Seit die Mutter vor einem halben Jahr wieder begonnen hat zu arbeiten, wird die 18 Monate alte Eli gemeinsam mit acht Kleinkindern tagsüber von zwei Tagesmüttern in einer Wohnung betreut. Eli ist ein absolutes Wunschkind, obgleich die Eltern unsicher waren, ob sie es schaffen würden, gute Eltern zu werden, weil sie selbst in ihrer Kindheit weder Geborgenheit noch Schutz kennengelernt hatten.
Eli war ein sehr unruhiges Baby und hat in den ersten drei Monaten viel geschrien. Sie ließ sich nicht trösten, schlief schlecht und ließ sich schlecht füttern. Die Eltern sind oft an ihre Grenzen gekommen. Seit einigen Wochen traten neue Verhaltensauffälligkeiten auf, die sie so beunruhigten, dass sie eine Beratungsstelle aufsuchten. Eli versuchte, sich nicht mehr nur mit Schreien durchzusetzen, sondern haute mit dem Kopf gegen die Wand und biss sich in die Hand. Nachts wachte sie häufig auf und ließ sich nicht beruhigen. Die Eltern waren zunehmend gereizt und gerieten in einen Paarkonflikt.
In der Entwicklungspsychologischen Beratung wurde den Eltern das Wissen darüber vermittelt, was für ein Kind in Elis Alter an Selbstregulation und Autonomie zu erwarten wäre. Anhand von Videobeobachtung in der Interaktion von Eli mit ihren Eltern konnten sie die Perspektive des Kindes wahrnehmen und fanden Lösungsansätze, wie sie Eli in ihrer Regulation unterstützen können. Beide Eltern zeigten feinfühliges Verhalten, solange sie selbst sicher waren. Elis Schreien tagsüber und die nächtliche Unruhe verbesserten sich. Doch das selbstverletzende Verhalten triggerte bei den Eltern schwierige Kindheitserinnerungen. Sie gerieten in Streit über das Thema und suchten Unterstützung beim Kindertherapeuten.
Die Untersuchungssituation
Eli ist ein sehr niedliches, sanftes Kleinkind – eher verträumt wirkend. Sie ist auf ihre Mutter bezogen, spielt aber gern allein. Auf Ansprache reagiert sie verzögert, den Blickkontakt sucht sie kaum. Der Mutter gibt es einen Stich ins Herz. Sie liebt Eli und wünscht sich nichts mehr, als dass Eli mit ihr kuschelt. In der Untersuchungssituation werden beide Eltern gebeten, mit Eli zu spielen.
Den Vater ignoriert sie nahezu. Er bezieht das auf sich und ist gekränkt. Seine Frau wirft ihm vor, sich nicht ausreichend einzubringen. Er folgt der Aufforderung und spielt Ball mit Eli. Die Kleine wird quicklebendig, als der Ball rollt. Eli ist das Spiel mit ihrem Vater nicht so wichtig wie der Ball selbst. Sie zeigt ihre Erregung, indem sie mit den Händen wedelt. Ihr Vater möchte sich einbringen, nimmt ihr den Ball weg und rollt ihn ihr zu. Eli schreit wie aus heiterem Himmel, wirft sich hin und schlägt mehrfach mit der Stirn auf den Boden. Die Eltern stürzen hinzu und nehmen das schreiende, um sich schlagende Kind hoch und sagen: »Sehen Sie, das meinen wir! Sie tut sich doch weh! Warum macht sie das?«
Gemeinsam besprechen wir, was wir erlebt haben. Wir vermuten, dass Eli bei starken Gefühlen in einen Erregungszustand kommt, der sich wie eine Glocke über sie legt. Wenn sie dann angesprochen wird, ist sie überfordert. Ihr fehlt es offenbar an der Fähigkeit, rechtzeitig zu merken, wenn jemand etwas von ihr möchte. Wenn es ihr zu viel ist, kann sie sich nicht selbst regulieren. Die Reizüberflutung ist offenbar unangenehmer zu ertragen als körperlicher Schmerz. Weder Berührung, Trösten noch gut Zureden können ihr helfen, sondern scheinen es für sie noch unerträglicher zu machen. Eli geht aus jedem Kontakt.
Für die Eltern ist das sehr frustrierend. Ausgerechnet sie haben ein Kind, das sich bei Stress gegen jegliche soziale Interaktion wehrt! Wie sehr hätten sie sich beide in ihrer eigenen Kindheit gewünscht, liebevoll gehalten zu werden. Elis Eltern haben in ihrer Kindheit Gewalterfahrungen gemacht und reagieren unbewusst ängstlich auf das Schreien und Um-sich-Schlagen ihrer Tochter. In dem Zustand eskalieren die hilflose Wut der Eltern und das selbstverletzende Verhalten des Kindes. Der Teufelskreis kann nur mit Hilfe von außen durchbrochen werden.
Die Kinderärztin sagt: »Auch wenn wir uns das nicht vorstellen können, gibt es Kinder, für die in manchen Situationen alle Gefühle – sogar die der tröstenden Eltern – zu anstrengend sein können.« Das entlastet die Eltern, die immer den Fehler in ihrem eigenen Verhalten gesucht haben.
Die Frage nach dem Warum
Natürlich fragen alle Eltern, warum ihr Kind so ist und nicht anders. Wenn wir auffälliges Verhalten bei Kindern beobachten, dann ist das eine Momentaufnahme und noch keine Diagnose.
Eli ist noch keine zwei Jahre alt. Ihre Sprachentwicklung ist leicht verzögert, aber noch nicht auffallend. Dahingegen sind der fehlende Blickkontakt in der Interaktion und die sparsame Kommunikation deutlich. Eli zeigt eine Hypersensibilität für Wahrnehmungsreize und Bewegungsstereotypien. Sie kann ihre Affekte schlecht regulieren.
Die Kinderärztin empfiehlt eine Untersuchung auf Autismus in einem Sozialpädiatrischen Zentrum, um Eli gezielt fördern zu können, falls sich der Verdacht auf Autismus bestätigen sollte.
Es gibt bislang keine objektiven Kriterien für die Diagnose Autismus, vielmehr setzt sich diese zusammen aus der Befragung der Bezugspersonen, einem Entwicklungs- und Intelligenztest und einer Verhaltensbeobachtung. Je jünger das Kind ist, desto wichtiger ist die Verhaltensbeobachtung. Bei Kindern unter zwei Jahren erfolgt diese über mehrere Tage. Ebenso komplex wie die Diagnose ist die Förderung des Kindes.
Unter den frühkindlichen Entwicklungsauffälligkeiten ist die soziale Interaktions- und Kommunikationsstörung mit Auswirkungen auf Teilhabe der Betroffenen in der Gesellschaft, heute als Autismusspektrumstörung bezeichnet, eine besonders schwerwiegende Entwicklungsstörung. Die Hälfte aller Betroffenen zeigt schwerwiegende sprachliche und kognitive Störungen.
In den ersten zwei Lebensjahren eines Kindes geschieht die Entwicklung so schnell, dass kleine Abweichungen mitunter auch von den Fachleuten nicht gesehen werden. Oftmals sind es die Eltern, die feststellen, dass etwas nicht stimmt. Später sind es Erzieher:innen und andere Bezugspersonen, die das Kind in seiner Besonderheit gut beobachten und sich fragen, ob alles gut ist.
Schließlich bringt jedes Kind seine einzigartige genetische Prägung und seine Entwicklungsmuster mit auf die Welt. Erst im feinfühligen Miteinander mit seinen Eltern und anderen Bezugspersonen wird es seine angelegten Möglichkeiten entfalten und verwirklichen können. Dies ist abhängig von den Reifungsphasen des Gehirns. Insbesondere der Aufbau der weißen Substanz ist großen individuellen Schwankungen unterworfen.
Dabei folgt jedes Kind seinem eigenen Entwicklungsplan, der sich wesentlich mit den gängigen Tabellen der Entwicklungsdiagnostik deckt (siehe Stufenkonzept IVAN).
Normtabellen für die körperliche und funktionelle Entwicklung lassen sich im Untersuchungsheft für Kinder verfolgen. Die Bandbreite der normalen Entwicklung des Kindes ist groß. Jeder Reifeschritt der Gehirnentwicklung verändert sein Verhalten, jedoch nicht in so engen Zeiträumen, wie es die oft zitierten »Wachstumsschübe« vorzugeben meinen. Entwicklung ist eben immer individuell.