Viele Mütter bringen ihre Babys in Tragehilfen mit. Zeichnung: © Birgit Heimbach

Zum 2. Attachment Parenting Kongress am 1. und 2. Oktober vergangenen Jahres im Hamburger Hotel Grand Elysée trafen sich Hebammen und Mütter. Die Tagung widmete sich den Kernfragen einer „berührenden Elternschaft“. Wo sind die Dreh- und Angelpunkte einer gelingenden Eltern-Kind-Bindung? Was kann die Hebamme dazu beitragen?

Diana Schwarz, Mutter, Stillberaterin und professionelle Familienbegleiterin, begrüßte als Mitorganisatorin des Attachment Parenting Kongresses die 430 TeilnehmerInnen. Sie betonte, wie stolz sie sei, dass dies schon der zweite Kongress sei, den sie zusammen mit Frauke Ludwig, einer Mutter, die sich ebenfalls professionell für eine liebevolle Eltern-Kind-Beziehung engagiert, auf die Beine gestellt habe und der nun nach zwei Jahren wieder – unterstützt von Sponsoren – in Hamburg stattfand.

Während ihres professionellen Umgangs mit jungen Familien im Rahmen der Trageschule Hamburg, der Institution Einfach Eltern® und der Familienbegleitung im Sinne des Konzeptes „Kinder besser verstehen” befanden Ludwig und Schwarz, dass sich längst vorhandenes Wissen noch nicht bei allen ExpertInnen in der Geburtshilfe und frühen Elternschaft rumgesprochen habe. Sie beschlossen, dieses Fachwissen nicht nur an Frauen und interessierte Laien, sondern gezielt über Kongresse vor allem an andere Fachleute zu bringen. Hebammen waren eine Fachgruppe, die besonders angesprochen wurde. Mit rund 200 Teilnehmerinnen waren sie tatsächlich am zahlreichsten erschienen und demonstrierten wieder einmal ihr Interesse an einer familienfreundlichen Geburtshilfe. ÄrztInnen dagegen waren kaum vertreten. Viele junge Mütter waren gekommen, die zum großen Teil ihre Babys mitbrachten und im großen Ballsaal des Hotels Grand Elysée und in zwei kleineren Tagungsräumen ihren Platz fanden, wenn sie nicht in den Stillraum auswichen, wo alles per Bildschirm zu verfolgen war.

Kompetente Kinder

Den ersten Vortrag im gut besetzten Ballsaal hielt die Journalistin und Mutter von drei kleinen Kindern Nora Imlau, die schon beim ersten Kongress dabei war. Sie schreibt für die Zeitschrift Eltern und war vielen der Zuhörerinnen offensichtlich gut bekannt. Ihre Botschaft, die sie eloquent und lebendig aussandte: Eltern müssten nicht alles allein entscheiden. Die Babys würden schon den Weg aufzeigen, auch auf sie könne man eine Art Verantwortung übertragen. Um diese Verantwortung definieren zu können, schilderte sie zunächst das Spannungsfeld: Bis Ende der 1980er Jahre waren Säuglinge unterschätzte Wesen, ihnen wurde sogar ein Schmerzempfinden abgesprochen. 20 Jahre später wurden sie dagegen oft überschätzt mit Glaubenssätzen, wie: „Jedes Kind kann allein ein- und durchschlafen”. Anhand eines Faktenchecks, wie sie es nannte, betonte Imlau, was Neugeborene tatsächlich alles schon können, etwa das Zur-Brust-Kriechen (Breastcrowl), das Erkennen der Stimme von Mutter und Vater nach der Geburt, die Fähigkeit zur Selbstregulation, die aber sehr unterschiedlich ausgeprägt sei.

Wichtig sei es zu wissen, dass die Kompetenzen auch ihre Grenzen hätten. So könne ein Baby sich nicht bewusst zwischen Flasche und Stillen entscheiden oder zwischen Kinderwagen und Getragenwerden in einem Tuch. Imlau ist überzeugt, dass Stillen und Getragenwerden sowie das Schlafen bei den Eltern als „artgerechte” Grunderfahrungen so wichtig seien, dass die Eltern dies ihren Kindern ermöglichen müssten – es sei denn, es gebe triftige Gründe im Einzelfall dagegen.

Tragen und Getragenwerden

Der Däne Dr. Henrik Norholt, der hauptberuflich für eine Tragehilfen-Firma die wissenschaftlichen Grundlagen etablieren will, erläuterte, dass in den 1950er und 1960er Jahren übertriebene Hygiene-Vorstellungen einen für die Psyche des Kindes ungesunden Abstand zwischen dem Baby und seiner Mutter hergestellt hätten. Das Bindungsverhalten sei dadurch in der damaligen Zeit extrem gestört worden. Ausführlich beschrieb Norholt den entwicklungspsychologischen Strange-Situation-Test von Mary Ainsworth, um die Art der jeweiligen Mutter-Kind-Bindung bezüglich der Kriterien von John Bowlby einzuordnen: Dabei verlässt die Mutter den Raum und ihr spielendes Kind. Wie sich das Kind verhält beim Verlassen und Wiederkehren der Mutter zeige, ob die Bindung sicher, unsicher-vermeidend, unsicher-ambivalent sei oder ob das Kind sogar ein desorganisiertes Verhalten zeige.

Norholt beschrieb, was jeweils aus diesen Kindern im Erwachsenenalter werde. Laut seinen Angaben sind nur 55 Prozent der Erwachsenen sicher gebunden, 19 Prozent leiden unter ungelösten Traumen nach frühkindlichem desorganisiertem Verhalten, 16 Prozent verhalten sich vermeidend, 9 Prozent sind unsicher-ambivalent. Diese Zahlen würden bedeuten, dass nur rund 60 Prozent der Erwachsenen eine sichere Bindung zu ihren Kindern aufbauen könnten, was jedoch durch den Partner auch kompensierbar sei. Auf jeden Fall müsse bei den Erwachsenen angesetzt werden, um etwas zu verändern. Das Fazit von Norholt: Eltern müssten feinfühliger werden. Und dabei würde ein häufiger Körperkontakt wie beim Tragen helfen – mittels dem dabei ausgeschütteten Oxytocin.

Die Diplompädagogin Katia Saalfrank wirbt um Verständnis für Kinder mit auffälligem Verhalten.

Hypnose hebt das Selbstbewusstsein

In der Veranstaltung der Hebamme und Hypnotiseurin Lisi Sobotta aus Hamburg zum Thema Hypnose saßen fast ausschließlich Hebammen. Ihr Thema ist die Angst unter der Geburt. Sie meint, dass dieses Gefühl vor allem durch Erzählungen hervorgerufen werde. Zu oft würden negative Erfahrungen stark betont, die eine Angst schürten, dass das Kind oder die Frau selbst einen Schaden erleiden würden, dass Schmerz und Kontrollverlust zu groß werden könnten. Hypnose könne aus der Angst herausführen. In einem Zustand totaler Entspannung, der einem Tagtraum gleiche und den man immer wieder trainieren müsse, könne sie das Unterbewusstsein in Sitzungen von vier Mal zwei Stunden neu programmieren.

Die Schwangere solle ermuntert werden, sich die Geburt schön vorzustellen. So werde dem Schmerz schon sprachlich keine Grundlage gegeben. Statt von Wehen würde Sobotta nur von Wellen sprechen. Die Geburt solle mehr als sportliches Ereignis angegangen werden, ähnlich einem Marathon müsse man sich mit guter Ernährung und Training darauf vorbereiten. Das Erleben in der Hypnose stärke das Selbstbewusstsein, reduziere Angst und Schmerzempfinden unter der Geburt.

Andere Vorträge an dem Tag hielten zum Beispiel die Hebamme Regine Gresens über intuitives Stillen, die Psychologin Veronila Windsor-Oetel über peripartale Depressionen sowie die Diplom-Pädagogin Katia Saalfrank über auffälliges Verhalten bei Kindern und Jugendlichen. Saalfrank plädierte eindringlich für mehr Beziehung als Erziehung und mehr Verständnis für ein vermeintlich ungezogenes Verhalten von Kindern. Sie fühle sich wie ein emotionaler Detektiv, der in dem Wasser, das ein Kind umgibt, Proben entnimmt, um dieses Element zu verbessern. Sie unterlasse das, was andere bereits tun, nämlich am Kind herumzudoktern. Überforderung oder Vernachlässigung ziehe auffälliges Verhalten nach sich. Wenn dann in einer Spirale der Missverständnisse die Kon­trolle zu sich und anderen verloren gehe, höre ein Kind auf zu fühlen.

Wirkungsvolle Wendepunkte

Den zweiten Tag begann der weltweit bekannte französische Geburtshelfer Michel Odent mit einem Vortrag über Wendepunkte. Heute gebe es einen großen Widerspruch zwischen kultureller Konditionierung und Wissenschaft. So habe vor 50 Jahren schlicht niemand im Krankenhaus gewusst, dass Neugeborene ihre Mütter direkt nach der Geburt brauchen. Es sei ein feststehendes Ritual gewesen, dass sie sofort ins Säuglingszimmer kamen. In punkto Stress seien wir laut Odent kulturell so konditioniert, dass wir uns davor schützen sollten. Jedoch lernten wir nun durch die Physiologie: Unter der Geburt sind Stresshormone sogar gut für das Kind, sie sind wichtig für die Lungenreifung. Noradrenalin ist wichtig für den Geruchssinn nach der Geburt, um den Geruch der mütterlichen Brust erkennen zu können.

Ein weiteres Beispiel für einen Wendepunkt betraf die Hygiene: Mikroben habe man lange – kulturell gewachsen – als Feinde betrachtet. Heute meinten BakteriologInnen, dass Babys davon nicht genug bekommen könnten, denn Bakterien schützten etwa vor Immunkrankheiten und Diabetes mellitus. Honoriert wurde der Vortrag mit Standing Ovations. Viele zückten ihre Handys, um Odent zu fotografieren.

Bedürfnis nach Kontakt

Der Verhaltensbiologe Dr. Joachim Bensel, der Forschungen zum Säuglingsschreien durchführte und das Abschiedsverhalten in Krippen untersuchte, bezog sich auf Odent, als er meinte, dass Stress tatsächlich auch positive Aspekte habe. Aber er müsse zu bewältigen sein, damit ein Kind daraus gestärkt hervorgehen könne. Er erläuterte, dass Menschen früher in Kleingruppen heranwuchsen, in denen es keinen Einschnitt verbunden mit einer Trennung von der Mutter gab.

Zweijährige könnten in der Krippe noch nicht entscheiden, an welcher Tätigkeit sie mitmachen möchten. Dies sei ein falsch verstandener Partizipationsgedanke, zuerst müsse das Kontaktbedürfnis gestillt sein. Allerdings betonte Bensel, dass nicht nur die Mutter die allmächtige Person für alles Mütterliche sei. Ein „Allmothering” durch Tanten, Freundinnen und ältere Geschwister sei durchaus wünschenswert, denn wir seien Kollektivbrüter. Nur im Pflegeverbund sei eine derart aufwändige Aufzucht wie bei uns Menschen möglich. Bensel sprach sich für eine behutsame schrittweise Erweiterung der Mutter-Kind-Dyade aus.

Sehr bewegend war der Vortrag über das Babyheilbad von der Hebamme und Craniosacraltherapeutin Brigitte Meissner aus Winterthur in der Schweiz, die mit dieser Methode seit 16 Jahren Geburtstraumen heilt. Das gebadete Baby kommt nass auf die nackte Haut der Mutter, beide werden in Decken eingehüllt. Meissner ist sich sicher, dass die dabei auftretende Wärme den Ausstoß von Oxytocin begünstige, wobei jede Heilung möglich sei – auch noch Jahre nach der Geburt. Meissner nennt es auch Bindungsbad. Für sie gehören auch Notfalltropfen und Wildrose ins Wasser.

Wichtig für einen Kongress über Attachment war der Vortrag von der Biologin Evelin Kirkilionis, die das Traglingskonzept als ein stammesgeschichtlich relevantes Betreuungsmodell für jeden Tag betrachtete. Die Affen tragen ihre Jungen erst vor dem Bauch, später auf dem Rücken. Als Traglinge bezeichnete der Verhaltensbiologe Bernhard Hassenstein 1970 die Affenkinder. Die Menschen unterscheiden sich laut Kirkilionis davon nur insoweit, als dass sich Babys nicht selbst festhalten können. Das Tragen bewirke eine positive Stimulation auf die körperliche wie geistige Entwicklung. Und: Durch das Tragen klappe das Stillen besser.

Ein frauenzentrierter Ansatz

Zu einer der letzten parallel laufenden Veranstaltungen gehörte ein Vortrag des Geburtshelfers Dr. Wolf Lütje, Chefarzt im Hamburger Amalie-Sieveking-Krankenhaus, über Geburtshilfe und psychische Gesundheit. Die erfahrene Hamburger Hausgeburtshebamme Gabriele Langer-Grandt sprach über Attachment und Parenting in der Schwangerschaft und während der Geburt. Sie betonte, wie tief bewegt sie vom ersten gemeinsamen Kongress der Hebammen und Mütter gewesen sei, der sie in einer Zeit des Haderns in ihrem Selbstverständnis als Hebamme neu motiviert hätte. Sie habe nämlich gespürt, dass die Schicksale von Frauen und Hebammen eng verknüpft seien.

Eine Veränderung gehe nur gemeinsam. Wenn in einer Zeit der Überbetreuung und einer Überzahl von Sectiones die Frauen die physiologische Geburt verlernten, dann würden dies auch die Hebammen tun. Gemeinsam müssten sie sich gegen die Fremdbestimmtheit der Schwangerschaft wehren.

Gemäß Odent möchte sie den frauenzentrierten Ansatz aufleben lassen und der Zuversicht Raum geben. Frauen müssten vor unnützem Einsatz von Techniken geschützt werden. Es wäre eine nötige Revolution und Wende, dass die Frauen endlich sagen würden: Meine Schwangerschaft gehört mir. Die Frau sei die Expertin und müsse auch eine Verantwortung übernehmen, betonte Langer-Grandt. Attachment Parenting bedeute für sie: an die Fähigkeiten glauben.

Zitiervorlage
Heimbach B: 2. Attachment Parenting Kongress: Kollektivbrüter und Traglinge. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2017. 69 (1): 66–68
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