Abbildung 1: Zweifarbige Lippen (two tone lips) und Lippenschwielen (Saugbläschen) durch kraftvolle Mithilfenahme der Lippen, um die Brust zu halten. Foto: © Katja Rösen
Ein zu kurzes Zungenband kann dazu führen, dass die Zunge nur eingeschränkt beweglich ist. Es wird durch einen embryologischen Gewebeüberrest in der Mittellinie des Körpers zwischen der Unterseite der Zunge und dem Mundboden verursacht. Der physiologische Prozess, das Gewebe um die zwölfte Schwangerschaftswoche zu resorbieren, ist als Apoptose und bei Ausbleiben als angeborene anatomische Fehlbildung bekannt.
Die Ankyloglossie kommt familiär gehäuft vor. Sie ist prozentual häufiger beim männlichen Geschlecht vertreten. In der Fachliteratur wird die Prävalenz zwischen 2 % und 25 % angegeben. Diese erhebliche Variation lässt sich durch die unterschiedlichen diagnostischen Kriterien erklären. Die tatsächliche Zahl scheint deutlich höher zu sein, da die meisten Studien nur die direkt augenfälligen, zu kurzen Zungenbänder berücksichtigen (siehe Abbildung 8).
Das Gewebeband kann zu kurz, zu dick, zu fest, zu weit vorne, mittig oder hinten an der Zunge verwachsen sein oder sich submukös befinden. Ist die Zungenbeweglichkeit durch das zu kurze Band eingeschränkt, kann eine Behandlung notwendig sein. Eine Ankyloglossie kann zu vielen Still- und Folgeproblemen führen.
Im Idealfall werden oral einschränkende Bänder so früh wie möglich entdeckt und nach Vorbereitung durch die Stillberatung und die Begleittherapie von Körpertherapeuten (zum Beispiel Osteopathie oder Craniosakraltherapie) von fachkundigen MedizinerInnen nach internationalem Standard mittels CO2-Laser oder mit der Schere getrennt (Frenotomie/siehe Abbildung 5). Diese entscheiden dann mit den Eltern über eine gleichzeitige Durchtrennung anderer einschränkender oraler Bänder, wie Lippenbänder oder auch Wangenbänder. Posteriore und mediane Zungenbänder werden weniger häufig als anteriore Zungenbänder diagnostiziert. Sie fallen nicht direkt ins Auge, wie die meist sichtbare typische Herzform, die das anteriore Zungenband verursacht (siehe Abbildung 8).
Durch neuere Ultraschalluntersuchungen während des Stillvorgangs ist belegt, dass die Zunge wichtige Funktionen erfüllt, um das Kind effektiv trinken zu lassen.
Das Vakuum spielt eine große Rolle bei der Milchentleerung der Brust. Diese wird mit dem vorderen Anteil der Zunge festgehalten und folgt dem Unterkiefer in Auf- und Abwärtsbewegungen. Die Lippen helfen dabei, den Mund gegen die Brust abzudichten. Beim physiologischen »Melkvorgang« wird die Mamille nicht stark belastet, wenn man davon absieht, dass sie bis zur doppelten Länge eingesogen wird. Die Zunge muss die Fähigkeit besitzen, einen löffelförmigen Verschluss um die Mamille zu bilden und sie an den hinteren Teil des harten Gaumens zu drücken. Gleichzeitig muss sich der mittlere und hintere Teil der Zunge frei heben und senken können, um Kompression und wellenförmige Bewegungen in Abwechslung auszuüben. Sobald der Milchspendereflex ausgelöst wird, fließt Milch von der Mamille und sammelt sich als Bolus in der schalenförmigen Zunge. Mit dem Druck und der Welle wird der Milchbolus Richtung Pharynx gedrückt (Elad 2014).
Foto: © Katja Rösen
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Jedes anterior ansetzende Zungenband hat einen posterioren Zungenbandanteil. Die eigentliche Ursache der eingeschränkten Beweglichkeit liegt typischerweise am posterioren Anteil, also an dem Teil der Zunge, der eben nicht eindeutig beurteilbar ist beim Blick in den Mund. Hier ist dann eine weitere Überprüfung notwendig. In vielen Fällen wird dieser Anteil beim »schnellen Schnitt« nicht mit durchtrennt und somit das Grundproblem nicht gelöst.
Immer wieder kommt es auch zu Aussagen, wie: »Da ist kein Zungenband zu sehen«. Dann wird gerne dazu geraten abzuwarten, da sich die Bänder verwachsen oder noch ausdehnen würden. Dass dem nicht so ist, konnte in Studien belegt werden, da es sich in der Gewebestruktur um einen hohen Anteil an Typ1-Kollagen-Fasern handelt. Diese sind nur zu 3 % dehnbar, also bei 1 cm Länge nur 3 mm (Martinelli 2014).
Um eine reduzierte Zungenfunktion festzustellen, ist neben einer manuellen Untersuchung des Mundbereichs mit Erfassen der Zungen- und Lippenfunktion durch die Screenings eine gründliche Anamnese der Dyade unabdingbar. Derzeit gibt es noch zu wenige StillberaterInnen oder ÄrztInnen, die diese Fähigkeit besitzen, da das Thema im Studium und in der Ausbildung zur IBCLC nur am Rande behandelt wird. Beim Verdacht auf eine Ankyloglossie sollte Kontakt zu einer fortgebildeten Fachkraft aufgenommen werden.
Durch das ineffektive Entleeren der Brust kommt es häufiger zu einem Rückstau der Milch und nicht selten auch zu einer Mastitis mit Abszess.
So kann es im Verlauf gegebenenfalls zur Herunterregulierung der Milchmenge kommen, wenn die Nachfrage nicht produktiv ist. Bei der Stillenden kann das zu dem Gefühl führen, plötzlich zu wenig Muttermilch zu haben, weil der Säugling in manchen Fällen dauerhaft an der Brust zu sein scheint und nicht entsprechend zunimmt.
Diese Babys sind oft unzufrieden und lassen sich nur schwer beruhigen. Sie scheinen immer hungrig zu sein. Auch an der Brust gibt es keine wirkliche Entspannung, sie schwitzen vermehrt, zeigen ein »Ran-Weg-Verhalten«, docken erschwert an, haben eine ungenügende Mundöffnung und erfassen die Brust somit nicht effizient. Das Stillen wird von den Müttern als stressige Situation beschrieben.
Aufgrund des unphysiologischen Saug- und Schluckaktes kommt es zu Milchverlust aus dem Mundwinkel, zu Verschlucken, zu verstärktem Luftschlucken und daraufhin zu Blähungen, Koliken, luftbedingtem Reflux sowie verstärktem Schluckauf und Aufstoßen. Auch hier werden die Eltern aus Unwissenheit oft mit einer Aussage wie »Speikinder sind Gedeihkinder« oder mit der Diagnose »Dreimonatskoliken« beruhigt und erschreckenderweise oft schon direkt mit Medikamenten wie beispielsweise Sab Simplex oder Nexium versorgt (Baxter 2018; Kotlow 2011).
Auch das Atemmuster kann durch die nicht korrekte Zungenruhelage betroffen sein und zeigt sich in Apnoen, die für die Eltern vorrangig als nächtliche Unruhe erkennbar sind (Huang 2015).
Eher bekannte Hinweise sind Schmerzen beim Stillen sowie schmerzende, verformte, wunde, gequetschte und blutig-rissige Mamillen, die sich durch ein optimiertes Management nicht dauerhaft beheben lassen. Eher unbekannt in diesem Zusammenhang ist der Vasospasmus, der in dem Fall in einer mechanischen Ursache begründet liegt. Folge ist das «Weißwerden”(Blutleere) der Mamille. Dies ist nicht zwingend schmerzhaft, der Milchfluss kann aber beeinträchtigt sein, auch weil der Milchspendereflex oft nur ungenügend, also verspätet ausgelöst werden kann. Der Vasospasmus ist somit keinem Magnesiummangel anzulasten und kann demzufolge auch nicht durch eine Supplementierung erfolgreich behandelt werden.
Das Vakuum an der Mamille kann, je nach Kompensation und Ausprägung, schlecht oder gar nicht gehalten werden. Die Mütter berichten in dem Fall von klickenden, schnalzenden oder schmatzenden Geräuschen beim Trinken. Die Babys versuchen nicht selten, sehr kraftvoll die Mamille, respektive den Flaschensauger, mit den Lippen einzusaugen, was wiederum die weite Mundöffnung behindert und die Einstülpung der Lippe verursacht. Als »Schwiele« tritt das Saugbläschen an den Lippen, hauptsächlich an der Oberlippe, auf (siehe Abbildungen 1 und 7).
Das Einstülpen beziehungsweise das inkomplette Anheben der Lippe als solches kann eine Lippenbandproblematik imitieren, wenngleich das ursächliche Hindernis eigentlich das Zungenband ist. Wenn die Lippe durch ein sehr kurzes und straffes Lippenbändchen eingezogen ist, kann dies den Mundschluss und das korrekte Saugen behindern. Das verkürzte Lippenband kann ein Marker für die Existenz weiterer orofazialer Hindernisse wie ein kurzes Zungenband sein (siehe Abbildungen 3 und 4).
Ein Milchbelag auf der Zunge, der besonders auf dem hinteren Zungenrücken ausgeprägter ist als im vorderen Anteil, ist in der Regel keine Pilzinfektion. Er kann ein Zeichen sein, dass der Zungenrücken sich nicht optimal zum Gaumen bewegen kann, um sich dort zu reinigen (siehe Abbildung 9).
Auch, wenn auf ersten Blick und ohne manuelle Untersuchung keine eindeutige Ursache für die aus einer Ankyloglossie resultierenden Probleme gefunden werden kann, gibt es viele kleine Hinweise, die als Puzzleteile ein Ganzes ergeben können. Es zahlt sich aus, auf die Gaumenform, die eigentliche Zungenform und ebenso die Aktivität der Zunge zu achten. Ist der Gaumen sehr hoch und das Zungenband sehr kurz, kommt die Zunge in Ruhelage nicht hoch, um den Gaumen und daraufhin den Kieferbogen zu formen (siehe Abbildungen 3 und 6). Wird die Zunge in der Mittellinie am Mundboden festgehalten, können sich besonders in Aktion eine Längsrille an Oberfläche und Unterfläche, eine Einkerbung an der Spitze und ungewöhnliche Zungenformen ergeben (siehe Abbildung 8). Die Aussage, dass keine Bewegungs- und Funktionsbeeinträchtigung vorliegt, wenn die Zunge herausgestreckt werden kann, ist fachlich nicht richtig.
Treten in der Vollstillphase keine Probleme auf, was selten der Fall ist, fallen diese Babys vielleicht erst beim Zahnen oder mit dem Beikoststart auf, wenn das physiologische Saug-Schluckmuster mehr und mehr durch das Kau-Schluckmuster ersetzt wird. Dann wird beispielsweise beim Stillen deutlich mehr »gebissen« und »geklemmt« oder die Beikosteinführung ist erschwert, da die Seitwärtsbewegung der Zunge scheitert. Ebenso kann der Würgereflex vorverlagert sein und die Kinder würgen schon bei Berührung des vorderen Gaumens.
Form und Funktion beeinflussen sich gegenseitig, so kann die falsche Zungenruhelage und offene Mundhaltung zu einem gestörten Schluckmodus führen, der wiederum zum offenen Biss und zu Zahnfehlstellungen. Babys, die eine Asymmetrie aufweisen, eine »Lieblingsseite« haben und insgesamt sehr hyperton wirken, bedürfen einer osteopathischen Behandlung und bei bestehenden Problemen einer Zungenfunktionsuntersuchung.
Andere werden erst später durch nicht zu behebende Sprachfehler, Zähneknirschen, Zahnfehlstellungen, Zahndefekte wie Karies, Schnarchen und Apnoen oder deutlich häufigere Infekte der oberen Atemwege (durch Mundatmung) auffällig, da der Wachstumsdruck auf den Oberkiefer und das Mittelgesicht fehlt.
Die Kieferform bleibt dann hoch, eng und schmal und es bleibt kaum Raum für eine freie Atmung und die Zähne. Der Nasenboden kann sich nicht absenken und die Nasennebenhöhlen sowie die Eustachsche Röhre bleiben eingeengt. Im weiteren Verlauf können zusammenhängende Folgen bis ins Erwachsenenalter, wie zum Beispiel Craniomandibuläre Dysfunktion – eine Funktionsstörung des Kausystems – und Haltungsprobleme daraus resultieren. Der Kiefer kann sich nur ideal entwickeln, wenn die Zunge ihn ausformt. Dafür muss sie sich frei zum Gaumen heben und angesogen werden können. Für eine gesunde Entwicklung ist die geschlossene Mundhaltung mit Nasenatmung ein Muss. Ein Neugeborenes kommt schon mit Kompensationen zur Welt, da bereits im Mutterleib die ersten Schluckversuche beginnen.
Eine Störung im orofaszialen Bereich ist ganzheitlich zu betrachten und zu behandeln. Die Vorbereitung und auch Nachbehandlung findet interdisziplinär mit geschulten KollegInnen aus den Berufszweigen der Stillberatung, der Körpertherapie sowie der Logopädie statt. Das Trennen des Bandes sollten MedizinerInnen nach neuestem internationalem Wissen in einem minimalinvasiven Eingriff ohne Vollnarkose vornehmen. Sie sollten Teil eines Netzwerks sein – eines Teams aus StillberaterInnen, OsteopathInnen, LogopädInnen und ÄrztInnen, die im Thema gründlich fortgebildet sind. Die eigentliche Frenotomie ist nur ein Teil des Prozesses. Parallel wird mit speziellen Trainings, auf jedes Kind abgestimmt, im Team die Funktion des Zungenrückens gestärkt und stabilisiert und andere Kompensationen abgebaut und in Funktion umgewandelt. Die Eltern werden hierzu genau angeleitet.
Die myofunktionelle Therapie kommt im Babyalter nur eingeschränkt zum Einsatz, da hier aktive Mithilfe erforderlich ist. Ein erstes Ziel der Therapie besteht außerdem darin, die Zungenruhelage am Gaumendach mit einem Lippenschluss zu erreichen. Die alleinige Durchtrennung bringt oft nicht den ersehnten und vor allem dauerhaften Erfolg. Ein frühzeitiges Abstillen ist vorprogrammiert, denn der Körper bleibt häufig in seinen Kompensationsmechanismen. Der Prozess beginnt, je nach Befund, vorbereitend einige Termine vor der Banddurchtrennung und wird nach dem Eingriff zusätzlich zu den anderen Therapien mit einem aktiven Wundmanagement unterstützt. Dass die Nachbehandlung durch das Dehnen der Wunde (Zunge sowie Lippe) von großer Bedeutung ist, um einen Rückfall und das sogenannte Re-Attachment zu verhindern, ist Konsens bei SpezialistInnen. Lediglich über die Dauer herrscht Uneinigkeit, hier gibt es Empfehlungen zwischen drei und sechs Durchgängen täglich über einen Zeitraum zwischen zwei und sechs Wochen.
Die Bedeutung des aktiven Wundmanagements liegt darin, der primären Wundheilung vorzubeugen. Dabei heilen beide Seiten des Einschnitts zusammen und versuchen, das ursprüngliche Erscheinungsbild des Gewebes wiederherzustellen. Ziel dieser Art der Wundbehandlung ist es, beiden Wundrändern eine separate und unabhängige Heilung zu ermöglichen. Langfristig sollen die volle Beweglichkeit und Funktionalität ermöglicht werden. Säuglinge, die mit einer oralen Einschränkung geboren wurden, profitieren von den koordinierten Bemühungen eines gut informierten Teams, um das Stillen erfolgreich und angenehm zu gestalten.
Das Frenulum Linguale breve sollte möglichst früh diagnostiziert und therapiert werden. Therapie bedeutet nicht eine sofortige Frenotomie. Die Funktion entscheidet darüber, ob ein chirurgischer Eingriff nötig ist. Ein fachgeschultes, interdisziplinäres Team sowohl für die Diagnostik als auch für die Vorbereitung und die Nachbehandlung wird benötigt. Eine frühe Intervention vermeidet Folgeprobleme.
Baxter R: Don´t get that tongue-tie clipped or snipped … Get a full release instead. Tongue Tied 2018 Alabama Tongue-Tie Centre. 1. Aufl. 2018. https://tonguetieal.com/get-a-full-release/
Elad D: Biomachanics of milk extraction during breast-feeding. https://blog.pnas.org/2014/04/the-mechanics-of-breastfeeding/
Ghaheri B: Breastfeeding Improvement Following Tongue Tie and Lip Tie. The Laryngoscope The American Laryngological, Rhinological and Otological Society, Inc 2016
Huang et al.: Short Lingual Frenulum and Obstructive Sleep Apnea in Children. Int J Pediatr Res 2015. 1:1. https://clinmedjournals.org/articles/ijpr/ijpr-1-003.pdf
Kotlow L: Infant Reflux and Aerophagia Associated with the Maxillary Lip-tie and Ankyloglossia (Tongue-tie) 2011. Clinical Lactation 2011. Vol. 2-4, 25–29. https://www.kiddsteeth.com/assets/pdfs/articles/aerophagia_2011.pdf
Kotlow L: Tethered oral tissues as a differential diagnostic tool in infants and toddlers presenting with obstructive sleep apnoea and air induced reflux. www.kiddsteeth.com. 2019
Kotlow L: The significance of tongue and lip ties and why you should consider correcting them. www.kiddsteeth.com/assets/pdfs/articles/ttfactssheet.pdf
Lopes de Castro Martinelli R et al.: Histological Characteristics of Altered Human Lingual Frenulum. International Journal of Pediatrics and Child Health 2014. 2, 5–9. https://www.researchgate.net/publication/283328196_2014_Martinelli_Marchesan_et_al_- _Histological_Characteristics_of_Altered_Human_Lingual_Frenulum_Int_J_Pediatrics_and_Child _Health_2014_25-9