Wachstumretardierungen frühzeitig erkennen
Prof. Dr. Jason Gardosi, Direktor vom Perinatal Institut in Birmingham, Großbritannien, sprach in seinem ersten von zwei Vorträgen über interprofessionelle Fallbesprechungen nach perinatalen kindlichen Todesfällen, deren Ursachen bei zwei Dritteln nicht geklärt würden. Er rüttelte auf mit dem lyrischen Satz: »Einige träumen nur von Engeln, manche haben sie im Arm.« Die Fallbesprechungen seien nötig, um nach Ursachen und womöglich nach Fehlern zu suchen. Dabei sei wichtig, dass sie anonymisiert, vertraulich und ohne Schuldzuweisung ablaufen: Meist handele es sich zudem nicht um Fehler eines Einzelnen, sondern um Mängel im System. Der Grad der Vermeidbarkeit sei dabei zu eruieren, ob etwa eine andere Betreuung nicht ein anderes Outcome ergeben hätte. Die Eltern seien in gewissem Maße dabei beteiligt, auch würde ihnen keiner das Recht absprechen, anschließend einen juristischen Weg zu beschreiten. In der Regel aber würden sie nach einer offenen Fallbesprechung darauf verzichten.
Ursache für perinatale Todesfälle sei mitunter eine schlechte vorgeburtliche Risikobewertung, etwa bei Retardierungen. 86 % der Fälle wären bei einer anderen Betreuung vermeidbar gewesen. Gardosi habe deshalb ein Wachstumsprotokoll für die Schwangerschaft entwickelt.
Zunächst erzählte er von einem Projekt, dass die Fédération Internationale de Gynécologie et d’Obstétrique (FIGO) an ihn herangetragen habe: In Moldawien sollte er helfen, die Sterblichkeit von Müttern und Kindern durch gezielte Maßnahmen zu senken. Um die Probleme zu erforschen, führte er ein einheitliches Verfahren ein: das »Standardised Clinical Outcome Review« (SCOR, siehe Link). Damit könnten die Fälle in abstrahierter Form besser analysiert werden. Nachdem Gardosi in Moldawien geklärt hatte, wo die Versorgung verbesserungswürdig war, sei ein Aktionsplan eingeführt worden, der auch zum Ziel geführt und die perinatale und peripartale Sterblichkeit gesenkt hätte.
Doch wie lassen sich fetale Wachstumsretardierungen frühzeitig erkennen und so Totgeburten vermeiden? Das betrachtete Prof. Gardosi in seinem zweiten Vortrag. Dazu sei es notwendig, die »Sprache« des Ungeborenen besser zu verstehen, wenn es Notsignale von sich gebe. Als Sprache bezeichnete er die Messwerte des Größenwachtums. Als praktische Methode entwickelte er eine standardisierte Fundushöhenmessung, die alle drei Wochen spätestens ab der 26. Schwangerschaftswoche erfolgen solle. Nach einer Schulung könnten Hebammen mit einem Maßband sehr genau den exakten Wert ermitteln – ohne Messfehlerabweichung. Ein Routine-Ultraschall in der 32. Schwangerschaftswoche wäre dagegen völlig nutzlos, um einen Verlauf zu bestimmen. Mit dem von Gardosi entwickelten Growth Assessment Protocol (GAP) könne eine genaue optimale Wachstumskurve kalkuliert werden, entsprechend den mit der jeweiligen Nationalität verbundenen Größen von Mutter und Vater. Ein individueller Kalkulator (Individual Centile Calculator: ICC) könne ermitteln, ob ein Kind retardiert sei. Mithilfe einer App könnten Hebammen die kindlichen Daten berechnen lassen (siehe Link). Dies ist allerdings mit Gebühren verbunden, wie sich anschließend in einem Statement einer Hebamme herausstellte, die damit arbeitet.
Eine Grow-App gebe es inzwischen auch für Deutschland. Faktoren, die bei der Berechnung eine Rolle spielen, seien: Größe der Mutter, ihr Gewicht in der frühen Schwangerschaft, ethnische Zugehörigkeit, Parität sowie die Statur des Vaters.
Wenn ein zu kleines Kind ermittelt werde, empfiehlt Gardosi, mit der Schwangeren zusammen nach Möglichkeiten zu suchen, das Wachstum zu verbessern.