahr auf der Wochenstation, wo ich die integrative Wochenpflege mit eingeführt habe, bin ich nach Neukölln gewechselt, als dort eine Stelle an der Hebammenschule frei geworden war. Ich war 16 Jahre am Martin-Luther-Krankenhaus bis 1996.
Es gab eine Zeit lang drei Hebammenschulen in Berlin.
Ja, außer der Hebammenschule am Martin-Luther-Krankenhaus und der in Neukölln gab es auch noch eine an der Charité.
Im Frühjahr 1996 habe ich als Lehrerin im Team der Schule in Neukölln angefangen, wo Christine Geist die Schulleitung hatte. In der Frauenklinik am Mariendorfer Weg mit dem riesengroßen Kreißsaal war es ganz anders als im Martin-Luther-Krankenhaus, das deutlich kleiner war. Als ich kam, hatte schon Klaus Vetter die Leitung übernommen. Aber die Geburtsmedizin, die Erich Saling dort entwickelt hatte, hatte die Geburtshilfe nachhaltig geprägt. Der Kreißsaal war ganz anders strukturiert und viel technisierter als im Martin-Luther-Krankenhaus. Es war nicht schwierig, aber anders, sich in ein so großes Team einzugewöhnen.
Wie konnten Sie als Hebammenlehrerin die unterschiedlichen Entwicklungen in der Geburtshilfe vermitteln – wie aufrechte Geburtspositionen oder spätes Abnabeln?
Diesen Kampf, den kämpft man über Jahrzehnte. Es hat mir immer gefallen, mich kontinuierlich zu verändern, dazu zu lernen. Positionen wieder zu verlassen, weil es mittlerweile Forschung gibt, wo man erkennt: Das ist nicht gut, was wir da gemacht haben.
Den Studierenden erzähle ich oft: In meinem Hebammenleben habe ich vier verschiedene Versionen gelernt, wie man ein Neugeborenes lagert. Auf dem Bauch, auf der Seite, in unterstützter Seitenlagerung und jetzt in Rückenlage. Erst als man von der Bauchlage weggekommen ist, hat man beim Plötzlichen Kindstod signifikante Veränderungen gesehen. Das hat sich entwickelt durch Forschung, durch Nachdenken, dadurch, dass man Dingen auf den Grund geht. Wir wissen bis heute nicht genau, was die Ursache ist, es gibt Theorien. Das ist bei vielen Dingen in der Geburtshilfe so. Das tradierte Wissen wird einfach weitergegeben. Erst wenn man Evidenzen hat, verändert es sich. Manchmal verändert sich trotzdem nichts, wie beispielsweise beim Dauer-CTG, obwohl es seit Langem Evidenzen gibt.
Auch zur Episiotomie gab es schon Ende der 1970er Jahre Forschung, die den häufigen Einsatz in Frage gestellt hat.
Wir haben in den 1970er Jahren gelernt: Eine Episiotomie schützt den Damm, man darf nicht zu lange warten und wenn es reißt, ist es furchtbar. All diese Dinge, die sich langsam verändert haben: »Hands-on« und »Hands-off« – was ist eigentlich ein Darmschutz? Müssen wir das immer machen? Jetzt gibt es die neue S3-Leitlinie zur vaginalen Geburt: Die Latenzphase, alle Phasen der Geburt, die so eng limitiert waren – jetzt sieht man, man hat mehr Zeit, kann den Druck rausnehmen.
Viele der Innovationen oder Forschungsergebnisse brauchen lange, bis sie in die Praxis fließen. In dem Spannungsfeld befinden wir uns immer noch. Wir bringen unseren Schülerinnen oder Studierenden die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse bei, wie man etwas machen sollte, aber in der Praxis erleben sie es zum Teil anders und das irritiert sie.
Haben Sie Beispiele im Sinn?
Die Geburtseinleitung, die programmierte Geburt, dieses ständige Untersuchen der Frau, was völlig unnötig ist. Dann die Geburtspositionen: Wenn jemand auf dem Hocker gebärt oder im Vierfüßler-Stand, ist das immer noch eine Ausnahme, keine Regel!
Dabei sind die Vorteile seit Jahrzehnten klar …
Kristellerhilfe, all diese Dinge – wo wir mittlerweile genug Untersuchungsergebnisse haben, die belegen, dass man es anders machen soll. Wenn man eine Frau gut betreuen will, muss man eine Eins-zu-eins-Betreuung haben. Die Kolleginnen arbeiten unter Umständen, die in großen Teilen untragbar sind – auch untragbar für die Ausbildung. Die Eins-zu-eins-Betreuung von Gebärenden erleben die Auszubildenden und die Studierenden selten. Das hat mich über all die Jahre am meisten belastet, die unzureichende Betreuung von Frauen.
Auch zum Benefit der Eins-zu eins-Betreuung gab es vor Jahrzehnten Forschungsergebnisse.
Wir haben diese Evidenzen, sie werden aber nicht umgesetzt – unter anderem, weil es politisch nicht unterstützt wird, und weil es gesellschaftlich zu wenig eingefordert wird. Oder weil die Kolleginnen keine Möglichkeiten haben, es zu praktizieren, weil sie ständig mit etwas anderem beschäftigt sind. Ruhephasen, in denen man weniger zu tun hat, in denen man sich im Team austauscht, das gibt es doch gar nicht mehr! Es ist nur noch ein Funktionieren.
Es wird nicht besser, es wird eigentlich schlechter! In den letzten 15 bis 20 Jahren ist so gespart worden. All das, was man hätte positiv entwickeln können, wird nur noch dem Geldverdienen untergeordnet. Kolleginnen werden ausgepresst und Teams sind am Anschlag. Trotzdem engagieren sie sich noch! Sie brauchen viel mehr Unterstützung für die Betreuung von Frauen.
Das ist letztlich das Allerwichtigste. Wie man geboren wird, entscheidet, wie man im Leben weitergeht. Wenn ein Drittel aller Menschen aus dem mütterlichen Leib herausgeschnitten wird, macht das etwas aus. Wie wichtig der Prozess des Gebärens für Mutter und Kind ist – das wissen wir alles heutzutage. Trotzdem ermöglichen die Rahmenbedingungen das nicht.
Es bedrückt mich auch, wenn Auszubildende und Studierende heute noch von manchen Kolleginnen wie der Dreck am Ärmel behandelt werden. Unsere jungen Kolleginnen sind doch unsere Zukunft. Sie werden die künftige Geburtshilfe prägen, ihnen müssen wir das denkbar Beste mitgeben, damit sie sich entfalten können und das auch an die Frauen und Familien weitergeben können. Vielleicht bin ich zu naiv oder immer noch zu enthusiastisch. Es ist mir ein Rätsel, dass das nicht überall funktioniert.
Wie bewahren Sie sich Ihre Zuversicht?
Wir müssen den werdenden Hebammen vorleben, wie es anders geht. Ich möchte ihnen immer wieder das Schöne in diesem Beruf zeigen, auch sagen: Seid feministisch! Arbeitet für die Frauen, unterstützt sie – ihr seid auch Frauen. Es ist immer noch ein Frauenberuf, auch wenn ich gedacht habe, durch die Studiengänge mit einer universitären Karriere würden mehr Männer in den Beruf kommen. Ich bin erstaunt, dass es nicht so ist.
Wofür machen wir das eigentlich? Nicht für uns, unser Beruf ist kein Selbstzweck. Wir machen es für die Frauen und die Kinder. Um sie gut betreuen zu können, müssen wir auch selbst gut betreut werden. Wir müssen uns doch wohl fühlen in unserem Beruf! Wir müssen sicher sein und uns aufgehoben fühlen. Dann können wir das auch weitergeben.
Sie waren für den DHV Delegierte beim Weltverband der Hebammen, dem ICM – wie kamen Sie dazu?
Als meine Tochter größer war, konnte ich mich parallel zu meiner Arbeit an der Hebammenschule wieder berufspolitisch im Berliner Hebammenverband engagieren. Bei einer Delegiertentagung im Jahr 1997 wurde durch einen Rücktritt die Position der ICM-Delegierten frei. Da habe ich mich spontan gemeldet und wurde gewählt.
Was hat Sie besonders inspiriert?
Großbritannien oder die nordischen Länder haben viel früher die Akademisierung der Hebammen umgesetzt. Beeindruckend waren auch die Forschungseinrichtungen in den nordischen Ländern, wie das Karolinska Institut in Schweden. Die Hebammen dort haben einen anderen Status als die Kolleginnen hierzulande. Andererseits war es bewegend, bei den Weltkongressen zu erleben, mit welch dramatischen Probleme Hebammen in manchen Ländern zu kämpfen haben. Wie viele Frauen sterben, weil sie verbluten? Die Kolleginnen aus Afrika berichteten, wie sie die Ausbildung vorantreiben, damit es mehr Hebammen gibt, um die Frauen zu betreuen.
Da relativiert sich die Dramatik der eigenen Probleme. Oft sind es nicht nur die rein medizinischen Probleme, sondern auch politische Probleme, dass Frauen insgesamt wenige oder keine Rechte haben.
Wie lange waren Sie beim ICM?
Ich war dort acht Jahre als Delegierte, weitere drei Jahre im Board of Management für die zentraleuropäische Region. Zu Beginn meines Studiums habe ich das aufgegeben: Schulleitung, ICM-Delegierte und Masterstudium, das war zu viel.
Im Education Standing Committee des ICM habe ich noch eine Weile mitgearbeitet. Dort sind Lehrende aus allen Ländern zum Thema Ausbildung vernetzt, wodurch man gegenseitig von den Innovationen der anderen lernt. Auch der europäische Hebammenverband EMA hat seine Kongresse inzwischen stärker auf die Ausbildung ausgerichtet. Zum Teil waren wir Hebammen auch in der WHO Europa vertreten.
Wie kam es zu Ihrem Masterstudium?
Ich hatte nie gezweifelt, dass die Akademisierung der Hebammen auch in Deutschland kommen wird, und wollte aktiv daran teilhaben. Im neuen Masterstudiengang in Österreich an der Uni Krems waren wir der erste Kurs. Das Studium hat mir sehr viel Spaß gemacht. Entgegen unwissender Aussagen mancher Kolleginnen, den Abschluss würde man sich kaufen, fand ich das Studium sehr anspruchsvoll. Ich kann diesen Dünkel nicht nachvollziehen. Ich habe es auch als Arroganz gegenüber den österreichischen Kolleginnen empfunden, die den Studiengang mit aufgebaut haben.
Dort wird eine Mischung aus Hebammenkunde und wissenschaftlichem Arbeiten angeboten zusammen mit Management- und Betriebswirtschaftslehre.
Das Studium dort hat andere Schwerpunkte als üblich. Als Schulleitung konnte ich diese wichtigen Inhalte in einem Studium sehr viel besser vertiefen. Ich habe das dann auch in meiner Masterarbeit mit einem qualitativen Forschungsprojekt zum Thema »Risikomanagement in der klinischen Hebammentätigkeit durch kollegiale Supervision« aufgegriffen. In Krems lehrten Referenten, die CEOs in größeren Unternehmen waren und viel aus ihrer Berufspraxis weitergeben konnten. Ich fand das spannend.
Ich würde dieses Studium wieder wählen, aber wenn man eine akademische Karriere als Perspektive hat, war es ausbremsend, denn dann fehlen einem die ECTS-Punkte: Man steigt dort als berufserfahrene Hebamme direkt ins Masterstudium ein, ohne dass ein Bachelorstudium gefordert wird. Und weil es als Universitätslehrgang tituliert wird, erkennen es manche Hochschulen nicht als Studiengang an, obwohl das Masterstudium in Krems EU-akkreditiert ist. Das habe ich erst nachher erfahren.
Wurden Ihnen bei all Ihrer Berufserfahrung in der Praxis und Lehre mit Zusatzausbildungen nicht genügend ECTS-Punkte angerechnet?
Nein, auch die Herausgabe der Lehrbücher wurde mir nicht angerechnet. Seit 25 Jahren entwickele ich Lehrbücher mit, wie die »Hebammenkunde« oder die Skills-Bände in der Schweiz, woran ich mitgearbeitet habe, oder ein Fachbuch zum Wochenbett und andere Veröffentlichungen. Ich publiziere, bin in der Lehre und in der Praxis, habe international gearbeitet – und das ist nicht einmal ein Äquivalent zu einem Bachelor?
Hierzulande wurde damals kein vergleichbares, deutschsprachiges Masterstudium für Hebammen angeboten.
Wir können es uns nicht erlauben, uns gegenseitig Steine in den Weg zu legen. Diesen Studiengang in deutscher Sprache konnten Kolleginnen besuchen, die einen Master in Englisch vielleicht nicht hätten absolvieren können, was ich durchaus gekonnt hätte. Mich hat es angesprochen, mit Kolleginnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zu studieren. Auch von der Struktur her konnte ich das Studium gut mit meiner Arbeit vereinbaren.
Haben Sie überlegt zu promovieren?
Nein, nachdem ich auf diese Schwierigkeiten gestoßen bin, war das Thema erledigt. Im Nachhinein hätte es mich gereizt, aber vielleicht hätte ich meinen Master auch fünf oder sieben Jahre früher machen müssen. Ich war 50, als ich mit dem Studium fertig war. Dann bin ich in die Schweiz nach Winterthur an die ZHAW gegangen und habe dort den Studiengang aufgebaut. Man muss auch einfach mal sagen, mehr geht nicht. Ich merke jetzt, es macht energetisch etwas mit einem, wenn man ständig zwei oder drei Projekte hat, an denen man intensiv arbeitet. Was ich heute an Energie investiere, damit ich auf diesem Level arbeiten kann, das an der Universität verlangt wird, das kostet mich so viel, da bleibt fast kein Freiraum übrig.
Wie lange sind Sie an der ZHAW in Winterthur gewesen?
Genau neun Jahre ab 2009, direkt nach meinem Masterabschluss. Davor war ich an der Hebammenschule in Neukölln zunächst acht Jahre als Lehrerin tätig und dann fünf Jahre als Schulleitung. Ich habe den Master während der Schulleitungszeit gemacht. Als ich fertig war, kam das Angebot aus der Schweiz. Mein Mann hatte dann eine Stelle in Süddeutschland. Damals habe ich mir gedacht, wenn nicht jetzt, wann dann? 2018 bin ich wegen der Familie dann wieder nach Berlin zurückgekommen.
Welche Position haben Sie jetzt in Berlin?
Seit März 2020 bin ich Studiengangskoordinatorin an der Charité und habe dort bis jetzt den Bachelorstudiengang Angewandte Hebammenwissenschaft mit aufgebaut und das Curriculum entwickelt. Wir haben letztes Jahr mit der ersten Kohorte gestartet, jetzt kommt die zweite Gruppe zum Wintersemester.
Das ist bestimmt bereichernd, so einen Lehrplan zu entwickeln.
Ja. Das war sehr sportlich, weil die Zeit kurz war und die Ressourcen knapp. Ich hatte keine günstigen Startbedingungen, denn ich habe dort zu Beginn der Coronapandemie angefangen und war bald im Homeoffice. Es ist schwierig zu starten, ohne mit den Strukturen einer großen Universität vertraut zu sein. So habe ich viel Zeit verloren, herauszufinden, wer für was zuständig ist oder mit wem ich mich vernetzen kann.
Der Studiengang ist inzwischen gestartet und die Studentinnen sind gut im Studium und in der Praxis angekommen. Das ist schön zu sehen. Es tut mir für die Studierenden leid, wenn ich jetzt gehe, weil ich gerne eine Ansprechpartnerin für sie bin. Jetzt muss ich auch einmal an mich selbst denken. Man muss erkennen, wenn man seine Grenzen erreicht hat.
Wie ist die Situation für lehrende Hebammen?
Ich bin immer wieder entsetzt, wie wenig Deutschland in Bildung investiert. Wir haben letztes Jahr mit den ersten Studentinnen angefangen. Erst jetzt mit Beginn der zweiten Studiengruppe erhalten wir auch Räume auf dem Campus in Berlin-Mitte an dem wir lehren. Wenn man plant, einen Studiengang aufzubauen, sollte man von vornherein optimale Rahmenbedingungen schaffen. Wir mussten immer wieder hören: »Sie sind ja auch noch da, wir wussten das gar nicht!«
Hat es damit zu tun, dass die Charité so eine riesige Institution ist?
Das ist kein spezielles Charité-Problem. In Bildung muss investiert werden, in Gesundheit, in Frauen, in Kinder und Familien – das frustriert mich am Ende meines Berufslebens am meisten, dass das in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern immer weniger wird. Ich habe in verschiedenen Ländern unterrichtet und von Kolleginnen Einblicke in ihre Curricula, in ihre Rahmenbedingungen bekommen – dagegen sehen wir etwas blass aus.
Ich sehe heute immer noch viele Parallelen zu meinen Anfängen und hatte eigentlich gehofft, wenn ich irgendwann mal aus meinem Beruf gehe, schaue ich in eine andere Zukunft.
Wie lange sind Sie jetzt Hebamme?
Ich habe 1977 mit der Hebammenausbildung angefangen und höre jetzt 2022 auf – 45 Jahre. Ein halbes Jahr hatte ich Erziehungsurlaub genommen, als meine Tochter geboren wurde, sonst war ich immer berufstätig. Die Studentinnen haben mich einmal gefragt: »Warum machen Sie das schon so lange?« Es macht mir immer noch Spaß, aber jetzt sollten andere übernehmen. Ich habe auch früher schon den Weg für andere freigemacht und finde daran nichts Verwerfliches.
… im Gegenteil.
In der Schweiz habe ich ein Jahr bevor ich gegangen bin, meine Leitungsfunktion abgegeben. Ich habe zu meinen Kolleginnen im Leitungsteam gesagt, wir sind alle gleich alt, wir sitzen hier noch fünf oder sechs Jahre. Aber die motivierten Kolleginnen, die nach uns kommen, haben wenig Chancen weiterzukommen. Also muss man irgendwann Plätze räumen. Das hat Bewegungen in Gang gebracht, allein mein Zurücktreten von meiner Stelle und zu sagen, ich bin ab jetzt wieder Dozierende und für Internationales zuständig. Ich hänge nicht an der Macht. Eine Position zu haben, in der ich Dinge beeinflussen kann, das ist wichtig.
Es geht Ihnen mehr um Wirksamkeit?
Ja, genau. Der Status, den das mit sich bringt, hat mir nie etwas bedeutet. Sonst wäre ich jetzt Professorin und hätte nicht bei meinem Masterabschluss aufgehört. Ich habe schon ein paarmal gemerkt, dass manche Mitmenschen mich nicht ernst nehmen oder nicht wahrnehmen, weil kein Doktortitel vor meinem Namen steht. Zum Glück gibt es auch andere.
Danke für den Einblick in Ihren beeindruckenden Lebensweg als Hebamme!