Wirkungsvolle Wendepunkte
Den zweiten Tag begann der weltweit bekannte französische Geburtshelfer Michel Odent mit einem Vortrag über Wendepunkte. Heute gebe es einen großen Widerspruch zwischen kultureller Konditionierung und Wissenschaft. So habe vor 50 Jahren schlicht niemand im Krankenhaus gewusst, dass Neugeborene ihre Mütter direkt nach der Geburt brauchen. Es sei ein feststehendes Ritual gewesen, dass sie sofort ins Säuglingszimmer kamen. In punkto Stress seien wir laut Odent kulturell so konditioniert, dass wir uns davor schützen sollten. Jedoch lernten wir nun durch die Physiologie: Unter der Geburt sind Stresshormone sogar gut für das Kind, sie sind wichtig für die Lungenreifung. Noradrenalin ist wichtig für den Geruchssinn nach der Geburt, um den Geruch der mütterlichen Brust erkennen zu können.
Ein weiteres Beispiel für einen Wendepunkt betraf die Hygiene: Mikroben habe man lange – kulturell gewachsen – als Feinde betrachtet. Heute meinten BakteriologInnen, dass Babys davon nicht genug bekommen könnten, denn Bakterien schützten etwa vor Immunkrankheiten und Diabetes mellitus. Honoriert wurde der Vortrag mit Standing Ovations. Viele zückten ihre Handys, um Odent zu fotografieren.
Bedürfnis nach Kontakt
Der Verhaltensbiologe Dr. Joachim Bensel, der Forschungen zum Säuglingsschreien durchführte und das Abschiedsverhalten in Krippen untersuchte, bezog sich auf Odent, als er meinte, dass Stress tatsächlich auch positive Aspekte habe. Aber er müsse zu bewältigen sein, damit ein Kind daraus gestärkt hervorgehen könne. Er erläuterte, dass Menschen früher in Kleingruppen heranwuchsen, in denen es keinen Einschnitt verbunden mit einer Trennung von der Mutter gab.
Zweijährige könnten in der Krippe noch nicht entscheiden, an welcher Tätigkeit sie mitmachen möchten. Dies sei ein falsch verstandener Partizipationsgedanke, zuerst müsse das Kontaktbedürfnis gestillt sein. Allerdings betonte Bensel, dass nicht nur die Mutter die allmächtige Person für alles Mütterliche sei. Ein „Allmothering” durch Tanten, Freundinnen und ältere Geschwister sei durchaus wünschenswert, denn wir seien Kollektivbrüter. Nur im Pflegeverbund sei eine derart aufwändige Aufzucht wie bei uns Menschen möglich. Bensel sprach sich für eine behutsame schrittweise Erweiterung der Mutter-Kind-Dyade aus.
Sehr bewegend war der Vortrag über das Babyheilbad von der Hebamme und Craniosacraltherapeutin Brigitte Meissner aus Winterthur in der Schweiz, die mit dieser Methode seit 16 Jahren Geburtstraumen heilt. Das gebadete Baby kommt nass auf die nackte Haut der Mutter, beide werden in Decken eingehüllt. Meissner ist sich sicher, dass die dabei auftretende Wärme den Ausstoß von Oxytocin begünstige, wobei jede Heilung möglich sei – auch noch Jahre nach der Geburt. Meissner nennt es auch Bindungsbad. Für sie gehören auch Notfalltropfen und Wildrose ins Wasser.
Wichtig für einen Kongress über Attachment war der Vortrag von der Biologin Evelin Kirkilionis, die das Traglingskonzept als ein stammesgeschichtlich relevantes Betreuungsmodell für jeden Tag betrachtete. Die Affen tragen ihre Jungen erst vor dem Bauch, später auf dem Rücken. Als Traglinge bezeichnete der Verhaltensbiologe Bernhard Hassenstein 1970 die Affenkinder. Die Menschen unterscheiden sich laut Kirkilionis davon nur insoweit, als dass sich Babys nicht selbst festhalten können. Das Tragen bewirke eine positive Stimulation auf die körperliche wie geistige Entwicklung. Und: Durch das Tragen klappe das Stillen besser.
Ein frauenzentrierter Ansatz
Zu einer der letzten parallel laufenden Veranstaltungen gehörte ein Vortrag des Geburtshelfers Dr. Wolf Lütje, Chefarzt im Hamburger Amalie-Sieveking-Krankenhaus, über Geburtshilfe und psychische Gesundheit. Die erfahrene Hamburger Hausgeburtshebamme Gabriele Langer-Grandt sprach über Attachment und Parenting in der Schwangerschaft und während der Geburt. Sie betonte, wie tief bewegt sie vom ersten gemeinsamen Kongress der Hebammen und Mütter gewesen sei, der sie in einer Zeit des Haderns in ihrem Selbstverständnis als Hebamme neu motiviert hätte. Sie habe nämlich gespürt, dass die Schicksale von Frauen und Hebammen eng verknüpft seien.
Eine Veränderung gehe nur gemeinsam. Wenn in einer Zeit der Überbetreuung und einer Überzahl von Sectiones die Frauen die physiologische Geburt verlernten, dann würden dies auch die Hebammen tun. Gemeinsam müssten sie sich gegen die Fremdbestimmtheit der Schwangerschaft wehren.
Gemäß Odent möchte sie den frauenzentrierten Ansatz aufleben lassen und der Zuversicht Raum geben. Frauen müssten vor unnützem Einsatz von Techniken geschützt werden. Es wäre eine nötige Revolution und Wende, dass die Frauen endlich sagen würden: Meine Schwangerschaft gehört mir. Die Frau sei die Expertin und müsse auch eine Verantwortung übernehmen, betonte Langer-Grandt. Attachment Parenting bedeute für sie: an die Fähigkeiten glauben.