Birgit Heimbach: Kennen Sie die neue Studie des Statistikers Robert Carpenter von der London School of Hygiene & Tropical Medicine, die im Mai veröffentlicht wurde, in der das Co-Sleeping als Risiko für SIDS belegt wurde?
Prof. Dr. Dr. Klaus-Steffen Saternus: Ja. Es handelt sich um eine Meta-Studie, mit demselben Ergebnis, wie sie von der Münsteraner Epidemiologin Prof. Dr. Mechtild Vennemann bereits vorgelegt worden ist.
Das Institut für Public Health, Sozial- und Präventivmedizin (MIPH) der Medizinischen Fakultät Mannheim sieht die Ergebnisse der Carpenter-Studie sehr kritisch. Die dort tätigen Forscher meinen zum Beispiel, wenn das Kind möglicherweise aufgrund einer Erkrankung nur in dieser letzten Nacht bei den Eltern geschlafen habe, wäre das als zusätzliches Risiko zu bewerten. Da könne man nicht allgemein das Bed-Sharing verurteilen. Die Mannheimer Forscher verweisen auch auf eine ältere Studie von Prof. Vennemann, die diesen Aspekt wohl mehr berücksichtigt als die neue gemeinsame Studie mit Robert Carpenter.
Ich kann den Gegensatz nicht erkennen. Wenn es sich überhaupt um einen Belastungsfaktor handelt, dann ist es für mich nicht bedeutungsvoll, ob ein Kind dieser Belastung zum ersten Mal ausgesetzt gewesen ist oder wiederholt. Sonst müsste man einen Summationseffekt annehmen, wofür nichts spricht. Ich sehe die Belastung für den Säugling in der Wärmeabgabe des Erwachsenen. Diese muss der Säugling mit seiner geringen Körpermasse kompensieren. In seiner 1984 erschienenen Monografie „Der plötzliche Kindstod” ist Wilske besonders dieser Frage der Überwärmung nachgegangen. Die Wärmebelastung als Risikofaktor ist inzwischen allgemein akzeptiert.
Wir haben zwischen 1984 und 2008 in Berlin und ab 1989 in Göttingen aber etwas anderes gesehen, nämlich dass die Kinder erstmals in dieser letzten Nacht, in der sie gestorben sind, nicht im selben Raum wie die Eltern geschlafen haben.
Gibt es Zahlen dazu?
Nein. Es waren nur mehrfache Schilderungen betroffener Eltern, die uns nachdenklich gemacht haben.
Ihre Beobachtung könnte vielleicht mit Studien des Anthropologen Dr. James McKenna erklärt werden, der davon ausgeht, dass das gemeinsame Schlafen einen Schutz bedeutet, vor allem im gemeinsamen Bett: Mütter würden sich im Schlaf mit den Kindern synchronisieren und spüren, wenn ein Kind überwärmt oder CO2 ausatmet. Überhaupt würden von der Mutter viele sensorische Reize ausgehen, so dass das Kind nicht in einen zu tiefen, möglicherweise gefährlichen Schlafzustand gerät.
Die Studie kenne ich nicht. Aber das Getrenntsein von der Mutter dürfte ja der eigentliche Stress für das Kind sein.
Es wäre für die Kinder eine Prophylaxe, wenn dieser Stress nicht gegeben ist?
Ja, auf jeden Fall. Aber die Prophylaxe gilt auch, wenn das Kind im eigenen Bett im selben Zimmer schläft. Das reicht für die nötige Mutter-Kind-Kommunikation.
Einige empfehlen, dass das Kind neben der Mutter, aber nicht zwischen Vater und Mutter schlafen soll. Von der Mutter drohe keine Gefahr, dass sie ihr Kind erdrückt.
Eine Mutter überrollt ihr Kind nicht. Das stimmt! Es sei denn, sie hat zum Beispiel Alkohol getrunken, ein Schlafmittel eingenommen oder Betäubungsmittel konsumiert. Dann ist die Mutter-Kind-Kommunikation gestört.
Abgesehen vom Ort des Schlafens ist wohl der entscheidende Faktor dafür, dass die SIDS-Rate gesunken ist, die Vermeidung der Bauchlage. Dass sie so gefährlich ist, scheint sehr eng mit der dabei beeinträchtigten Durchblutung der Arteria vertebralis zusammen zu hängen. Eine Theorie, die beispielsweise von Prof. Karl-Heinz Deeg publiziert wurde, der auch dazu geforscht hat Ursprünglich hatten Sie selbst dazu geforscht. Sie waren einer der ersten, der sich dem Thema SIDS ernsthaft gewidmet hat?
Nein, vor mir haben viele WissenschaftlerInnen sich dem Problem SIDS intensiv gewidmet. Aber wenn es darum geht, wer einen Zusammenhang zwischen der Bauchlage während des Schlafens und SIDS nachgewiesen hat, dann war ich es. Auch die A.-vertebralis-Theorie stammt von mir. Ich bin froh, dass Prof. Deeg meine Theorie praktisch in die kinderärztliche Prävention eingeführt hat.
Ich habe in Köln 1982 die Häufigkeit, mit der Säuglinge plötzlich gestorben waren, vor und nach Einführung der Bauchlage untersucht. Es fand sich eine signifikante Zunahme an SIDS. Nach Etablierung der Bauchlage habe ich retrospektiv die Häufigkeiten zwischen der Auffindungslage von 150 an SIDS gestorben Kindern mit einer Kontrollgruppe aus 306 Kindern verglichen. Die Kontrollgruppe wurde unabhängig von dem engagierten Kinderarzt Dr. med. Böttcher mit seinen Mitarbeiterinnen durch Befragungen der 306 Eltern in der eignen Praxis gewonnen. Dieses Ergebnis war eindeutig. Nur 20 Prozent der befragten Eltern hatten sich in diesem Zeitraum für die Bauchlage entschieden, aber 80 Prozent der Kinder waren in Bauchlage gestorben. Unsere Ergebnisse habe ich zuerst 1982, umfänglicher dann 1985 in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift auf Deutsch und Japanisch publiziert. Auf unsere Untersuchungen folgten zunächst niederländische Studien, die genau diese Relation bestätigt haben, dass nur 20 Prozent der Kinder die Bauchlage als Regelschlaflage hatten, aber 80 Prozent der an SIDS gestorbenen Säuglinge in Bauchlage aufgefunden wurden.
Sie haben auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin im vergangenen Herbst einen Rückblick in diese Zeit gegeben.
Die von mir entwickelte A.-vertebralis-Theorie war zu prüfen. Zunächst hat mein damaliger Doktorand Gerd Adam bei an SIDS gestorbenen Babys den Fluss in den großen Halsgefäßen unter Kopfrotation gemessen. Wir stellten eine Flussminderung auf der Gegenseite der Kopfdrehung fest. Vor jeder Untersuchung erfolgte eine Kontrastmitteldarstellung beider Arterien. Dabei fand sich im Seitenvergleich eine erhebliche Variation im Kaliber dieser Arterie. Das war damals noch nicht bei Säuglingen nachgewiesen worden. Vom erwachsenen Menschen wusste man das schon lange. Unsere Ergebnisse wurden später mit der Flussmessung per Farbdoppler von Prof. Karl-Heinz Deeg bestätigt.
Haben Sie auch bei lebenden Neugeboren Studien durchgeführt?
Ja. Aufgrund meiner Ergebnisse wurde die Bauchlage als Schlaflage der Säuglinge in Berlin in der von Prof. Erich Saling geleiteten Klinik aufgegeben, aber nicht im Kaiserin-Auguste-Victoria Haus (KAV) der Uniklinik. Wir haben dann im KAV – mit Zustimmung der Eltern als Teil der Abschlussuntersuchung – bei den schlafenden Kindern in Bauchlage sonografisch den Fluss in den großen Halsgefäßen bestimmt. Selbstverständlich wurden keine Zwangslagen gewählt. Wir haben die Kinder nur in Positionen ganz vorsichtig untersucht, in denen sie natürlich geschlafen haben.
Interessant war auch ein Nebenbefund. Die Kinder wachten sofort auf, wenn man sie an den Nasenflügeln berührte. Bei der Doppleruntersuchung zeigte sich, dass die Kinder eine Kopfrotation in Bauchlage kompensieren konnten. Erst bei der für schlafende Kinder häufigen Kopfdrehung mit einer Rückwärtsneigung des Kopfes kam es zur Minderperfusion in der A. vertebralis auf der Gegenseite. Diese wurde in einer Sofortreaktion durch eine Erhöhung des systolischen Drucks kompensiert. Wenn allerdings im häuslichen Bereich zusätzlich zur Bauchlage noch weitere Belastungen hinzukommen, etwa durch eine Erkältung mit einem Ödem der Nasenschleimhaut, dann wird für den Säugling die Kompensationsmöglichkeit weiter gemindert. Prof. Helmut Althoff hat das in Köln Ende der 1970er Jahre sorgfältig untersucht.
Wenn das Kind auf dem Bauch liegt und den Kopf beispielsweise auf seine rechte Seite legt, wird die Vertebralis Arterie auf der linken Seite gedehnt und dadurch verengt?
Ja, so ist es.
Und dies ist besonders gefährlich, wenn eine der beiden Vertebralis-Arterien sowieso physiologisch verengt ist?
Ja, das hatten wir bereits bei unseren postmortalen Kontrastmitteldarstellungen gesehen, und es wurde deshalb ein wichtiger Baustein unserer Theorie. In unserer Arbeitsgruppe fanden wir in 60 Prozent Kaliberdifferenzen. Ich würde in diesem Zusammenhang nicht von einer primären Gefäßverengung sprechen, sondern von unterschiedlichem Kaliber der paarigen Gefäße. Wird der Blutfluss in der kräftigeren A. vertebralis durch die Bauchlage mit Rückwärtsneigung des Kopfs gemindert, dann sind die Kompensationsmöglichkeiten im schmächtigeren Gefäß auf der anderen Seite herabgesetzt.
Am Anfang ihrer Forschung haben Sie einigen Gegenwind gespürt.
Das begann schon 1982, als ich das erste Mal meine Theorie vorgetragen hatte. Die Ablehnung war teilweise heftig. Es wurde aber eine internationale Diskussion angestoßen.
In unserer späteren Berliner Arbeitsgruppe, der unter anderem auch Prof. Dr. Erich Saling, Prof. Dr. Joachim Dudenhausen und Prof. Dr. Harald Schachinger angehörten, wurde der Frage der Bauchlage so nüchtern nachgegangen wie jeder anderen Theorie.
Später gab es dann einen engen Austausch mit den Manualmedizinern Dr. Heiner Biedermann und Dr. Lutz Erik Koch. Auf einem ihrer Kongresse im vergangenen Jahr referierte der Hamburger Rechtsmediziner Jan Sperhake zu SIDS. Er sprach auch über die abnehmende Zahl der gestorbenen Kinder in Hamburg.
Von Biedermann und Koch wollte ich wissen, ob und gegebenenfalls welche vegetativen Reaktionen bei Kindern zu erwarten sind, wenn sie in eine Ecke des Bettchens gerobbt waren und sich daraus befreien wollten. Mir ging es um den Effekt von Relativbewegungen in den Kopfgelenken. Die Frage deckte sich mit den Untersuchungen beider Kollegen zur Atlastherapie. Wir haben die Sicht, dass vegetative Reaktionen, wie sie durch einen milden Impuls bei der Atlastherapie hervorgerufen werden können, erst recht beim Verfangen des Kindes in der Ecke des Bettchens oder Befreien aus Verwicklungen in der Bettdecke zu erwarten wären. Es handelte sich um Flush, Apnoe, Bradykardie, Schwitzen, Überstrecken und um Tonusverlust.
Wie hängt das mit der Vertebralis-Theorie zusammen? Oder ist dies einfach eine zusätzliche Komponente?
Hier geht es um die Gewichtung von Prädiktoren. So kann erwartet werden, dass zwischen lageabhängiger Flussminderung in der A. vertebralis und Kopfkontrolle ein Zusammenhang besteht. Die Erhöhung des systolischen Drucks, um die Flow-Minderung zu kompensieren, trifft zusammen mit dem starken Effekt der Bradykardie. Es dürfte sich um einen situativen Summationseffekt handeln, der letztlich die Kompensationsbreite des Kindes eingeschränkt.
Gab es auch mal die Frage, ob das KISS-Syndrom, für das Dr. Biedermann Experte ist, die Ursache für einen Plötzlichen Kindstod sein könnte?
Biedermann und Koch wollten genau das wissen. Wir konnten keinen Zusammenhang erkennen. Allerdings ist es methodisch sehr schwer, dieser Frage überhaupt nachzugehen. Die Schilderungen einiger Mütter über eine ausgeprägte Vorzugshaltung des Köpfchens ihres Kindes könnten in diese Richtung deuten. Postmortale Röntgenuntersuchungen des Kopf-Hals-Übergangs sind dabei nicht zielführend. Wir empfanden es auch als ungünstig, wenn Kinder zu häufig vor dem Bauch der Mutter in Tragetüchern getragen wurden, wodurch eine einseitige Kopfstellung forciert wurde.
Hatten Sie als Rechtsmediziner Kontakt zu Hebammen?
Auf vielen Hebammenkongressen habe ich über die Frage der Bauchlage und SIDS gesprochen. Solange ich in Göttingen als Direktor des Instituts für Rechtsmedizin im Amt war, habe ich jedes Semester an der Hebammenschule eine Vorlesung gehalten. Ich habe sehr gern mit Hebammen zusammengearbeitet.
Hatten Sie auch bei den einzelnen SIDS-Fällen zu ihnen Kontakt?
Ja, und ich habe dabei beobachtet, dass die betroffenen Eltern ihre Hebammen immer in Schutz genommen haben. Die Eltern fühlten sich durch sie immer umsorgt, auch in dieser schwierigen Zeit.
Mein besonderes Anliegen war es und ist es darauf hinzuweisen, dass die zu Unrecht bestehenden Selbstvorwürfe der Eltern beim Plötzlichen Kindstod extrem sind. Sie sind es insbesondere beim gemeinsamen Schlafen von Eltern und Kind in einem Bett. Die Eltern können sich nur vorstellen, ihr Kind während des Schlafs erdrückt zu haben. Es ist eine immer wiederkehrende Erfahrung, dass Eltern, deren Kind am Plötzlichen Kindstod gestorben ist, im eigenen sozialen Umfeld kritisch angesehen und verdächtigt werden, etwas falsch gemacht zu haben. Das fragen sie sich aber auch ununterbrochen selbst. Dabei sind sie genauso liebevolle und fürsorgliche Eltern wie andere auch. Deshalb habe ich es mir als Aufgabe gestellt, bei der „Entkriminalisierung” des Plötzlichen Kindstodes mitzuwirken. Verdächtigungen treten zumal dann auf, wenn sich scheinbar Blut auf dem Laken findet. Scheinbar sage ich deshalb, weil es sich um ein hämorrhagisches Lungenödem handelt, das in Bauchlage aus dem Mund oder der Nase abgeflossen ist. Solche „Blutspuren” können auch auf den Lippen des Kindes angetrocknet sein. Das hämorrhagische Lungenödem kann auch unter anderen Konstellationen ablaufen, wenn die Eltern ihr Kind hochnehmen, versuchen es zu reanimieren, oder wenn es von den Rettungskräften umgedreht wird. Ein solcher Blutfleck hat eine große Signalwirkung. Laien, aber auch wenig erfahrene Rettungskräfte, auch Polizeibeamte halten ihn für ein sicheres Erstickungszeichen. Der Plötzliche Kindstod ist kein Erstickungstod.
Wie lief das damals ab, wenn Sie gerufen worden sind?
Prof. Dr. Dr. Klaus-Steffen Saternus: Ich wurde von den Leistellen über die Alarmierung benachrichtigt. Grundsätzlich habe ich mich zu den Eltern gesetzt und abgewartet. Sie kennen das gut von Ihrem Beruf her, abzuwarten, für jemanden da zu sein. Die Eltern in ihrer Orientierungslosigkeit brauchen Informationen dazu, was mit ihrem Kind geschehen ist, ob sie den Tod ihres Kindes hätten verhüten, eventuell erfolgreich reanimieren können. Das sind große Ängste. Eltern wollen wissen, wie es jetzt weitergeht. Sie jetzt mit diesen Informationen zuzuschütten, wäre ihnen aber keine Hilfe. Es ist richtig, ruhig zu warten, bis die Eltern ihre Fragen stellen. Sie erkennen gleich, ob derjenige, der zu ihnen gekommen ist, redlich und kompetent ist. Eine der Fragen ist auch die nach einer Obduktion. Diese wünschen sie häufig in ihrer Not, was vom sozialen Umfeld häufig nicht verstanden wird. Die Obduktion stellt rechtsmedizinisch ein Hilfsangebot dar, was nicht aufzudrängen ist. Nach wenigen Tagen ändert sich dazu häufig ihre Sicht. Für den Verlauf der Trauer spielt die Abschiednahme eine große Rolle. Eltern sind aber in dieser frühen Phase nach dem Tod ihres Kindes zumeist nicht dazu in der Lage. Das gilt insbesondere für die Mutter. Die Belastung, ihr jetzt totes Kind noch einmal zu sehen und in den Arm zu nehmen, ist für sie zu groß. Es ist schon fast ein Übergriff, ihr in dieser Situation – durchaus fürsorglich – ihr totes Kind in den Arm legen zu wollen. Auch wenn man weiß, wie schwer es später für Eltern sein wird, von ihrem Kind nicht Abschied genommen zu haben, sollte man die Abschiednahme nicht erzwingen wollen.
Herzlichen Dank für das Gespräch!