Eine ExpertInnenkommission der DGMM verabschiedete im Sommer 2013 eine Stellungnahme zur Manuellen Medizin im Kindesalter. Dabei fand sich ein einheitlicher Konsens für den Einsatz von manuellen Techniken bezüglich Indikation, Diagnostik und Therapie (DGMM 2013). Darüber hinaus wurden Empfehlungen zur manuellen Behandlung von Säuglingen ohne systemische Grundkrankheiten erarbeitet (Sacher et al. 2013). Da bei vielen KinderärztInnen, Hebammen und GeburtshelferInnen Unsicherheiten über die Vorgehensweise in Bezug auf die Indikation, Diagnostik und Behandlung von Säuglingen mit Hilfe manueller Techniken bestehen, seien diese Empfehlungen als Orientierungshilfe zusammengefasst.
Funktionelle Störungen des sensomotorischen Systems im Säuglingsalter sind nicht selten. Sie können die sensorische und die motorische Spontanentwicklung beeinflussen. Darüber hinaus ergeben sich Wechselwirkungen mit der affektiven Verarbeitung von einlaufenden Wahrnehmungsinformationen und der initialen Bewertung eigener motorischer Leistungen bis hin zur Entwicklung von Sozialstrukturen wie dem Bindungsverhalten.
Verschiedene Auffälligkeiten der sensomotorischen Organisation des Säuglings können ihren Ursprung in dysfunktionalen Afferenzen des propriozeptiven Systems haben. Dies können zum Beispiel sein:
Ätiopathogenetisch werden neben einer genetischen Prädisposition peripartale Traumen, intrauterine Zwangslagen und anderes mehr diskutiert. In diesen Fällen kann eine manualmedizinische und/oder osteopathische Behandlung hilfreich sein. Denn dabei bestehen keine systemischen Grunderkrankungen, wie neurologische Störungen, genetische Anomalien, Dysplasien oder Stoffwechselerkrankungen. Manualmedizinische sowie osteopathische Diagnose- und Behandlungsstrategien unterscheiden sich teilweise erheblich. Gemeinsames Ziel ist jedoch unter anderem die Reorganisation des sensomotorischen Systems. Diese Strategien werden im Weiteren unter dem Begriff „manuelle” Diagnostik und Behandlung zusammengefasst.
Die manuelle Behandlung im Säuglingsalter hat sich trotz des Fehlens einer klassisch evidenzbasierten Studienlage (derzeit Evidenzstufe IV) im kinderärztlichen Alltag etabliert (DGMM 2013). Dabei bereitet der häufig anzutreffende, undifferenzierte Einsatz solcher Behandlungsformen, die ohne ärztliche Indikation und funktionelle Diagnosestellung erfolgen, zunehmend Sorge.
Die Indikationsstellung zur manuellen Behandlung ist eine ärztliche Aufgabe und basiert auf der Anamnese, der klinischen Untersuchung des Patienten mithilfe entwicklungsneurologischer und neuropädiatrischer Verfahren sowie den individuellen Erfahrungen und der differenzialdiagnostischen, gegebenenfalls bildgebenden Abklärung des klinischen Befundes. Unerlässlich ist darüber hinaus die Erhebung des manuellen Untersuchungsbefunds, der letztlich zur Indikationsstellung führt. Gemäß den Grundsätzen allgemeinen ärztlichen Handelns liegt die fachgerechte Indikationsstellung, die eine entsprechende Ausbildung und ausreichende Erfahrung voraussetzt, in der Verantwortung des Arztes. Aushilfsweise sollte die Hinzuziehung eines erfahrenen ärztlichen Kollegen erfolgen.
Früh- und Termingeburtlichkeit – oder die aus den verschiedenen Geburtsverläufen resultierenden mechanischen Belastungen – stellen keine Indikation zur manuellen Diagnostik oder Therapie dar. Die manuelle Routineuntersuchung von Kindern jeden Alters und insbesondere von Früh- und Neugeborenen ist abzulehnen. Die Indikationsstellung im frühen Säuglingsalter – unter zwölf Wochen – sollte restriktiv erfolgen und ist Aufgabe des erfahrenen Arztes. Die radiologische Untersuchung ist Bestandteil der Diagnostik und Differenzialdiagnostik.
Die Vorgehensweise bei manuellen Behandlungen unterliegt allgemeinen Grundsätzen der Regulationsmedizin in Bezug auf ihre Sparsamkeit und somit Mechanismen der Reiz-Antwort-Beziehungen. Behandlungseffekte ergeben sich demzufolge nach einer individuell variablen Latenzzeit, die zwischen einigen Tagen und drei bis sechs Wochen liegen kann. Der Abstand zwischen den Sitzungen sollte dabei im Regelfall vier Wochen betragen. Serielle Behandlungen werden abgelehnt. Voraussetzung für jede weitere manuelle Behandlung ist die ärztliche Überprüfung der erneuten Indikation.
Die Kontrolle des Behandlungserfolgs kann auch durch den Kinderarzt erfolgen. Erfahrungsgemäß bietet sich dafür ein therapiefreies Intervall von zwei bis drei Wochen an. Die Kontrolle erfolgt auf der Grundlage der allgemein- und neuropädiatrischen Überprüfung der sensomotorischen Entwicklung unter Beachtung der Lage-, Haltungs- und Bewegungssteuerung sowie gegebenenfalls vegetativer Verhaltensweisen.
Funktionelle Auffälligkeiten des sensomotorischen Systems sind bei Früh- und Neugeborenen nicht selten und unterliegen im Rahmen der Anpassungsphase an das extrauterine Leben meist Mechanismen der Autoregulation. Sie sistieren oft in den ersten Lebenstagen. Darüber hinaus entwickeln manche Säuglinge funktionelle Störungen des Bewegungssystems erst nach Tagen oder Wochen. Einige Kinder bleiben symptomfrei. Bei einer manuellen Routineuntersuchung im frühen Säuglingsalter ergäben sich zwangsläufig viele transitorische, falsch-positive und falsch-negative Untersuchungsergebnisse, die zudem keine sichere Korrelation zur weiteren Entwicklung des Säuglings aufweisen. Routineuntersuchungen sind daher abzulehnen. Das Neugeborene benötigt Zeit, sich mit Aufgaben des extrauterinen Lebens auseinanderzusetzen.
Sollte dennoch im Einzelfall der behandelnde Kinderarzt in diesem Alter eine Indikation zur manuellen Untersuchung stellen, bedarf es dafür eines manuell geschulten ärztlichen Kollegen, der die weiterführende Untersuchung und gegebenenfalls Behandlung übernimmt.
Trotz der zum Teil sehr unterschiedlichen manualmedizinischen beziehungsweise osteopathischen Behandlungsansätze ergeben sich einheitliche Erfahrungen bezüglich der Grundsätze manueller Therapien. Die hohe Effektivität einer fachgerecht durchgeführten manuellen Behandlung von Säuglingen ohne systemische Grunderkrankung basiert auf und resultiert aus der Sparsamkeit ihres Einsatzes. Sie erfolgt im Rahmen weiterer kinderärztlicher Therapiestrategien. Der überwiegende Teil entsprechend auffälliger Kinder benötigt eine bis gelegentlich zwei Behandlungen.
Insbesondere nach Behandlung vor Erreichen der Kopfkontrolle ist der junge Säugling nur bedingt in der Lage, passive mechanische Belastungen (Bagatelltraumen) auszugleichen mit der Folge einer Rezidivgefährdung. Eventuell spielen hierbei auch Regulationsphänomene der intentionellen Bahnung des motorischen Systems eine Rolle. Daher ist in dieser Altersgruppe eine Nachbehandlung jenseits des dritten Entwicklungsmonats häufiger indiziert.
Die Behandlungsabstände betragen dabei im Regelfall vier Wochen. Die manuelle Behandlung von Säuglingen jenseits des dritten Monats ist bei dem überwiegenden Teil der Fälle eine Einmalbehandlung. Die Behandlung und Verlaufsüberwachung ist beendet, wenn sich – eventuell bestehende – transitorische neurologische und entwicklungsdynamische Muster normalisiert haben, die posturale Organisation (Stabilität der aufrechten Körperhaltung) keine Auffälligkeiten zeigt und die statokinetischen Reaktionen seitengleich physiologisch auslösbar sind.
Die Indikation zur manuellen Behandlung wird durch einen erfahrenen ärztlichen Kollegen und auf Grundlage der diagnostischen sowie differenzialdiagnostischen Erwägungen gestellt. Die eventuelle Delegierung einer manuellen Behandlung an nichtärztliche Therapeuten beschränkt sich auf Indikationen wie dem Vorliegen von begleitend manuell zu behandelnden Befunden bei kombinierten systemischen Grunderkrankungen.
Viele Haltungs- und Bewegungsasymmetrien bei jungen Säuglingen (unter drei Monaten) ohne Verdacht auf das Bestehen von systemischen Grunderkrankungen unterliegen aufgrund der Bahnung des intentionellen motorischen Systems einer hohen Spontanreorganisation. Daher sollten manuelle Untersuchungs- und Behandlungsverfahren zurückhaltend und keinesfalls als Routineverfahren eingesetzt werden.
Bei Vorliegen von vegetativen Regulationsstörungen oder in Kombination mit der Entwicklung spezifischer Formen von Bindungsstörungen, morphologischen Asymmetrien (ausgeprägte Plagiozephalie) oder anderen Auffälligkeiten, wie Still-, Saug- und Schluckstörungen, kann eine Indikation zur manuellen Diagnostik und gegebenenfalls Therapie frühzeitig vorliegen.
Die Indikationsstellung zur manuellen Untersuchung von Säuglingen ist eine ärztliche Aufgabe und ergibt sich aus differenzialdiagnostischen Erwägungen. Sie setzt fachspezifische Kenntnisse zur manuellen Befunderhebung voraus und liegt in der Verantwortung des entsprechend weitergebildeten Arztes.
Früh- und Termingeburtlichkeit oder die aus verschiedenen Geburtsverläufen resultierenden mechanischen Belastungen des Kindes sind keine Indikation zur manuellen Diagnostik oder Therapie. Manuelle Routineuntersuchungen oder serielle Behandlungen von Säuglingen ohne Vorliegen systemischer Grunderkrankungen werden abgelehnt.
Diese Empfehlung ist mit dem Präsidium der Deutschen Gesellschaft für Manuelle Medizin (DGMM) abgestimmt.
DGMM: Manuelle Medizin im Kindesalter – DGMM-Konsens zu Symptomenkomplexen, Diagnostik und Therapie. Man Med. 51: 414–425 (2013)
Sacher, R.; Seifert, I.; Coenen, W. et al.: Empfehlungen zur manuellen Untersuchung und Behandlung von Säuglingen mit funktionellen Störungen der sensomotorischen Organisation und ohne Vorliegen systemischer Grunderkrankungen. Man Med. 51 (6): 465–467 (2013)