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Wie können digitale Arbeitsmittel im Gesundheitswesen genutzt werden? Im Interview mit einer heutigen Verwaltungs­angestellten im Gesundheitswesen, die Erfahrungen aus Großbritannien und Deutschland mitbringt, werden die Systeme verglichen. 

Die Interviewte lernte in Deutschland zunächst den Beruf der Masseurin und der medizinischen Bademeisterin, studierte dann Medizin und zog anschließend nach Großbritannien. Dort war sie 20 Jahre in der Pflege, als medizinische Sekretärin und in der Buchhaltung tätig. Seit 2004 arbeitete sie außerdem für eine Schule für Kinder mit geistigen und körperlichen Behinderungen. Von 2016 bis 2018 war sie in der Uniklinik in Cambridge angestellt, die auch über eine geburtshilfliche Abteilung verfügt. Sie organisierte dort unter anderem die Therapie für Kinder, die mit Fußverformungen geboren wurden.

Im vergangenen Jahr kehrte sie nach Deutschland zurück. Sie arbeitet seitdem als Verwaltungsangestellte in einem Fachkrankenhaus und kann nun von ihren Erfahrungen mit zwei sehr unterschiedlichen Niveaus der Digitalisierung berichten.

Tara Franke: Hatten Sie vor dem Wechsel nach Großbritannien in Deutschland mit Verwaltungstätigkeiten zu tun?

Anonym: Ich habe eine Ausbildung im medizinischen Bereich gemacht, war aber nicht in der Verwaltung tätig.

Sie haben dann mit Ihrem Umzug das britische Gesundheitssystem aus der Sicht der Administration kennengelernt. Was war damals Ihr Eindruck von der dortigen Professionalität und dem Stand der Digitalisierung im Gesundheitswesen?

1998 habe ich das britische Gesundheitssystem zunächst als Patientin kennengelernt. Alle patientInnenbezogenen Informationen wurden im Computer eingegeben und nicht – wie auch heute noch vielerorts in Deutschland üblich – handschriftlich auf einer Karteikarte festgehalten. Mit der vermehrten Nutzung des Internets konnten PatientInnen auch über ein Einlogg-System einen Termin buchen oder Medikamente für Rezeptverschreibungen vorbestellen. Ich war dennoch erst einmal von den langen Wartezeiten überrascht, die denen heute in Deutschland gleichen. FachärztInnen arbeiten in Großbritannien im Krankenhaus und nicht, wie in Deutschland, in eigener Praxis.

Auf welchem Stand war die Digitalisierung, als Sie in die Uniklinik in Cambridge wechselten?

In der Klinik in Cambridge wurde 2015 gerade die Top-Digitalisierung durchgeführt, nämlich das bisherige NHS-KIS – National Health Service-Krankenhaus-Informationssystem – durch das US-amerikanische EPIC-Softwaresystem – Elektronisches Patienten Informationssystem – abgelöst. Innerhalb der Administration war dieses Programm sehr beeindruckend, da es entsprechend der rechtlichen Aufgabenverteilung mit oder ohne Schreibschutz allen Betreuenden Zugriff auf alle PatientInnendokumente gab. Die Arbeit wurde dadurch sehr beschleunigt und erleichtert.

Ist Großbritannien da besonders innovativ?

Nein. Andere Länder, die dieses Programm im Gesundheitssystem einsetzen, sind zum Beispiel Japan, Australien,
Dubai, Dänemark oder die Niederlande.

Sind also mittels dieser Software alle Daten digital hinterlegt? Auch die Dokumentation? Gibt es überhaupt noch PatientInnenakten in Papierform, wie sie in Deutschland geführt werden?

Das System funktioniert papierlos. Briefe an PatientInnen werden natürlich weiterhin in Papierform und postalisch versendet.

Haben die PatientInnen mit EPIC auch selbst einen direkten Zugriff auf die Daten?

Nein. Es gibt aber einen Service, bei dem HausärztInnen ambulante Termine für ihre PatientInnen buchen können (E-referral oder Elektrische Überweisung). Dementsprechend ist eine bestimmte Anzahl an ambulanten Terminen im Krankenhaus durch die Direktüberweisung vom Hausarzt freigegeben.

Wie wurden die Angestellten in der Administration in die neue Software eingeführt?

Die Schulung im System war in Großbritannien verpflichtend. Es bestand außerdem wöchentlich die Möglichkeit, an weiteren Schulungen teilzunehmen. Die Teams der Klinik konnten IT-SpezialistInnenen für ihre spezifischen Fragen und Prozessklärungen buchen. Das System findet als gesamtes Krankenhaussystem aber nicht vollkommenen Zuspruch.

Was meinen Sie damit?

Die Einführung eines neuen Programms weist immer auch Fehler oder Problemzonen auf, die für einen reibungslosen Ablauf bearbeitet werden müssen. So gab es an Schnittstellen Probleme mit der Weitergabe von Informationen an verknüpfte Programme, die entsprechend des EPIC-Anbieters nicht hätten auftreten sollen und zu Frustration und Verzögerung geführt haben.

In Deutschland gibt es aktuell noch von verschiedenen Seiten Bedenken wegen der Wahrung des Datenschutzes, da es sich im Gesundheitswesen um sehr intime und schützenswerte Daten handelt. Wie wurde das in Groß­britannien gelöst?

Die Versendung von Daten auf elektronischem Wege geschieht nur verschlüsselt. So ist beispielsweise das Versenden von Informationen per Fax völlig untersagt. Verstöße werden mit Geldstrafen für das jeweilige Krankenhaus belegt. Eine Überweisung ins Krankenhaus befindet sich ab dem Überweisungsdatum bis zur Erstbehandlung durch den Facharzt oder die Fachärztin auf einer Warteliste. Die Information der Warteliste erschließt sich aus Daten, die im Programm (EPIC) vorgehalten werden.

Wie funktioniert diese Warteliste?

Die Regel ist, dass die Klinik nach Aufnahme in die Warteliste maximal 18 Wochen Zeit hat für eine Behandlung. Verzögerungen darüber hinaus werden mit Geldstrafen belegt. Krebs- und Akutbehandlungen müssen sogar innerhalb 14 Tagen abgewickelt werden. Auch verzögerte OP-Termine sind mit hohen Strafgeldern belegt. Verspätetes Versenden von PatientInnen- oder Entlassungsbriefen zieht zusätzliche Geldstrafen nach sich.

Was war Ihr Eindruck von der Sicherheit? Gab es Datenlecks? Wohin können PatientInnen sich wenden, wenn sie einen Verstoß gegen den Schutz ihrer Gesundheitsdaten befürchten oder bemerkt haben?

Natürlich gibt es gelegentlich Datenlecks durch Hacker oder Fehler in der Wahl der Zustimmung oder des Widerspruches von Datenschutzmaßnamen. Jedes Krankenhaus verfügt über ein Informationsbüro, in dem PatientInnen die Möglichkeit haben, Beschwerden und auch Lob auszusprechen. Beschwerden unterliegen einer rechtlichen Abfolge von Schritten, die das Krankenhaus befolgen muss.

Wie war Ihr Eindruck von der Akzeptanz der Bevölkerung allgemein und besonders der PatientInnen?

Wie weit PatientInnen sich der zunehmenden Digitalisierung in der Datenverarbeitung bewusst sind, ist fraglich. Einen wirklichen Eindruck dieser Abläufe bekommt man erst, wenn man hinter die Kulissen sieht.

Welches Potenzial sehen Sie für Deutschland in einer Weiterentwicklung der digitalen Datenverarbeitung im Gesundheitswesen – nach Ihren Erfahrungen im Ausland?

Ich sehe darin vor allem die Chance einer effektiveren Bearbeitung von Daten, der schnellen Bereitstellung der Daten an verschiedenen Standorten und beschleunigte Arbeitsprozesse. Auch ist eine schnellere Fehlerbearbeitung durch den gleichzeitigen Zugriff auf verschiedene Informationen möglich, beispielsweise auf medizinische Befundberichte, medizinische Bildgebung und anderes mehr.

Auf welchem Stand sehen Sie die Digitalisierung in Ihrem jetzigen Arbeitsalltag in Deutschland?

Das Krankenhaus verfügt über ein digitales Krankenhausinformationsprogramm, das aber unzureichend ist, um in seiner Kapazität den Prozessen gerecht zu werden. So ist ein sicheres Bearbeiten der Informationen nur durch zusätzlich erstellte Listen und handschriftliche Terminierung zur PatientInnenendisposition zu bewerkstelligen.

Heute arbeiten Sie in Deutschland als Verwaltungsangestellte in der PatientInnendisposition. Was sind Ihre Aufgaben?

Ich bin in der elektiven Planung eingesetzt, also in der PatientInnenenplanung. Ich organisiere den Prozess aller Arbeiten an den Dokumenten vor der Aufnahme wie Einweisungen, Befunde, PatientInnendaten. Wir nutzen die Software »RehaNet«, werden aber bald umgestellt.

Wie weit ist diese Arbeit digitalisiert?

Im Gegensatz zum britischen System ist unseres noch an die Papierform gebunden. Eine elektronische Informationsverarbeitung durch Versenden von Berichten als verschlüsselte Dateien ist nicht gegeben. Wegen mangelhafter Serverkapazität können Dokumente nur von wenigen Teams als elektronische Dateien im System gespeichert werden.

Was bedeutet das in der Praxis?

Eine elektronische Informationsverarbeitung erlaubt den Zugriff auf Daten von jedem Klinik-IT-Standort aus. Hingegen kann eine Papierakte nur von dem gesichtet werden, der sie gerade vorliegen hat. Eine Bearbeitung der PatientInnenakte ist somit standortabhängig. Die Sichtung und Bearbeitung der PatientInneninformation ist dadurch erheblich verlangsamt, und das führt oft zu Frustration im Arbeitsablauf. Wichtige Daten und Berichte können durch unsauberes Abheften verlorengehen oder verlegt werden. Außerdem können spezifische Nachfragen am Telefon von Seiten der PatientInnen oft nur mangelhaft beantwortet werden, da die Akte gerade nicht vorliegt und man nur Standardantworten geben kann.

Könnten Sie sich auch vorstellen, dass es gelegentlich zu fatalen Miss­ver­ständnissen, Fehlbehandlungen oder Unterlassungen kommen kann, wenn nicht alle Behandelnden und die PatientInnen selbst jederzeit auf alle relevanten Daten und Befunde zurückgreifen können?

Fehlbehandlungen können durch alle möglichen Umstände entstehen, von der Fehldiagnose über die digitale Konsultationserfassung wie das Diktieren eines Fehlers. Eine digitale Erfassung von Daten erlaubt jedoch einen umfangreicheren und schnelleren Vergleich von Informationen und somit die vorzeitige Bearbeitung und Vorbeugung von Fehlbehandlungen.

Glauben Sie, dass dieses Problem typisch deutsch ist?

Dies ist natürlich ein selektiver Einblick in die Datenverarbeitung am Beispiel einer Klinik. Da ich bisher weder in einer größeren Klinik noch in der Industrie in Deutschland tätig war, kann ich nur ein sehr subjektives Bild schildern. Firmen und Kliniken, die mit SAP arbeiten, sind sicherlich anders aufgestellt.

Denken Sie, dass Deutschland aus daten­schutzrechtlichen Bedenken langfristig auf eine durchgängige Digitalisierung im Gesundheitswesen verzichten kann?

Nein. Die Digitalisierung ist ein wichtiger Schritt unserer Zeit, auch im Gesundheitswesen. Der schnelle Zugriff auf Daten und im Falle einer medizinischen Versorgung an verschiedenen Standorten erlaubt eine effiziente Bearbeitung. Die Digitalisierung per se ist nicht das Problem, sondern die Art und Weise, wie mit erfassten Daten umgegangen wird.

Vielen Dank für das interessante Gespräch!


Hinweis: Die Interviewte ist der Redaktion bekannt.


Zitiervorlage
Franke T: Datenverarbeitung im Gesundheitswesen: “Die Digitalisierung ist ein wichtiger Schritt”. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2019. 71 (8): 28–30
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