Lea ist Studierende im 5. Semester Hebammenwissenschaft und nach ihrem Theorieblock an der Uni den ersten Tag wieder im Kreißsaal. Wie immer am ersten Tag ist sie angespannt. Ihre zuständige Hebamme ist zwischen zwei Sälen unterwegs, betreut eine von der vorhergegangenen Geburt traumatisierte Frau, die nur von ihr begleitet werden möchte, und parallel – abgeschirmt im anderen Saal – eine Schwangere mit Präeklampsie.
Im Vorbeigehen wird Lea aufgefordert, sich schnellstens selbstständig um eine Schwangere zu kümmern, die gerade als Notfall in den Kreißsaal kam: Frau Detloff ist zu Hause kollabiert, sie fühlt sich schlecht und schwach. Weil sie keine Tabletten mag, hatte sie versucht, einen vor Wochen diagnostizierten Eisenmangel diätetisch auszugleichen. Nun steht der Verdacht einer schweren Anämie im Raum. Zur Abklärung soll in den nächsten zehn Minuten eine Blutprobe im Labor sein. Die Kreißsaal-Ärztin wartet schon auf die Ergebnisse.
Frau Detloff ist sehr schmerzempfindlich, hat kaum fühlbare Venen und mit »Spritzen aller Art« schlechte Erfahrungen gemacht, wie sie erzählt. Lea hat Blutentnahmen bisher nur im Skillslab und einmal im Kreißsaal durchführen dürfen. Bei ihrem ersten Punktionsversuch zuckt Frau Detloff zusammen und die Studentin verfehlt die Vene. Mit einer heftigen Bewegung und Tränen in den Augen zieht die Schwangere ihren Arm zurück. Dabei fallen die vorbereiteten Materialien zu Boden. Lea hat Mühe, eine Verletzung mit der Kanüle zu verhindern.
Der empathische Kurzschluss
Eine emotional herausfordernde Situation für beide Seiten. Es geht um intensive Gefühle vor, während und nach der Geburt eines Kindes. Dazu kommen oft stressreiche Arbeitsbedingungen mit Zeitdruck und einer Arbeitskultur, in der Solidarität und Vorbilder im reflektierten Umgang mit Emotionen nicht selbstverständlich sind.
Im Laufe eines Praxistages ist Lea den unterschiedlichen Gefühlen der begleiteten Frauen und Familien in schnellem Wechsel ausgesetzt – von tief empfundenem Glück und unfassbarem Staunen über Verunsicherung, Schmerz, Angst, Verzweiflung bis hin zu Traumageschehen.
Auch der von ihren Kolleginnen gefühlte Druck und Stress wirken auf sie ein. All diese Gefühle finden Resonanz in Lea, schwingen in ihr mit als parallele Gefühle. Daneben entstehen in ihr eigene Gefühle wie Ärger, Überforderung oder Hilflosigkeit als Reaktion auf die erlebten Situationen.
Gleichzeitig wirken die beruflichen Rollenerwartungen, stets empathisch und gleichbleibend freundlich zu sein, negative Emotionen nicht zu zeigen und immer eine Lösung parat zu haben. All das geschieht sekundenschnell und unbewusst. Kein Wunder, dass ein solch hohes Maß an zum Teil widerstreitenden und überwältigenden Gefühlen zu Überlastung führen kann.
Lea hat nun zwei Möglichkeiten, um mit Frau Detloff umzugehen, die starke Gefühle zeigt: Sie kann sich empathisch einlassen oder die belastende Interaktion unterbrechen. Auch diese Entscheidung fällt in Sekunden. Sie wird durch unsere innere Bewertungsinstanz, das Appraisal, unterbewusst gesteuert. Zwei Faktoren spielen dabei eine Rolle: die Einschätzung der Stärke der Belastung und die Einschätzung der eigenen Bewältigungskompetenz für diese Belastung.
Fühlen wir uns überfordert, sorgt unsere innere Bewertungsinstanz – wie eine elektrische Sicherung – für eine Unterbrechung des emotionalen Kontaktes durch Flucht oder Aggression (Lazarus & Folkmann, 1984). Beides kommt als adäquate Reaktion im Hebammenkontext nicht in Frage. Beschäftigte in Gesundheits- und Sozialberufen entwickeln daher ein breites Repertoire, um die eigenen und die Gefühle ihres Gegenübers schnell zu regulieren und der belastenden Interaktion in möglichst sozial akzeptierter Weise zu entkommen (Thiry & Weihrich, 2019). Beschwichtigende Aufmunterungen, freundliche Trostformeln oder ein Ratschlag sind oft der Ausweg. Solche Reaktionen werden als empathischer Kurzschluss (Altmann, 2015) oder Pseudo-Empathie (Schönefeld, 2019) bezeichnet.
Selbstschutz durch Pseudo-Empathie
Die geschilderte Situation ist fiktiv. Sie ist ein Übungsimpuls im empCARE-Training mit Hebammenstudierenden, das den Fokus auf die Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen lenkt. Die empCARE-Trainer:innen nutzen die Übung, um Pseudo-Empathie und ihre Folgen erlebbar zu machen.
Die Studierenden werden eingeladen, sich in Lea hineinzuversetzen und zunächst nach ihren spontanen Gefühlen und Gedanken in dieser Situation gefragt. Häufig kommen Aussagen wie: »Auch das noch, ich will hier weg«, »Wieso lassen die mich so allein?«, »Machen Sie es mir doch nicht so schwer«, »Weil Sie ihre Medikamente nicht nehmen, hab ich jetzt den Stress«, »Was sag ich jetzt der Hebamme?«, »Was denkt Frau D. von mir?«
Anschließend werden die Studierenden gefragt, wie sie in der Situation reagieren würden. Obwohl sie deutlich Hilflosigkeit, Überforderung, Wut, Angst oder Scham spüren, fallen die Antworten in der Regel ganz anders aus: »Kein Problem, ich bereite das nochmal vor, wir suchen eine bessere Stelle«, »Nicht schlimm, lassen Sie uns auf die Hebamme warten« (schnelle Lösung), »Keine Angst, das ist doch nur wie ein Mückenstich« (Bagatellisieren), »Kopf hoch, Sie schaffen das schon« (Aufmuntern), »Je besser Sie mitarbeiten, umso besser klappt es auch« (Belehren), »Denken Sie doch an Ihr Baby, das ist jetzt wichtig« (Moralisieren).
Emotionale Dissonanz als Belastungsfaktor
Es besteht ein Zwiespalt zwischen dem, was die Studierenden fühlen, und dem, was sie glauben fühlen zu müssen und zeigen zu dürfen. Dieses Phänomen wird als emotionale Dissonanz bezeichnet und gilt als starker Belastungsfaktor in gesundheitsbezogenen Dienstleistungsberufen (Nerdinger, 2003). »Das ist ein krasser und sehr anstrengender Balance-Akt«, beschreibt eine Studierende diesen Zustand ganz überrascht als ein Aha-Erlebnis aus dieser Übung.
Eine pseudo-empathische Äußerung scheint sich zwar auf die Gefühle des Gegenübers zu beziehen, dient jedoch der Reduzierung eigener negativer Gefühle und damit der eigenen emotionalen Entlastung. Sie ist eine emotionsfokussierte Coping-Strategie. Im Alltag ist sie eine gebräuchliche Reaktion, um uns vor emotionaler Überwältigung zu schützen, ohne uns oder unsere Beziehungen dauerhaft zu gefährden. Im beruflichen Kontext jedoch kann sich dieser schützende Mechanismus langfristig in sein Gegenteil verkehren und die Entstehung von Burnout unterstützen (Schönefeld, 2019). Das hat verschiedene Gründe:
- Pseudo-empathische Reaktionen nehmen die Chance, eine echte Verbindung zu erleben. Hebammen definieren sich über ihre sehr nahe und vertrauensvolle Beziehung zu den Frauen und wollen sie auch in emotional herausfordernden Situationen unterstützen (Leinweber, 2013). Kann der Anspruch wiederholt nicht umgesetzt werden, beeinträchtigt das Motivation und Sinnstiftung.
- Pseudo-empathische Reaktionen sind damit verbunden, eigene Gefühle zu verdrängen und sich selbst als nicht authentisch zu erleben – mit der Gefahr, sich langfristig immer mehr von sich selbst zu entfremden.
- Pseudo-empathische Reaktionen bestärken die Einschätzung, herausfordernden Interaktionen nicht gewachsen zu sein, und beeinträchtigen das Selbstwirksamkeitserleben.
Da Hebammenarbeit im intensiven, oft vertraulichen Austausch mit anderen Personen stattfindet und dabei grundlegende Bedürfnisse des menschlichen Lebens berührt, erleben Hebammen regelmäßig emotional aufgeladene Interaktionen und emotionale Dissonanz, wenn sie pseudo-empathisch reagieren. Je häufiger die innere Bewertungsinstanz die eigene Bewältigungskompetenz als unzureichend einschätzt, umso häufiger werden pseudo-empathische Äußerungen eingesetzt. Ein Teufelskreis, der durch strukturelle Umgebungsfaktoren wie Zeitdruck und Arbeitsverdichtung noch verstärkt wird.