Die Rollen tauschen
Beide Hebammengroßmütter haben von Kolleginnen gehört, die sich die Betreuung ihrer Töchter auf gar keinen Fall vorstellen können. Und auch Katharina sagt, sie habe Sorge, dass sie zu nah dran sei. Eine Sorge, die Susanne anfangs für die Geburt ja auch hatte.
Aber was bedeutet das für die Betreuung, zu nah dran zu sein? Keinen klaren Blick für die jeweilige Situation zu haben? Nicht ertragen zu können, die eigene Tochter mit Wehen zu erleben? Mit ihr zu leiden? Sich handlungsunfähig zu fühlen? Sorge zu haben zu paralysieren?
Susanne sagt: »In den Momenten war ich immer Hebamme.« Chris erzählt, dass ihr Routine und Handwerk geholfen haben, als Hebamme zu agieren.
Professionalität hilft also und das Wissen darüber ist möglicherweise ein Schlüssel zum Gelingen, wenn eine Großmutter als Hebamme die Geburt ihres Enkelkindes betreut: Sie weiß, wann sie als Hebamme gefragt ist und wann als Mutter oder Großmutter – sie weiß, in welcher Rolle sie sich jeweils befindet.
Das Drei-Welten-Modell des Transaktionsanalytikers und Systemikers Bernd Schmid veranschaulicht diese unterschiedlichen Rollen. Hier ist die Persönlichkeit umgeben von der professionellen, der privaten und der Organisationswelt. Jede dieser Welten verlangt von uns eine bestimmte Treue, wie Schmid es nennt (siehe Abbildung).
In der privaten Welt handeln wir als Privatmenschen. Die Aufmerksamkeit ist geleitet von der Qualität und dem Erhalt unserer Beziehungen. Hier wären das unter anderem die Beziehung von Susanne zu Lena und von Chris zu Marieke – und jeweils zum Enkelkind und zum Schwiegersohn.
In der professionellen Welt geht es um uns als Fachperson, wir lassen uns von den Werten, Standards und Logiken unseres Berufs (unserer Fachwelt) leiten. Unsere Aufmerksamkeit hier gilt der fachlichen Qualität. Das heißt für unsere Geschichte: Chris und Susanne treten als Fachfrauen auf mit ihrer Hebammenexpertise. Persönliche Belange bleiben draußen.
In der Organisationswelt nehmen wir eine Funktion in unserem Unternehmen/unserer Organisation ein: als Kreißsaalhebamme, Teamkollegin, Praxisanleiterin …
Für unsere Geschichte sind vorrangig die private und die professionelle Rolle interessant: Zum Beispiel, wenn Chris den Riss ihrer Tochter nähen muss (als Hebamme) – ihrer Tochter aber nicht weh tun möchte (als Mutter). Dann ist es wichtig, sich eindeutig für eine Rolle zu entscheiden. Unklare Rollen können lähmen, denn es ist nicht möglich, zwei Rollen gleichzeitig gerecht zu werden. Eine Lösung des Konflikts könnte sein, sich für eine Rolle zu entscheiden – und somit die andere aufzugeben. Chris hat sich nach der U1 entschieden, wieder Hebamme zu werden – vielleicht war es einen kleinen Moment unklar für sie? Sie hätte auch sagen können, das möchte ich nicht, ich möchte Marieke lieber die Hand halten; denn es war im Geburtshaus noch eine zweite Hebamme anwesend, die hätte nähen können. Wichtig war, sich überhaupt zu entscheiden und die Rolle klar auszufüllen.
Es kann auch zu einem Konflikt zwischen Organisations- und Fachwelt kommen, zum Beispiel (das ist jetzt theoretisch und war in meinen Gesprächen kein Thema), wenn bei den Kolleginnen im Kreißsaal mal wieder Land unter ist und sie sich über die zusätzlich anwesende Fachfrau (Hebammenmutter) freuen und erwarten, dass diese das Team unterstützt. Die Hebammenmutter hat aber eine ganz andere Agenda: Sie will die Geburt ihres Enkelkindes betreuen. Möglichst ungestört.
Das Drei-Welten-Modell eignet sich zur Selbstreflexion und zur Rollenklärung. Und es lohnt sich, sich im Vorfeld Gedanken zu machen. Vor allem darüber, was im Notfall ist: Kann ich auch bei einem Notfall wirklich Hebamme bleiben? Falls es zu einem Schaden kommt, wie leben wir anschließend als Familie? Können wir alle in unseren Rollen bleiben? Die (werdende) Großmutter als Hebamme, aber auch die Tochter als zu betreuende und begleitende Schwangere?
Folgende Fragen können helfen, sich Klarheit zu verschaffen:
- Kann ich situativ und angemessen von einer zur anderen Rolle wechseln? Wann bin ich (Groß-)Mutter, wann Hebamme?
- Kann ich meine Rolle stimmig kommunizieren? Woran spürt meine Tochter, wann ich Hebamme bin und wann Mutter?
- Kann ich auch unter Stress in ungewöhnlichen Situationen angemessen in meiner Rolle bleiben? Kann ich gewährleisten, dass ich auch bei einer atonischen Blutung noch voll professionell arbeite? (Kessel et al., 2021)
Beiden Frauen hat die Professionalität – die Routine und das Handwerk – geholfen, in ihrer Hebammenrolle zu bleiben – beziehungsweise sich wieder hineinzubegeben.
Geschützte Zone
Keine der beiden Hebammen hatte die Betreuung von sich aus angeboten. Susanne: »Ich hätte es nie angeboten, aber wir sind ja richtig seelenverwandt, da hat es mich nicht überrascht, dass sie gefragt hat. Darüber habe ich mich sehr gefreut.« Chris: »Ich habe mich erst einmal gefreut, dass meine Tochter schwanger ist. Und war zurückhaltend. Der Rest ergab sich.«
Beide sagen, dass, wenn die Tochter sich zum Beispiel für eine geplante Sectio entschieden hätte, sie auch damit hätten leben müssen.
In der Praxis erlebten beide Hebammen – neben einer ganz besonderen Geburt – Privilegien am Geburtsort. Auch Kolleginnen in vergleichbarer Situation hatten davon berichtet: Sie wurden in Ruhe gelassen. Der Kreißsaal/Geburtsraum war eine geschützte Zone, es kam niemand herein – was in vielen Kreißsälen durchaus an der Tagesordnung ist: keine werdende Hebamme, keine Kollegin, kein Arzt, keine Ärztin. Die Hebammenmütter konnten für diese Geburt einen Schutzraum schaffen. War ärztliche Expertise gefragt, dann kam dieser Kittel nur fürs Nötigste herein – und war gleich wieder verschwunden. Chris: »Alles ganz intim, so wie es eigentlich immer sein sollte.« – So wie auch das nächtliche Lager von Susannes Familie im Kreißsaal.
Für Chris war es wichtig, sich auszutauschen mit Kolleginnen, die diese Erfahrungen bereits gemacht hatten – wenigstens beim ersten Enkelkind. Keine ihrer Gesprächspartnerinnen habe gesagt, sie würde es nicht wieder machen. Chris: »Eine Frau bekam einen Kaiserschnitt – das wünscht man sich ja nicht bei der Tochter –, aber das nächste Kind hat sie wieder mit ihrer Hebammenmutter bekommen. Spontan.«
Susanne würde beim zweiten Enkelkind – wenn sie gefragt würde – sicherlich auch wieder ja sagen. »Die eigenen Kinder beim Eltern-Werden zu begleiten, das was schon ein sehr, sehr besonderer Moment.«
Chris hat heute drei Enkelkinder, sie hat all diese Geburten im Geburtshaus betreut. Wenn ihre Tochter sie gefragt hätte, ob sie als Mutter dabei sein könnte, und nicht als Hebamme – auch das hätte sie sich vorstellen können. Das wäre aber nicht ganz so schön gewesen. Die schwierigste Aufgabe für sie wäre gewesen, gar nicht beteiligt gewesen zu sein: »Wie alle Mütter am Telefon zu sitzen und auf den Anruf warten? Oh Gott, das wäre die schwierigste Aufgabe gewesen.« Sie lacht.