Zwei Wachtmeister sitzen während der Verhandlungstage neben der großen Tür im Gerichts­saal. Zeichnung: © Nikolaus Baumgarten

Ende September geht es am Landgericht Dortmund weiter im Schwurgerichtsprozess gegen die seit Anfang September inhaftierte Ärztin und Hebamme. Der Tod eines Kindes bei seiner außerklinischen Geburt aus Beckenendlage im Juni 2008 wird ihr zur Last gelegt. Sie ist wegen Totschlags angeklagt. (siehe auch DHZ 4/2013, 5/2013, 6/2013, 8/2013 und 10/2013).

»Ich bitte um Entschuldigung, dass wir zu spät gekommen sind«, eröffnet der Vorsitzende Richter Wolfgang Meyer den 27. Sitzungstag der Hauptverhandlung am 25. September kurz vor 10 Uhr – sie war für 9.30 Uhr angesetzt gewesen. »Ich habe festzustellen, dass die Angeklagte vorgeführt wurde. Wir waren vor acht im Hause. Nicht, dass die Verzögerung auf ver­spätetes Eintreffen zurückzuführen wäre, das ist nicht der Fall.« Rechts neben der großen Tür sitzen zwei Justizwachtmeis­ter im Gerichtssaal. Sie werden die inhaf­tierte Geburtshelferin in den folgenden zwei Verhandlungstagen unter ihrer Ob­hut haben. Während der letzten Sitzung am 5. September war sie festgenommen worden und sitzt seitdem in Untersu­chungshaft in der Justizvollzugsanstalt Gelsenkirchen. Das Gericht  befürchtet »Verdunklungsgefahr« – dass die Angeklagte Beweismittel vernichten, manipulieren, unterdrücken oder beiseite schaffen könn­te. Mit Beweismitteln sind die Organe des verstorbenen Kindes gemeint. Bis zum letz­ten Verhandlungstag hatten sie sic  bei der Ärztin befunden und sind seitdem Ge­genstand ausführlicher Erörterung. Über die Haftbeschwerde der Verteidigung, die am 9. September beim Landgericht ein­gegangen war, hatte es zwei Tage später abschlägig entschieden. Anschließend wurde die Beschwerde an das Oberlandes­gericht Hamm weitergeleitet. Dort sind Fristen für Stellungnahmen abzuwarten, beispielsweise von der Staatsanwaltschaft. Daher wurde vom zuständigen Strafsenat noch nicht darüber entschieden.

Befangenheitsgesuch

Der Pflichtverteidiger Hans Böhme be­ginnt, im Namen seiner Mandantin einen Befangenheitsantrag gegen die Kammer zu verlesen: Die Angeklagte lehne die Be­rufsrichter wegen der Besorgnis der Befan­genheit ab. In der Begründung geht er auf den letzten Prozesstag ein, als die sachver­ständige Fetalpathologin Dr. Göcke bei ih­rer Vernehmung erklärt hatte, dass sie die in Formalin liegenden Organe des verstor­benen Mädchens am Vorabend im Hause der Ärztin und Hebamme in Augenschein genommen habe.

Dort hätten sie sich rechtmäßig mit Einverständnis der Eltern befunden. Die Angeklagte habe die Gewebeteile vor der endgültigen Vernichtung bewahrt, um weitere Untersuchungen zu ermöglichen. Damals sei der Leichnam von der Staats­anwaltschaft zur Feuerbestattung freige­geben gewesen. Nach der Obduktion seien alle Organe in einem Kunststoffbeutel zu­rück in den Körper des Kindes gelegt wor­den. In diesem Zustand habe die Ärztin sie an sich genommen. Die Organentnahme sei der Staatsanwaltschaft bekannt gewe­sen und in der Hauptverhandlung mehr­fach erörtert worden.

Der Vorsitzende Richter habe nach der erwähnten Aussage der Fetalpathologin sofort die Verhandlung unterbrochen und eine Hausdurchsuchung angeordnet. »Er hat die Angeklagte zuvor nicht gefragt, wo sich die Organe befänden und ob sie sie freiwillig herausgebe«, beanstandet Böh­me.Vor allem habe der Vorsitzende Richter Meyer mehrfache Angebote seiner Kolle­gen Prof. Dr. Hans Lilie und Mark Sendow­ski, »die sofortige Herausgabe zur Sicher­stellung innerhalb kürzester Frist« zu veranlassen, mit dem Hinweis abgelehnt, »dass er ein anderes Vorgehen plane.«

Bis zur Hausdurchsuchung sei nicht erkennbar gewesen, dass das Gericht die Organe zu Beweiszwecken haben wolle. Wären sie bei einer freiwilligen Überga­be entgegen genommen worden, hätte der damals anwesende Gerichtsmediziner Dr. Zweihoff gleich ihre Vollständigkeit über­prüfen können, zumal er sie selbst bei der Obduktion untersucht habe. Mit der Ab­lehnung hätten die Berufsrichter gezeigt, dass es ihnen »gar nicht um die Erhebung der Organe als Beweismittel ging, sondern um eine reine Machtdemonstration.« »Es ging der Angeklagten erkennbar darum, mögliche entlastende Beweismittel vor der Verbrennung zu bewahren.« Sie habe erst die Ergebnisse der Gutachten abwar­ten wollen, um dann ein genaues Unter­suchungsziel formulieren zu können. Das Vorgehen des Gerichts sei ein  Eingriff in die ordnungsgemäße Verteidigung. Rechtsanwalt Alexander Kurz, der Vertre­ter der Eltern als Nebenkläger, wirft ein: »Es trifft nicht zu, dass die Eltern einver­standen waren, dass die Angeklagte die Organe an sich nimmt, sondern dass sie sie auf Virusinfektionen untersuchen lässt und dafür nach Graz schickt.«

Der Vorsitzende bereitet sachlich die juristischen Schritte vor, damit eine an­dere Kammer desselben Gerichts über den Befangenheitsantrag gegen ihn und seine beiden Beisitzer entscheiden kann. »Jeden­falls wird die Verhandlung nicht bis mor­gen unterbrochen, sondern nur bis zum frühen Nachmittag«, kündigt er an.

Er habe im Übrigen mit Dr. Zweihoff Kontakt gehabt: Die Untersuchungsergeb­nisse der beschlagnahmten Organe seien frühestens nächste Woche zu erwarten. Er vermute aber, dass sie dem verstorbenen Mädchen zuzuordnen sind. Man wolle auch noch Speichelproben von den Eltern ein­holen. »Wir müssen sehen, ob wir bald zu Ende kommen und möglichst viel heute er­ledigen, dass wir morgen frei davon sind.« Offenbar ist Meyer zuversichtlich, dass sein Team nicht durch eine Vertretungskammer abgelöst werden muss. Nach kurzer Un­terbrechung gibt Richter Meyer gegen elf Uhr zu Protokoll, dass der Vorsitzende der Vertretungskammer telefonisch über das Befangenheitsgesuch informiert worden sei. Der Vorsitzende Dr. Windgätter habe ihn gebeten, der Angeklagten nebst Ver­teidigern eine Frist von zwei Stunden zur Stellungnahme auszurichten. Darauf wird die Sitzung bis 14 Uhr unterbrochen. In der Pause lassen die Wachtmeister der Ange­klagten und ihrem Lebenspartner ein paar Minuten Zeit miteinander, bevor sie im Keller in einer Zelle eingeschlossen wird.

Gesuch unbegründet

Gegen 14 Uhr tritt die Kammer ein. Der Vorsitzende Richter Meyer verliest, dass das Befangenheitsgesuch als unbe­gründet zurückgewiesen worden sei. Die angeordneten Maßnahmen der Kammer, insbesondere die Hausdurchsuchung seien aufgrund ihrer Aufklärungspflicht gebo­ten gewesen. Für ein willkürliches oder sachwidriges Verhalten gebe es keine An­haltspunkte.

Er müsse noch seine »dienstliche Äuße­rung« verlesen, um »die Vorgänge in der Hauptverhandlung vom 5.9. zur Kenntnis der Schöffen zu bringen«, erklärt er. Er sei nach Unterbrechung der Sitzung, als die Kammer gerade die Hausdurchsuchung beschlossen habe, von Prof. Dr. Lilie ange­sprochen worden. Der habe sich geäußert, er sei »ganz entsetzt«, was soeben zu er­fahren gewesen sei und habe ihn darauf
hingewiesen, dass für eine Beschaffung der entnommenen Organe gesorgt werden könne. Dies sei später von den anderen Ver­teidigern wiederholt worden. Darauf habe er sich jedoch nicht eingelassen, sondern zunächst ein Fax abgeschickt, um die Hausdurchsuchung in die Wege zu leiten. Er habe keinen Anlass dafür bieten wol­len, dass die Angeklagte telefonisch Drit­te hätte informieren können, sondern für die Anwesenheit der Polizei vor Ort sorgen wollen, um Eingriffe durch andere Perso­nen zu verhindern.

Meyer verliest weiter seine mehrseiti­ge Schilderung des Tagesverlaufs. Wie die Angeklagte auf seine Frage geantwortet habe, die gesuchten Gegenstände befän­den sich nicht in ihrem Haus, sondern in Dortmund. Anders als Böhme, schildert der Vorsitzende, dass er daraufhin nachge­fragt und keine Antwort erhalten habe, an welchem konkreten Ort sie sich befänden. Er habe daher angenommen, sie wolle die­se Gegenstände nicht zur Verfügung stel­len. In der nächsten Pause, als bereits der Haftbefehl im Raum stand, sei er wieder von Prof. Lilie angesprochen worden – die Organe befänden sich in einem Fahrzeug vor dem Gericht. Der habe angeboten, sie zu holen. Für die Kammer sei es darum gegangen, ob weitere Untersuchungen der Organe sachdienlich erschienen und ob sie zu dem Kind gehörten, um das es hier gehe. Schließlich seien die beschlagnahm­ten sechs Gläser an das Rechtsmedizini­sche Institut überbracht worden.

Auch den Bericht des Kriminaltech­nischen Instituts verliest er, wie es mit den Gläsern weiterging, wie sie fotogra­fiert worden waren, ebenso den Durchsu­chungsbericht eines Kriminalhauptkom­missars: »im Kühlschrank im Gefrierfach eine Tüte mit der Aufschrift ›giftig‹« und
»nach Rücksprache mit Richterin Hülsenbusch Durchsuchung des ganzen Objekts«. Wieder eine andere Facette der Gescheh­nisse vom 5. September. Dr. Zweihoff wird später feststellen, dass es Zwerchfell, Darm, Harnblase und Gebärmutter sind, die sich in der Tüte befinden. »Heute mor­gen teilte mir Dr. Zweihoff mit, dass alles dafür spricht, dass es sich um Organe des­selben Kindes handelt, und wenn es dassel­be ist, dann sind sie vollständig«, berich­tet der Vorsitzende vom aktuellen Stand der Dinge. Zur Situation der Inhaftierten äußert er, er wisse nicht, wann über die Haftbeschwerde entschieden werde. Es sei fraglich, »ob man nach den Untersuchun­ gen noch von einer fortgesetzten Verdunk­lungsgefahr ausgehen muss«.

Gegen 14.40 Uhr ist die Sitzung been­ det. Der Vorsitzende kündigt an, dass am nächsten Tag die Versammlung im Saal 23 um 9.30 Uhr stattfinden werde, wo weni­ger Platz sei. Die Eltern des verstorbenen Mädchens werden erwartet, um Speichel­proben zur Verfügung zu stellen für einen Abgleich mit der DNA der Organe. Sie sollen auch noch einmal vernommen werden, ab 11 Uhr auch die Sachverständigen. Rechts­anwalt Böhme erkundigt sich, ob die Kin­derpathologin Frau Dr. Göcke, die auch von den gerichtlich bestellten Sachverständi­gen befragt werden soll, ihrerseits die an­ deren Sachverständigen befragen darf. »Ja«, antwortet der Vorsitzende: »Wir sind an ei­ner sachlichen Klärung interessiert.«

28. Verhandlungstag

Am nächsten Tag herrscht Andrang vor dem kleinen Saal. Neben den regelmäßi­gen Zuschauer:innen ist auch ein Kurs von 15 Hebammenschülerinnen mit ihren Lehrenden gekommen. Die Presse darf vorab ihre Plätze beziehen. Der Künstler Nikolaus Baumgarten hat schon begonnen, eine räumliche Gesamtansicht zu skizzie­ren. Die Staatsanwältin wendet sich leise an den Vorsitzenden Richter, worauf die­ser den Zeichner nach vorne an den Rich­tertisch bittet. Die Staatanwältin dürfe er nicht zeichnen, ordnet der Richter freund­lich bestimmt an.

»Prof. Dr. Lilie hat sich für heute abge­meldet«, informiert der Vorsitzende, als er die Anwesenheit der geladenen Teil­nehmerinnen feststellt. Zuerst sollen die Eltern vernommen werden. Das deutsche Paar, das aus Riga angereist ist, hatte 2008 die Hebamme und Ärztin nach intensiven Recherchen aufgesucht, nachdem es sich in Lettland vergeblich um eine BEL-Geburt ohne Kaiserschnitt bemüht hatte. »Wir ha­ben mit Ihnen erörtert, welche Auswirkun­gen das Geschehen, welche Gedanken und Nöte Sie hatten. Es geht um Behandlungen, Aufenthalt in der Klinik und Hilfe, die in Anspruch genommen wurde«, wendet sich Meyer an die Mutter. »Darauf bin ich nicht vorbereitet«, zögert sie, es sei schon lange her. Sie habe von Ende 2008 bis Sommer 2009 von Lettland aus an einer Internetge­stützten Therapie, einem Angebot der Uni­versität Zürich für trauernde Eltern teilge­nommen. Sie habe auch 15 bis 20 Mal an einer Gesprächstherapie teilgenommen. Für die Krankenkasse sei die Diagnose »posttraumatisches Belastungssyndrom« gestellt worden. Im Januar 2010 habe sie sich außerdem zwei Wochen stationärer Behandlung unterzogen. »Ich hatte dann einen Werkzeugkoffer in der Hand, für die Gefühle, die mich überfallen haben.« Der Vorsitzende fragt nach wiederkehrenden Alpträumen: »Gab es Inhalte, die unmittelbar mit Ihrer Tochter zusammenhingen?« Nun ringt die Befragte mit ihrer Fassung. »Ihre Reaktion zeigt…«,  murmelt Meyer
und fragt nach weiteren Behandlungen bei einer Psychotherapeutin. Wie es ihr dann bei ihrem nächsten Kind gegangen sei, erkundigt sich Meyer. »Da ist es wie­der verstärkt hoch gekommen«, antwor­tet sie. »Sie wissen, dass wir Organe von Ihrer Tochter gefunden haben?«, möchte Meyer wissen. »Es hat mich berührt”, be­schreibt die Mutter ihre erste Reaktion auf die Nachricht: »Ich dachte, ich wüsste wo sie sind – bei der Rechtsanwältin oder in Dortmund in der Gerichtsmedizin.« »Ich habe das komplett verdrängt.«

»Wie sieht es sonst aus – normaler Ta­gesablauf, fragt der Vorsitzende. »Ich bin froh mit meiner Tochter, habe eine berufliche Stelle – damit geht es mir gut.« Meyer fragt abschließend nach ih­rer Hebammenausbildung. Die habe sie aufgegeben, antwortet die Befragte. Ober­staatsanwältin Susanne Ruland möchte wissen: »Sind Sie davon ausgegangen, dass das Kind schon vor der Geburt tot war?« Die Eltern seien am Nachmittag vor der Geburt davon ausgegangen, dass ihr Kind verstorben sei, hatte die Vertei­digung im Laufe des Verfahrens geäußert, als es um einen möglichen intrauterinen Hirntod als Todesursache gegangen war. »Nein, überhaupt nicht!«, antwortet die Mutter. »Keine weiteren Fragen«, verkün­det Ruland. Auch die Verteidigung hat keine Fragen.

Der Vater des verstorbenen Mädchens wird auch noch einmal vernommen. »Jetzt wo unsere zweite Tochter größer wird, wenn man sieht, wie lebendig die Kleine ist, ist der Schmerz umso größer, dass un­sere erste Tochter diese Chance nicht hat­te.« Zum Tag der Geburt im Juni 2008 be­fragt, erinnert er sich: »Wir hatten Sorgen.« Er bestätigt nicht, dass die Eltern am Nach­mittag gedacht haben sollen, ihre Tochter sei gestorben. Der Vorsitzende fragt nach Kindsbewegungen. »Ziemlich kurz vor der Geburt«, erinnert sich jetzt die Mut­ter, etwa bei der vorletzten Presswehe, da hätte sie gespürt, »dass etwas weggegan­gen« sei, »ihre Seele«. Sie habe einen Rie­senschreck gekriegt und sich gefragt, ob ihr Kind gestorben sei. Das Herztongerät habe mit seinen Störgeräuschen Unruhe ausgelöst.

Der Vorsitzende Richter hat seine Ver­nehmung der Eltern abgeschlossen. Er stellt ihnen frei, zu bleiben und die Sach­verständigen anzuhören. Das möchten sie. Eine 20-minütige Pause wird angeordnet. Die Tochter der Angeklagten darf kurz ihre Mutter begrüßen.

Die Kinderpathologin widerspricht

Um 11.15 Uhr geht es weiter – inzwi­schen haben sich auch die Sachverständigen eingefunden. Die beiden Kinderpatho­log:innen: Dr. Helga Göcke aus Bonn, seit fünf Jahren im Ruhestand, und Prof. Dr. Ivo Leuschner aus Kiel – sie von der Ver­teidigung gestellt, er vom Gericht bestellt. Außerdem der Dortmunder Gerichtsmedi­ziner Dr. Ralf Zweihoff sowie der Geburts­helfer Prof. Dr. Axel Feige aus Nürnberg, als ehemaliger Chefarzt ebenfalls im Ru­hestand. Der Vorsitzende bittet Dr. Göcke, ihre fachlichen Ausführungen in Grund­zügen zu wiederholen, er sei beim letzten Mal abgelenkt gewesen. Die Ärztin setzt zu einem detaillierten Vortrag an (siehe DHZ 10/2013). Die besondere Form des Herzens sei ihr aufgefallen, berichtet sie beispiels­weise, die Herzspitze habe eine Doppelung aufgewiesen. Sie habe eine Anomalie bei einem Gefäß am Herzen festgestellt, die im Obduktionsbericht nicht erwähnt ge­wesen sei. Sie widerspricht Einschätzun­gen der anderen Gutachter, wonach alle Organe des kleinen Mädchens regelrecht entwickelt gewesen seien. Auch dass man­che Untersuchungen nicht durchgeführt worden seien, die sie für erforderlich halte, kritisiert sie – ebenso, dass Befunde von kleineren Abweichungen fehlten. »Auch diskrete Veränderungen müssen doku­mentiert werden«, fordert sie – Dr. Zwei­hoff habe mangelhaft gearbeitet. Auf die Lungenanlage geht sie ausführlicher ein, die nach ihrer Einschätzung zu wenig Substrat enthalten und damit eine Or­ganschwäche aufgewiesen habe. Deshalb habe sie sich bei der Reanimation nicht entfalten können, so dass das Kind nach 26 Minuten gestorben sei. »Ich kann nur darauf hinweisen, dass im Gutachten steht: überwiegend Atelektasen mit kei­nem Nachweis entzündlicher Infiltrate«, bremst der Vorsitzende ihre weiteren Aus­führungen zur Lunge und fragt: »Warum ist das im Gutachten nicht rausgekommen?« »Weil Dr. Zweihoff das nicht kann«, entgegnet die Kinderpathologin kritisch: »Sie müssen eine Menge Schnitte machen, um das zu beurteilen.« Zweihoff hatte nur drei oder vier histologische Befunde der Lunge erhoben.

Ihre Vermutung sei, dass das Kind an einer seltenen genetischen Erkrankung gelitten habe. Sie erklärt: »Ich muss eine Ausschlussdiagnostik machen. Darf ich mir die Bilder ansehen? Wo liegen die Brustwarzen?« Der Vorsitzende lädt sie nach vorne ein und legt ihr Aufnahmen der Kriminalpolizei vom damaligen »Tat­ort« vor. Sie sieht ihre Vermutung bestätigt und erklärt dem Richter genau, wo sie die Mamille des Kindes erwarten würde und wo sie sie stattdessen auf der Fotografie vorfinde. »Das sind alle Bilder?«, fragt sie nach. »Ja, die sind von der Polizei gefertigt worden«, erklärt ihr der Vorsitzende. »Kei­nes von Pathologen?«, fragt sie weiter und dann verbindlicher: »Ich freue mich sehr, dass es wenigstens ein Bild vom Kind gibt.« Das Krankheitsbild, das sie als Diagnose vermute, nenne sich »asphyxierende Thoraxdysplasie«. »Es wäre hilfreich gewesen, wenn man ein Röntgenbild gehabt hätte«, bemängelt sie. »Haben Sie Fotos der Orga­ne, Herr Richter Meyer – darf ich mir die angucken?«, bittet sie. »Wir haben Zweifel… woher wissen Sie, dass Sie dieselben Or­gane vorgelegt bekommen haben?«, fragt der Vorsitzende skeptisch. Die Kinderpa­thologin antwortet: »Nun kommt man ja nicht gerade leicht an Organe von Feten.« Die »asphyxierende Thoraxdysplasie« werde autosomal-rezessiv vererbt und sei sehr selten – mit einer Häufigkeit von 1 zu 70.000, in Deutschland 9 Fälle pro Jahr. Sie habe in 35 Berufsjahren 6 Kinder mit einer solchen Erkrankung obduziert, die bei der Geburt verstorben seien – teilweise nach einem Kaiserschnitt.

Als der Richter seine Vernehmung be­endet hat, fragt Oberstaatsanwältin Su­sanne Ruland, wie der Kontakt mit der Angeklagten zustande gekommen sei. Dr. Göcke beschreibt, wie Dr. Eldering, den sie beruflich lange kennt, sie am Karfreitag angerufen habe. Sie sei zwar nicht mehr tätig, stelle ihre Kenntnisse aber zur Ver­fügung, habe sie angeboten. Die hier an­geklagte Ärztin und Hebamme habe sie am 10. Mai erstmalig in Bonn getroffen. »Hatten Sie da schon Schriftstücke?«, möchte die Oberstaatsanwältin wissen. An dem Tag noch nicht, erklärt Göcke. Sie habe dann alle Gutachten eingesehen und dann das Obduktionsprotokoll von Dr. Zweihoff und ein Blatt aus dem Gutachten des Neu­ropathologen mit nach Hause genommen. Am folgenden Wochenende habe sie sich mit den Befunden auseinandergesetzt.

»Jetzt wird es Zeit, dass ich Ihnen zeige, wie ich das mache«, wendet sich die Patho­login dem Richter zu und zeigt ihm eine Tabelle: In einer Spalte stehen die Norm­werte, in einer anderen die erhobenen Be­funde und in einer weiteren das Ausmaß der Abweichungen von der mittleren Per­zentile. »So verschaffe ich mir den ersten Überblick.« In diesem Fall mit den Werten des verstorbenen Mädchens, die sie den Gut­achten entnommen habe.

Die Oberstaatsanwältin möchte diese Details nicht wissen, sondern ob sie ge­wusst habe, dass sich Organe im Besitz der Ärztin und Hebamme befänden. »Zu dem Zeitpunkt noch nicht«, antwortet sie und geht ihren Terminkalender durch. Sie habe am 23. Mai einen Brief von der Ärz­tin und Hebamme erhalten. Am 28. Mai habe sie Prof. Dr. Lilie ihre Einschätzung zur Todesursache, zu den Grund- und Ne­benleiden nach Aktenlage mitgeteilt. Am 3. Juni habe Rechtsanwalt Sendowski sie informiert, dass sie zu den nächsten Pro­zessterminen nicht zu kommen brauche. Am 8. Juli habe man sich in Bonn getrof­fen. »Da habe ich zum ersten Mal die Or­gane gesehen«, gibt die Kinderpathologin an. »Ihnen wurde gesagt, das sind die Or­gane«, betont Ruland und erkundigt sich: »Ist Ihnen bekannt gewesen, dass im Tief­kühlfach der Angeklagten ein Paket mit Organen mit der Aufschrift ›giftig‹ vorhan­den war?« »Ich habe vorgeschlagen, dass wir das Genitale und den Darm für Foto­grafien nicht mehr brauchen…«, beginnt die Pathologin die Sachlage zu erklären. Doch die erregte Oberstaatsanwältin un­terbricht in scharfem Ton, sie habe dies in der Vernehmung am 5. September nicht ausgesagt, das sei also eine Falschaussage gewesen. »Jetzt möchte ich die Protokol­lantin bitten…«, versucht Dr. Göcke die damalige Befragung zu rekonstruieren. Auch der Vorsitzende Richter pflichtet der Oberstaatsanwältin streng bei: »Sie müs­sen die richtigen Antworten geben.« »Das lasse ich nicht gelten, Herr Richter Meyer!«, wehrt sich Dr. Göcke entschieden. »Sie ha­ben unvollständig ausgesagt«, maßregelt der die Gutachterin. »Sie haben mich gar nicht ausreden lassen! Wenn ich an dem Tag noch hätte weiter sprechen dürfen…« Es entwickelt sich ein Wortgefecht.

»Wie ist es dann weitergegangen?«, fragt die Oberstaatsanwältin schließlich: »Wei­tere Aktenstücke haben Sie nicht gesehen?« Am 30. August habe sich die Hebamme und Ärztin mit ihr und Rechtsanwalt Sendowski in Bonn verabredet. Dort seien ihr das Gutachten von Prof. Dr. Leuschner, zwei Blätter des Notarztprotokolls und die Fotokopie eines Briefes über die Plazenta übergeben worden.

Die Oberstaatsanwältin spricht noch einmal die Organe im Tiefkühlfach an. Dr. Göcke berichtet, am Abend des 8. Juli habe sie die Organe aufgeteilt – das eine seien Gewebeteile gewesen, die für weitere Untersuchungen nicht benötigt worden seien. Die anderen Gewebe habe sie für den Transport zur Uniklinik nach Bonn in sechs kleinere Gläser umgefüllt. »War­um haben Sie die Organe nicht selbst un­tersucht?« fragt die Oberstaatsanwältin. »Weil ich kein eigenes Labor mehr habe«, erklärt Dr. Göcke. »Sind Ihres Wissens die Organe in Bonn angekommen?«, wird sie gefragt. Sie sei Zeugin gewesen, wie die Ärztin und Hebamme mit der Kinderpa­thologin Frau Prof. Müller in Bonn tele­foniert habe. »Es wurde dabei vereinbart, dass sie die Untersuchung vornimmt.« »Wie kommt es, dass Sie immer so hoch- emotional engagiert sind?«, möchte die Oberstaatsanwältin wissen. »In diesem Fall, weil ich der Auffassung bin, dass Kinder das schwächste Glied in unserer Gesellschaft sind. Es ist mir unerträglich, dass den Eltern die Trauerarbeit verwei­gert wird«, begründet die 70-Jährige ihren Einsatz, die Todesursache herauszufinden. Auf die Frage des Vorsitzenden, warum sie die Organe nicht an das gerichtsmedizini­sche Institut übergeben habe, antwortet sie: »Ich habe gewusst, dass die Organe durch die Hände des Gerichtsmediziners gegangen waren. Welche Gründe hätte ich gehabt, sie an die Gerichtsmedizin zurück­ zugeben? Sie hatten dort alle Möglichkei­ten gehabt.«

Als Prof. Dr. Feige beginnt, der Gut­achterin Fragen zu stellen, wendet sich die Oberstaatsanwältin gereizt an den Vorsitzenden: »Der zeichnet da immer noch!« Der Gerichtszeichner muss ihm alle Skizzen vorlegen. »Frau Oberstaats­anwältin, es gibt tatsächlich keine wei­tere Ausführung«, beruhigt Meyer. Nur die erste Zeichnung vom Morgen, wo ihre Figur im Umriss angedeutet ist, erbittet Meyer höflich, um sie zu vernichten. Mit einigen Fragen von Prof. Dr. Feige – Prof. Dr. Leuschner und Dr. Zweihoff verzich­ten auf Fragen – ist die Vernehmung von Dr. Göcke gegen 13.20 Uhr abgeschlossen.

Gutachter bestätigen Einschätzung

Auch der Nachmittag verläuft fach­lich anspruchsvoll. Dr. Zweihoff wird ver­nommen, ob er etwas zu korrigieren oder ergänzen habe. Der bestätigt sein bisher erstattetes Gutachten und relativiert die Aussagen der Kinderpathologin. Er bezweifelt die Aussagekraft des Fotos vom verstor­benen Mädchen. Es sei nicht in korrekter Rückenlage aufgenommen worden, um daran die Position der Mamillen beurtei­len zu können. Auch in anderen Punkten widerspricht er Dr.Göcke. Sie fragt ihn eingehend nach seinen Untersuchungen, so dass er zurückfragt: »Machen wir hier eine Facharztprüfung?«

Prof. Dr. Leuschner erstattet anschlie­ßend sein vom Gericht bestelltes Gutach­ten. Er bestätigt die Gutachten und die Kompetenz seiner Gutachterkollegen. Bei der Beurteilung der Normwerte habe Dr. Göcke eine zuverlässige Tabelle von Vogel vorgelegt. Er habe aber noch eine andere Tabelle von einem Experten aus Großbritannien, danach lägen alle Organe im Normbereich. Es gebe große Variabilitä­ten. Der Diagnose »Bilaterale Lungenhy­poplasie bei Asphysxierender Thoraxdys­plasie« möchte er sich nicht anschließen. »Ich finde die These interessant, kann sie aber nicht nachvollziehen«, urteilt er. Als Sendowski fragt, ob er in diesem Fall wei­tere Untersuchungen veranlasst hätte, ver­neint er. Zu viele Untersuchungen seien Ressourcenverschwendung.

Gegen 16.45 Uhr wird Prof. Dr. Feige vernommen. Auf das Krankheitsbild, das die Fetalpathologin vermutet, hätte man vorab im Ultraschall aufmerksam werden müssen, durch die besondere Form des Thorax. Der Ultraschallbefund sei aber un­auffällig gewesen. Feige bleibt bei seiner Einschätzung, dass das Kind an einer intra­uterinen Asphyxie verstorben sein müsse – verursacht durch den Geburtsverlauf.

Noch benommen von den intensiven Eindrücken  dieser zwei Tage, werde ich auf der Treppe des Landgerichts von einer jungen Frau angesprochen. Sie sei eine der Hebammenschülerinnen, die im Gerichts­saal mit dabei waren. Auf eine so vorein­genommene Stimmung gegen die ange­klagte Ärztin und Hebamme sei sie nicht vorbereitet gewesen. »Warum haben Sie darüber bisher nicht geschrieben?«, fragt sie, schließlich sei die Presse die vierte Ge­walt im Staat.

Wieder »auf freiem Fuß«

Nach fünf Wochen Untersuchungshaft befindet sich die Ärztin und Hebamme wieder »auf freiem Fuß«. Das Schwurge­richt am Landgericht Dortmund hat den Haftbefehl am 9. Oktober aufgehoben, weil sich bislang keine Anhaltspunkte für eine Manipulation der Organe ergeben hätten, die gerichtlich angeordneten DNA­ Untersuchungen noch nicht durchgeführt werden konnten und auch nicht klar sei, ob dies überhaupt noch möglich sei. Die Entlassung der Geburtshelferin aus der Strafvollzugsanstalt Gelsenkirchen fällt auf den Nachmittag ihres 60. Geburtstags. Die nächste Verhandlung am 16. Okto­ber endet schon bald. Die Angeklagte sitzt bleich, in erkennbar schlechtem Zustand an ihrem Platz neben ihrem Pflichtvertei­diger. Seit der Entlassung ist sie erkrankt und kann ärztlicherseits nur für 45 Minu­ten der Verhandlung folgen. Ob die nächs­ten Termine eingehalten werden können, bleibt offen.


Hinweis: Fortsetzung folgt.


Zitiervorlage
Baumgarten K: Gerichtsreportage, Teil 6: Fünf Wochen inhaftiert. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2013. 65 (11): 62–65
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