Zeigt die Gebärende Anzeichen von Apathie oder Kaltschweißigkeit, sind diese Signale immer ernst zu nehmen.
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Eine Übersicht zur Physiologie und Pathologie der geburtshilflichen Blutung: Woraus besteht Blut und was geschieht genau, wenn eine Frau unter der Geburt blutet oder gar verblutet?
Bei einer Geburt blutet die werdende Mutter. Ein Blutverlust (BV) von rund 500 ml wird dabei als »normal« angesehen (Franz et al., 2023). Starke Blutungen kommen immer wieder vor, sind jedoch selten. Aber was heißt »starke Blutungen«? Ab wann ist das kritisch? Was ist Verbluten?
Die Blutbestandteile
Ein Erwachsener hat etwa 65–70 ml Blut/kg Körpergewicht (KG), das heißt ungefähr 5–6 l. Blut besteht aus festen (Blutkörperchen ca. 45 %) und flüssigen (Blutplasma ca. 55 %) Bestandteilen. Die Blutkörperchen enthalten drei Gruppen:
- Erythrozyten (rote Blutkörperchen: O2-Transport, CO2-Abtransport, Pufferfunktion, 99 % des Volumenanteils der Blutkörperchen)
- Leukozyten (weiße Blutkörperchen: Abwehr von Krankheitserregern)
- Thrombozyten (Blutplättchen: Blutgerinnung, Pufferfunktion).
Das Plasma ist eine klare, leicht gelbe Flüssigkeit und besteht zu 90 % aus Wasser, zu 8 % aus Proteinen (60 % davon Albumine) und zu 2 % aus anderen Substanzen (zum Beispiel Ionen, Glukose, Vitamine, Hormone, Enzyme …).
Als Hämoglobin (Hb, ca. 1/3 der Gesamtmasse der Erythrozyten) wird die Menge des roten Blutfarbstoffs bezeichnet. Es ist ein Eiweißmolekül aus vier Polypeptidketten mit jeweils einer eisenhaltigen Farbstoffkomponente, an die sich O2 und CO2 anlagern können.
Der Begriff »Anämie« bezeichnet einen verminderten Hb-Gehalt des Blutes oder einen zu niedrigen Anteil der Erythrozyten – genau genommen aller zellulären Blutbestandteile – am Blutvolumen (Hämatokrit, Hkt). Laut WHO ist eine über 15-jährige, nicht schwangere Frau bei einem Hb <12 g/dl anämisch (WHO, 2024). Der Hkt ist ein Maß für die Zähigkeit beziehungsweise die Fließeigenschaften des Blutes: Je höher der Hkt, desto langsamer fließt das Blut. Im englischen (und teilweise auch im deutschen) Sprachgebrauch wird Hkt als Maß der Anämie benutzt. Hb und Hkt messen somit beide das Gleiche, aber mit unterschiedlichen Methoden. Als Faustregel gilt: Hb (in g/dl) x 3 = Hkt (in %).
Thrombopenie bezeichnet eine verminderte Anzahl von Thrombozyten im Blut (< 150.000/µl). Entscheidend ist neben der Anzahl der Plättchen auch deren Funktion, die unabhängig von ihrer Anzahl gestört sein kann (zum Beispiel durch Thrombozytenaggregationshemmer).
Die Hämostase dient dem Abdichten von Schäden an Gefäßen. Dabei kommt es zur Vasokonstriktion, Thrombozytenadhäsion und -aggregation sowie Bildung von Fibrin (Fibrinogenese). Damit in dem abgedichteten Gefäß weiterhin Blut fließen kann, muss die Gerinnselbildung begrenzt werden (Fibrinolyse).
Physiologische Hämodynamik in der Schwangerschaft
Das Blutvolumen einer Schwangeren am Termin beträgt etwa 100 ml/kg KG. Dabei steigt das Plasmavolumen bis zur 30.–34. Schwangerschaftswoche um 40–50 % oder 1.100–1.600 ml gegenüber Nichtschwangeren auf rund 5 l. Das Erythrozytenvolumen steigt um 15–20 % (bei Eisensubstitution um 20–30 %) kontinuierlich bis zur 34. SSW. Da die Zunahme an Plasma im Zuge der sogenannten »Schwangerschaftshydrämie« früher und stärker als die der Erythrozyten ist, ergibt sich eine Verdünnung, die »physiologische Schwangerschaftsanämie«.
Eine Anämie in der Schwangerschaft ist wesentlich vom sozioökonomischen Umfeld der Mutter und ihrem Ernährungsstatus abhängig: Je schlechter die soziale Unterstützung, der Lebensstandard und die finanzielle Lage, desto häufiger gibt es eine Anämie in der Schwangerschaft. Auch chronische Überlastung oder Stress beeinträchtigen den Stoffwechsel und können, trotz ausreichender Eisen-Aufnahme, einen Eisenmangel und somit eine Anämie bedingen.
Die häufigste pathologische Anämie-Ursache ist auch in der Schwangerschaft der Eisenmangel. In Europa erleiden etwa 25 % der Schwangeren eine Anämie und circa 50 % haben einen Eisenmangel ohne Anämie. Ein Screening auf Eisenmangel sollte bei jeder Schwangeren mehrfach durchgeführt werden. Der Hkt liegt im dritten Trimester um 33 %. 95 % aller untersuchten Schwangeren haben zu diesem Zeitpunkt einen Hkt zwischen 28 % und 40 % (Auerbach & Langdy, 2024; Bauer, 2024; Cunningham, 2024; Franz et al., 2023; Valente & Economy, 2024).
Die meisten Gerinnungsfaktoren (FVII, FVIII, FIX, FX, FXII, von Willebrand Faktor) steigen während der Schwangerschaft deutlich an. FI (Fibrinogen) verdoppelt sich auf 4,5–6 g/dl am Termin. FII und FV bleiben annähernd gleich. FXIII hingegen sinkt um 20–30 % in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft.
Auch das fibrinolytische System, das verhindern soll, dass die Blutgerinnung ungebremst abläuft und das gesamte Blut nach kurzer Zeit vollständig geronnen ist, wird reduziert (↓ Protein S, ↓ Antithrombin, PAI, TAFI). Die Schwangerschaft und vor allem die sechs bis zwölf Wochen postpartal sind somit ein pro-thrombotischer Zustand. Die Anzahl der Thrombozyten nimmt im Schwangerschaftsverlauf leicht ab, bleibt aber im unteren Normbereich. Dies ist typisch für eine Schwangerschafts-Thrombozytopenie (Bauer, 2024; Franz et al., 2023; Malhotra & Weinberger, 2024; Valente et al., 2024).
keine Anämie | leichte Anämie | mäßige Anämie | schwere Anämie | |
1. Trimester | ≥11 g/dl | 10,0–10,9 g/dl | 7,0–9,9 g/dl | <7,0 g/dl |
2. Trimester | ≥10,5 g/dl | 9,5–10,4 g/dl | 7,0–9,4 g/dl | <7,0 g/dl |
3. Trimester | ≥11 g/dl | 10,0–10,9 g/dl | 7,0–9,9 g/dl | <7,0 g/dl |
Tabelle 1: Schweregrade der Schwangerschaftsanämie gemäß WHO (World Health Organisation, 2024)
Merke: Die WHO definiert Hb-Werte < 11 g/dl am Termin als pathologisch (WHO, 2024) (siehe Tabelle 1). Hb < 10 g/dl und/oder Thrombozyten < 100.000/µl sind abklärungs- und behandlungsbedürftig (Bauer, 2024).
Das Herzzeitvolumen (HZV) berechnet sich aus dem Produkt aus Schlagvolumen (SV) und Herzfrequenz (HF). Das HZV steigt während der Schwangerschaft um 30–50 % auf etwa 7 l/min an. Ursächlich ist der Anstieg des Blutvolumens (Vorlast), der Abfall des gesamtsystemischen Gefäßwiderstandes um 30 % (↓ Nachlast) und der Anstieg der mütterlichen HF um 15–20 Schläge/Minute (vor allem in der Spätschwangerschaft).
Zwillingsschwangerschaften sind verglichen mit Einlingen ab der 29. Schwangerschaftswoche mit einem um 20 % erhöhten HZV verbunden, vor allem durch 15 % erhöhtes SV, zusätzlich höhere HF und niedrigeren Gefäßwiderstand. Während der Wehentätigkeit steigt das HZV konstant um 34 % (bei vollständigem Muttermund) über das der Vorwehenphase und um 50 % bei aktivem Pressen (Franz et al., 2023; Valente et al., 2024).
Merke: Die obere Grenze der Herzfrequenz am Termin wird mit 115/min angegeben; höhere Frequenzen müssen abgeklärt werden (siehe »Reaktion des Organismus auf Blutverlust«) (Valente et al., 2024).
In den ersten zehn Minuten nach einer vaginalen Geburt kommt es durch die Kontraktion des Uterus zu einer deutlichen Autotransfusion; somit steigen HZV und SV um 60 beziehungsweise 70 % an. Auch eine Stunde post partum sind die Parameter um 50 beziehungsweise 60 % erhöht, während die HF um 15 % abnimmt. Systolischer, diastolischer und mittlerer arterieller Druck (MAP) nehmen bis zur Mitte des zweiten Trimesters ab, um dann wieder anzusteigen (Franz et al., 2023; Valente et al., 2024).
Der uterine Blutfluss beträgt am Termin 450–750 ml/min, das heißt etwa 12 % des HZV (außerhalb der Schwangerschaft ca. 4 %). Die Aa. uterinae und ovaricae sind reichlich mit Fasern des autonomen Nervensystems durchsetzt, daher ist die uterine Durchblutung passiv vom mütterlichen Blutdruck abhängig. Die Aa. ovaricae sind auf beiden Seiten über die Rami uterini mit den den Uterus versorgenden Gefäßgirlanden der Aa. uterinae verbunden und führen erhebliche Blutmengen (siehe Abbildung 1).
Etwa ab der 20. Schwangerschaftswoche hat die Körperposition der werdenden Mutter erheblichen Einfluss auf das HZV: Dieses ist in Rückenlage um 30 % reduziert (Vena cava-Kompression mit reduziertem Blutfluss zum Herz), in 30° nach links gekippter Seitenlage stabil (Franz et al., 2023; Valente et al., 2024).
Die mütterliche Hämodynamik bildet sich langsam innerhalb von drei Monaten post partum auf nicht-schwangere Werte zurück (Franz et al., 2023; Valente et al., 2024).
Abbildung 1: Fingerdickes Konvolut aus A. und V. ovarica am Termin, aufgenommen bei einer Sectio
Foto: © Mit freundlicher Genehmigung Prof. Dr. Holger Maul
Reaktion des Organismus auf Blutverlust
Der Begriff »Schock« bezeichnet eine lebensbedrohliche Kreislaufsituation mit einem Missverhältnis von O2-Angebot und -Bedarf auf zellulärer Ebene. Es ist ein Kontinuum, das von einer asymptomatischen über eine kompensiert-symptomatische zu einer dekompensierten Phase mit potenziell irreversiblem Endorganschaden führt. Zunehmender Flüssigkeitsverlust bedingt eine Abnahme des venösen Rückflusses (Vorlast) und des arteriellen Blutdrucks. Kompensatorisch kommt es zu Tachykardie und Vasokonstriktion infolge einer Freisetzung von Adrenalin aus dem Nebennierenmark, Noradrenalin aus den peripheren Nerven und nicht-adrenerger Mechanismen.
Es folgt eine Zentralisation, das heißt eine Reduktion des Blutflusses zu »weniger wichtigen« Organen wie Haut, Skelettmuskulatur, Splanchnikus (Eingeweidenerven, welche die Gefäßmuskulatur des Gastrointestinaltrakts versorgen), Nieren und auch zum schwangeren Uterus. Dagegen steigt der Blutfluss zu vitalen Organen wie Herz und Gehirn. Die Kompensation erfolgt zeitlich gestaffelt durch:
- Erhöhtes Schlagvolumen (bis ~ Hb 7,5 g/dl)
- Erhöhte Herzfrequenz (Vorsicht: Tachykardie verkürzt die Diastole und damit die Dauer der Koronarperfusion)
- Erhöhte Sauerstoffextraktion durch Umverteilung und kapilläres Recruitment in den Lungen
- Erhöhte 2,3-Diphosphoglyzerat-Konzentration mit Rechtsverschiebung der Sauerstoffbindungskurve nach 4–6 h, das heißt Sauerstoff wird leichter an die peripheren Gewebe abgegeben.
Mit Ausnahme des Herzens, das bereits in Ruhe eine Sauerstoffextraktion von 60 % aufweist, erleiden alle Organe bei schwerer Hypovolämie eine Reduktion des Blutflusses. Das Gehirn weist allerdings eine Autoregulation auf, die den zerebralen Blutfluss über einen weiten Bereich des mittleren arteriellen Drucks konstant hält. Ist die kritische, maximale Sauerstoffextraktion erreicht, führt eine weitere Abnahme des O2-Angebots erstmals zu einem ebenfalls reduzierten O2-Verbrauch; der Körper versucht, Energie durch anaeroben Stoffwechsel zu gewinnen. Die Folgen sind eine steigende Laktatkonzentration und ein negativer Basenüberschuss (»base excess«, BE – siehe Abbildung 2).
Ab einem Blutverlust von etwa 30 % sind die Kompensationsmechanismen auch bei kardiopulmonal gesunden Patient:innen nicht mehr ausreichend. Auf zellulärer Ebene führen Hypoxie und/oder Hypoperfusion zu einer schockinduzierten Endotheliopathie mit lokaler und systemischer Freisetzung inflammatorischer Mediatoren, unter anderem Gewebe-Plasminogen Aktivator (tPA). tPA katalysiert die Umwandlung von Plasminogen zu Plasmin und ist ein starker Aktivator der (Hyper-)Fibrinolyse.
Zur Aufrechterhaltung eines minimalen Blutflusses kommt es, durch Anreicherung saurer Stoffwechselprodukte (H+, CO2), zu einer Vasodilatation mit Abfall des mittleren arteriellen Blutdruckes. Die Vasodilatation dieser dekompensierten Phase ist nicht mehr durch Volumengabe ausgleichbar. Um die Koronarperfusion zu gewährleisten, folgt eine Bradykardie, die präfinal zu einer unzureichenden zerebralen Perfusion mit Bewusstlosigkeit und final zum Tod durch »Verbluten« führt (Bunch et al., 2023; Lier et al., 2018).
Gibt es geburtshilfliche Besonderheiten?
International, und selbst begrenzt auf die sogenannten Industrienationen, gibt es weder eine einheitliche Definition für den Begriff »peripartale Hämorrhagie (PPH)« noch einheitliche Empfehlungen für die genaue Therapie (de Vries et al., 2023).
Da circa 60 % der Frauen, die eine PPH erleiden, keine vorherigen Risikofaktoren haben, ist bei jeder Schwangerschaft mit einer solchen Komplikation zu rechnen (AWMF, 2022).
Jede Schwangere mit Risikofaktoren für PPH (zum Beispiel Placenta accreta Spektrum, vorzeitige Lösung, schwere Präeklampsie, HELLP, Z.n. PPH, Makrosomie) bedarf besonders hoher Aufmerksamkeit (Belfort, 2024a).
Eine PPH kann sehr schnell lebensbedrohlich werden: Am Termin fließen rund 600 ml pro Minute durch den Uterus. Vor der Geburt ist die uterine Durchblutung zur Regulation des mütterlichen Blutdrucks für Vasokonstriktion im Zusammenhang mit Schockzuständen anfällig. Das heißt, kommt es durch ausgeprägten Blutverlust zu einer Zentralisation, werden periphere Organe wie Darm, Leber, Niere und auch der Uterus weniger bis gar nicht durchblutet. Somit besteht ein Risiko der Mangelversorgung für Kind und Mutter (Franz et al., 2023).
Nach der Geburt ist die Kontraktion des Myometriums physiologisch die Hauptdeterminante sowohl für die Plazentalösung als auch für die Hämostase. Wenn die Kontraktion nach der Geburt ausbleibt, dann verliert die Patientin diese rund 600 ml pro Minute bei zunehmend beeinträchtigter »Gerinnbarkeit« und kann fulminant innerhalb weniger Minuten in akuter Lebensgefahr sein.
Bei Patientinnen mit schwerer PPH und daraus resultierender Gewebehypoxie liegt pathophysiologisch ein »hämorrhagischer« Schock vor und nicht wie zum Beispiel bei polytraumatisierten Patient:innen ein »traumatisch-hämorrhagischer Schock« (AWMF, 2022). Im Gegensatz zum Polytrauma ist eine initiale Koagulopathie, also eine frühzeitige Gerinnungsstörung mit ausgeprägter Hyperfibrinolyse, bei PPH eine absolute Ausnahme. Diese sogenannte akute geburtshilfliche Koagulopathie tritt bei etwa 3 % der Patientinnen mit einem BV ≥ 1.000 ml auf (fast immer bei vorzeitiger Plazentalösung oder Amnionflüssigkeitsembolie, gelegentlich bei Placenta praevia/accreta, Präeklampsie oder HELLP-Syndrom). Aber: Wenn der Blutverlust anhält und nicht kausal therapiert wird, werden die Gerinnungskapazitäten des Organismus verbraucht und es entwickelt sich immer eine sekundäre Koagulopathie (Belfort, 2024a; de Lloyd et al., 2022).
Was ist ein kritischer Blutverlust bei Schwangeren?
Die folgenden Angaben zum Blutverlust (BV) gelten für kardiopulmonal gesunde Patientinnen; Vorerkrankungen oder bestimmte Medikamente führen gegebenenfalls zu deutlichen Änderungen!
1.500 ml entsprechen etwa 25 % des Blutvolumens einer Schwangeren am Termin. Im Ampel-Schema des interdisziplinären PPH-Behandlungsalgorithmus der aktuellen AWMF-S2k-Leitlinie 015–063 »Peripartale Blutungen« ist das der hellrote Bereich (AWMF, 2022) und wurde bereits in der Version von 2016 genannt.
Auch andere internationale Expert:innen sehen einen BV ≥ 1.500 ml als kritisch an und empfehlen eine unverzügliche Verlegung aus dem Kreißsaal in den OP. Für außerklinische Szenarien bedeutet das, dass früher verlegt werden muss, weil durch den Transport Zeit verloren geht (Belfort, 2024b; Dulaney et al., 2022; Mavrides E et al., 2017; Munoz et al., 2019).
Merke: Ab einem BV > 1.000 ml wird die Beteiligung der Anästhesiologie empfohlen. Ein BV ≥ 1.500 ml wird als kritisch, einer ≥ 2.000 ml als lebensbedrohlich angesehen. Zur Beurteilung des BV ist eine möglichst objektive Messung erforderlich, zum Beispiel Wiegen von Vorlagen und Binden, kalibrierte Blutauffangbeutel bei jeder vaginalen Geburt, visuelle Schautafeln (AWMF, 2022; Belfort, 2024a; Wang et al., 2024).
Parameter | Wert | Quelle |
Hämodynamik | HF >110–115/min; RR <85–90/45 mmHg; O2-Sättigung <95% | Belfort, 2024a; Stanworth et al., 2022 |
Schockindex | HF / RRsys >0,9 und besonders >1,1 | AWMF, 2022; Belfort, 2024a, 2024b |
Tastbarer Radialispuls | Hinweis auf »ausreichende« zerebrale Perfusion; RRsys ~60–70 mmHg | Joint Trauma System (JTS), 2024; Lier et al., 2018 |
Kapillarperfusion | Rekapillarisierungszeit nach leichtem Druck auf das Fingernagelbett >3 sec | Lier et al., 2018 |
Tabelle 2: Klinische Zeichen des Schocks (bis auf den Schockindex nicht für Geburtshilfe validiert, aber international genutzt)
Wie kann ein kritischer Blutverlust diagnostiziert werden?
Da keines der bekannten PPH-Risiko-Einschätzungs-Tools einen nachweisbaren Benefit zeigen konnte (Belfort, 2024a), empfiehlt sich eine konstante Wachsamkeit bei jeglicher klinischer Veränderung der Mutter.
- Eine rein visuelle Beurteilung unterschätzt den BV um 30–50 % (AWMF, 2022; Wang et al., 2024).
- Blässe, Sehstörungen, Ohrensausen und Schwindel sind unspezifische frühe Symptome.
- Kalter Schweiß, Zyanose und Unruhe deuten auf einen BV ≥ 1.500 ml hin.
- Apathie, Somnolenz oder Bewusstlosigkeit treten zumeist erst bei einem BV ≥ 2.000 ml auf.
Merke: Die Kombination aus zunehmender mütterlicher HF > 110–115/min mit Tachypnoe (Atemfrequenz > 20–24/min) bei (noch) regulärem systolischen Blutdruck sollte, auch bei nur leichter vaginaler Blutung (intra- oder retroperitoneale Blutung) und bis zum Beweis des Gegenteils, als Zeichen eines kompensierten Schocks betrachtet werden und den hauseigenen PPH-Algorithmus initiieren (Belfort, 2024a, 2024b). Tabelle 2 zeigt spezifischere klinische Hinweise.
Für die Nutzung der Standardlaborparameter Quick-Wert und aPTT gibt es keine positive Datengrundlage; pathologische Werte sind erst bei deutlich eingeschränktem Gerinnungsstatus zu erwarten (Belfort, 2024b; Lier et al., 2018; Lier & Hossfeld, 2024).
Grundsätzlich sinken Hb und Hkt mit zunehmendem Blutverlust, das heißt wenn die Schwangere unter der Geburt von einem Ausgangs-Hb von 12 g/dl (Hkt 36 %) auf 9 g/dl (Hkt 27 %) fällt, hat sie geblutet (oder ist deutlich überwässert). Die Hb- oder Hkt-Konzentration allein hat bei aktiv-blutenden Patientinnen jedoch einen geringen diagnostischen Wert: Beide Parameter bleiben initial weitgehend konstant (solange keine Flüssigkeitssubstitution erfolgt), da feste und flüssige Bestandteile des Blutes gleichzeitig verloren gehen. Erfolgt eine iv-Flüssigkeitsgabe, ergibt sich eine Verdünnung beider Parameter. Daher ist die zusätzliche Berücksichtigung klinischer Zeichen zur Beurteilung der »Kreislauf-Situation« so wichtig (siehe Tabelle 2).
Aber: Die WHO definiert einen Hb < 7 g/dl als schwere Anämie; die maternale Sterblichkeit unter der Geburt steigt. Ein Hb < 6 g/dl führt zu CTG-Alterationen durch kindliche O2-Unterversorgung und korreliert mit intrauterinem Fruchttod. Spätestens hier ist die Indikation zur Transfusion gegeben. Ein Hb < 4 g/dl führt zu myokardialer Unterversorgung (Belfort, 2024a; Franz et al., 2023; Lier et al., 2018).
Diagnostisch und therapeutisch bedeutend sind wiederholte Durchführungen einer Blutgasanalyse (BGA). Der Basenüberschuss (aufgrund der renal kompensierten, respiratorischen Alkalose ist ein BE bis –3 mmol/l in der Schwangerschaft physiologisch) und das Laktat sind schnell und einfach erhebbare Schock- und Perfusionsparameter (siehe Abbildung 2). Die Abnahme soll möglichst arteriell, aber zumindest ohne lange venöse Stauung aus einer großlumigen Kanüle ohne laufende Infusion) erfolgen (Lier et al., 2018; Lier et al., 2024).
Merke: Wiederholte BGA-Analysen mit BE < –6 mmol/l und Laktat > 4 mmol/l sind geeignete Schock- und Perfusionsparameter (Lier et al., 2024).
Therapie durch die Hebamme
Folgende Punkte sind sinnvoll:
- Vorgefertigtes Konzept für Komplikationen, inklusive einer potenziell notwendigen Verlegung, auch und vor allem bei Hausgeburten
- Ein adäquater Venenzugang (möglichst grün/18G) unter der Geburt bei jeder Gebärenden, großlumige Venenzugänge (möglichst grau/16G) bei Blutungskomplikationen (je kleiner der Gauge-Wert, desto höher ist die Durchflussrate: grün/18G: ca. 100 ml/min; grau/16G: ca. 200 ml/min; ab grün/18G kann durch Druck eine höhere Durchflussrate erzielt werden)
- Initiale Gabe von 1–4 x 500 ml balancierter Vollelektrolyt-Lösung (größere Mengen kristalliner Lösungen verschlechtern die Gerinnung)
- Uterusmassage und Blasenkatheter
- Hamilton-Handgriff
- Gegebenenfalls Aortenkompression
- Gabe von Uterotonika.
Kommentar
Der Hebammenberuf umfasst die selbstständige Leitung von physiologischen Geburten (§1 HebG). Die Rolle der Hebamme ist es, die Gefahr zu erkennen und (wenn möglich) das Eintreten eines Notfalls zu verhindern.
Die Diagnostik und Therapie einer PPH fordert ein multidisziplinäres Team mit klar definierten Aufgabenbereichen. Bei anhaltender Blutung ist die Geburt nicht mehr physiologisch, laut PPH-Leitlinie ist geburtshilflich-fachärztliches Personal zu rufen und die Anästhesiologie zu informieren, bei einem BV > 1.000 ml ist die Anästhesiologie hinzuzuziehen (AWMF, 2022).
Da die PPH eine plötzliche und fulminante Entwicklung nehmen kann, ist das Ziel eine schnellstmögliche optimale Therapie. Dafür müssen spezifische, auf die jeweiligen räumlichen, personellen und situativen Gegebenheiten angepassten »Wenn-dann«-Handlungsempfehlungen/SOPs etabliert sein, die mit allen Beteiligten entworfen und abgestimmt wurden, damit sie einsatzbereit sind, bevor es zum Notfall kommt – egal ob im Kreißsaal der Uniklinik oder bei der Hausgeburt.
Berichte über Prozesse im Zusammenhang mit geburtshilflichen Komplikationen (siehe auch DHZ 11/2023–5/2024) zeigen deutlich: Der frühzeitige Ruf nach kompetenter Unterstützung und zusätzlicher Expertise ist kein Zeichen der Schwäche, sondern eine aktive und sinnvolle Handlung in Kenntnis der Gefahr für Leib und Leben der Mutter, aber auch für das eigene Wohlbefinden. Im Fall der Fälle vergehen in der Regel Jahre vom Zwischenfall bis zur Verhandlung.