Expert:innen können in der Plazenta immer besser ablesen, wie es dem Feten ergangen ist, ob er Sauerstoffmangel hatte und ob er gut gedeihen konnte oder gar, warum er sterben musste. Um Erkenntnisse auch international austauschen und diese für weitere Forschung nutzen zu können, wurde im Jahr 2016 eine internationale Plazenta-Klassifikation publiziert.
Das kleine Fachgebiet der pathologischen Perinataldiagnostik hat in Deutschland eine lange Tradition von 1950 bis 1996. Nun hat sich vor einigen Jahren ein Wandel vollzogen. Die Perinataldiagnostik ist an vielen Standorten Deutschlands in die generelle Pathologie eingeflossen, frei nach dem Motto: Die Krankheiten kleiner Erwachsener können alle Patholog:innen diagnostizieren. Die Perinatalpatholog:innen, die enthusiastisch an ihrer Nische festhalten, kämpfen standhaft dagegen.
Die Renaissance der Plazenta
International hat innerhalb der Subspezialität Perinatalpathologie speziell die Plazenta an Interesse gewonnen, was wohl hauptsächlich zurückzuführen ist auf die im Jahr 2015 vom US-amerikanischen National Institute of Health (NIH) bereitgestellten 41,5 Millionen Dollar zur besseren Versorgung in der Schwangerschaft. Speziell sollte die Plazentaforschung (Human Placenta Project/HPP) gefördert werden, mit dem Ziel, die Plazenta durch intensive Basalforschung und Entwicklung neuer Methoden zu beleuchten, um so die mütterliche und fetale Sterblichkeit zu senken. Augenmerk sollte auf präventive Diagnostik gelegt werden (Reardon, 2015). Die Zukunftsvision ist, Biomarker im mütterlichen und/oder kindlichen Blut zu finden, die eine späte mütterliche Gestose, Präeklampsie, eine fetale Wachstumsretardierung oder gar einen intrauterinen Fruchttod voraussagen können. Mit einer engmaschigen Schwangerschaftsüberwachung und entsprechend früher Geburtseinleitung circa in der 37. Schwangerschaftswoche könnte man Tragödien verhindern, so die Hoffnung. In dem Zusammenhang rückten auch die Publikationen des britischen Epidemiologen David James Purslove Barker (1938–2013) wieder in den Fokus. Er hatte schon 1986 betont, der Fetus sei durch das intrauterine Milieu für das Leben geprägt (Barker & Osmond, 1986). Das heißt, dass spätere Erkrankungen schon intrauterin festgelegt werden (Barker, 1990). Er war überzeugt, dass beispielsweise eine Fehlernährung im Embryonalstadium koronare Herzerkrankungen im Erwachsenenalter nach sich ziehen könne. Hier spielt die Plazenta eine entscheidende Rolle, da sie als Mediator-Organ der Mutter und dem Fetus zwischengeschaltet ist und jede Form von Störungen speichert, die Stress für den Fetus bedeuten. Deshalb wird sie auch als das »fetale Tagebuch « bezeichnet (Gillan, 1992). Störungen können die materno-plazentare und plazentar-fetale Zirkulation oder/und auch die Reifung beeinträchtigen, was sich makroskopisch und/oder histologisch im Mikroskop zeigen kann.
Die Plazenta mutierte also von einem lästigen Abfallorgan, das im Kreißsaal entsorgt wurde, zu einem prognostischen Organ, dessen Botschaften möglicherweise Milliarden Euro an Behandlungskosten sparen können.
Das setzt allerdings voraus, dass man das »Tagebuch« lesen kann. Weiter ist Voraussetzung, dass die Kliniker:innen und Hebammen die Plazenten zur pathologischen Untersuchung schicken. Und das wiederum setzt ein klinisches Interesse voraus, das nur dann gegeben ist, wenn sie die Plazentadiagnosen verstehen und einen klinischen Nutzen für die Folgeschwangerschaft erkennen, indem durch Behandlung ein Wiederholungsrisiko minimiert wird. Man erkannte schnell, dass bis dato keine internationale Plazentaklassifikation existierte.
Abbildung 1: Aufbau und Struktur eines Plazenta-Reports (Turowski et al., 2018)
Abbildung: © Gitta Turowski
Internationale Klassifikation
Der Vorschlag einer internationalen diagnostischen pathologischen Klassifikation mit einer Übersicht international publizierter pathologischer Kriterien wurde 2012 veröffentlicht (Turowski et al., 2012). Man versuchte zum einen, die Plazentabefunde zu vereinfachen, um eine internationale Reproduzierbarkeit zu erleichtern. Zum anderen schlug man ein neues Format und eine Formulierung zur Erstellung des Plazentabefundes vor. Hauptintention hierbei war, die pathologische Diagnostik nicht nur Patholog:innen, sondern vor allem Kliniker:innen zugänglich zu machen. Hebammen und Pflegepersonal wurden hier im Besonderen angesprochen, da sie nicht nur oft der Gebärenden am nächsten sind, sondern auch als Betreuende und Vertraute der Frau den Verlauf der Schwangerschaft bis zur Geburt einschätzen können.
In diesem Ausgangs-Artikel von 2012 werden die vielfältigen Veränderungen, die die Plazenta bietet in neun Diagnosekategorien zusammengefasst:
- Normale Plazenta
- Plazenta mit akuter Chorioamnionitis
- Plazenta mit chronischer Entzündung (Villitis, Intervillositis)
- Plazenta mit mütterlicher Zirkulationsstörung
- Plazenta mit fetaler Zirkulationsstörung
- Plazenta mit Reifungsstörung
- Plazenta mit Zeichen einer genetischen Fehlentwicklung
- Plazenta mit Implantationsstörung
- Plazenta mit anderen Veränderungen.
Besonders wichtig war es den Autor:innen zu präzisieren, dass nur eine dieser Diagnosen gestellt werden soll und dass weitere konkurrierende Diagnosen in einem Kommentar erklärt und diskutiert werden, bei leicht verständlicher und einleuchtender Formulierung.
Dieser Vorschlag wurde nicht nur in Oslo, sondern auch in Dublin getestet, und eine Umfrage in einem Anschlussartikel veröffentlicht (Walsh et al., 2013). Demnach wollten 82,3 % der Obstetriker:innen an dieser Klassifikation und der Form des Reports festhalten.
Schließlich riefen diese Artikel die internationalen Perinatalpatholog:innen auf die Bühne. Kliniker:innen in Manchester und Groningen, in Zusammenarbeit mit Kolleg:innen aus Dublin und Australien luden eine Gruppe internationaler Perinatalpatholog:innen ein, sich in Amsterdam zu treffen und sich in zwei Tagen über eine Plazenta-Klassifikation zu einigen.
Man diskutierte jetzt international publizierte Kriterien zur Plazentadiagnostik, beginnend mit der makroskopischen Beurteilung und wie die Plazenta gesampelt werden sollte, also wie viel Gewebe nach welchen Kriterien für die mikroskopische Beurteilung eingebettet werden sollte. Schließlich einigte man sich auch hier auf eine Simplifizierung, die leicht reproduzierbar und leicht verständlich für internationale Patholog:innen war. Man inkludierte außerdem die Erstellung eines Reports, der leicht verständlich und klinisch nutzbar erstellt werden soll (Khong et al., 2016).
Welche Plazenten zur pathologischen Untersuchung?
Die Plazenta hat intrauterin eine Multiorganfunktion, die sie an Stelle fetaler Organe übernimmt, nämlich Gasaustausch (Lunge), Ernährungszufuhr und Ausscheidung (Gastrointestinum, Niere), Metabolismus und Hormonfunktion (Leber, Pankreas, Milz). Die Plazenta funktioniert, solange der Fet keine Mangelerscheinungen aufzeigt. Bestes Indiz ist hier das Wachstum. Erst wenn die Plazentafunktion nicht mehr gewährleistet ist, spricht man von einer Plazentainsuffizienz. Klinische Alarmsignale sind CTG- und/oder EEG-Veränderungen und mangelndes fetales Wachstum.
Makroskopisch sollte eine Plazenta zum Termin etwa 400 g wiegen, eine zentral inserierende Nabelschnur von 59,6+/-12,6 cm Länge haben, mit einer Spiralisierung von nicht mehr als drei Umdrehungen per 10 cm.
Die Indikationsstellung, eine Plazenta zur pathologischen Diagnostik zu senden, sollte nach internationalen Richtlinien geschehen, orientiert an mütterlichen, kindlichen und plazentaren Veränderungen (Royal College of Pathologists, 2022).
Abbildung 2: Plazenta mit relativ regelrechtem Wachstum eines Feten am Termin
Foto: © Gitta Turowski
Schwieriges Thema: Reifungsstörungen
Doch auch eine »kranke« Plazenta kann einen gesunden Feten begleiten und ein kranker Fet kann eine gesunde Plazenta zeigen. Dieses Phänomen ist der Reservekapazität der Plazenta geschuldet, die noch immer eine »black Box« darstellt und weiterer Forschung bedarf.
Ein Thema konnte nicht ausdiskutiert werden, weder in Amsterdam noch in einem Anschlusstreffen der internationalen Perinatalpatholog:innen in Dublin: die Reifungsstörungen in der Plazenta.
Zugegebenermaßen hat die Diskussion um die Reifung und Bedeutung der Reifungsstörung in der Plazenta eine deutsche Tradition (Becker & Kubli, 1981; Vogel & Turowski, 2020). Im anglo-amerikanischen Raum konnte man sich auf die Begriffe »accelerated« und »delayed Maturation« einigen: beschleunigte und verzögerte Reifung (Khong et al., 2016; Fitzgerald et al., 2012; Morgan et al., 2013; Redline, 2012). Dennoch kommt der Reifung des Mediator-Organs eine besondere Bedeutung zu, indem sie zum Beispiel schneller reifen und so Mangelzustände kompensieren kann, oder wenn sie nicht reift wie erwartet.
Zur näheren Erklärung muss man wissen, wie die Plazenta sich entwickelt und wie sie sich während der Schwangerschaft in neun Monaten differenziert. Tatsächlich ist die Plazenta schon nach rund 18 Tagen fertig entwickelt (siehe Abbildung 3). Parallel entwickelt sich der Fetus (siehe Abbildung 4).
Im weiteren durchläuft die Plazenta mit dem Feten eine Reifung, immer daran orientiert, ihre Rolle als Mediator-Organ zu erfüllen und sich dynamisch den Herausforderungen der mütterlichen, aber auch kindlichen Schwankungen zu stellen. Sie passt sich dynamisch an Metabolismus, Aktivität, Ernährung, Blutdruck und so weiter an. Ziel ist es, die Sauerstoffversorgung und das Wachstum des Feten zu sichern. Im Reifungsprozess durchläuft die Plazenta eine Differenzierung von unreifen Zotten zu reifen Zotten. Es erfolgen ein lineares villöses Wachstum, sowie eine Verzweigung und Differenzierung von Stroma, fetalen Kapillaren und dem villösen Trophoblasten.
Abbildung 3: (a) Primärzotten der Plazenta sind mit dem 13. Tag nach Befruchtung entwickelt und bestehen aus dem äußeren Syncytiotrophoblasten und dem inneren Cytotrophoblasten; (b) Sekundärzotten zeigen schon eingewandertes Mesenchym (gelb), entwickelt ca. am 16. Tag; (c) Tertiärzotten, ca. Tag 18, weisen Gefäße im Mesenchym auf. Somit entsteht ein feto-plazentarer Kreislauf (Vogel, 2020).
Abbildung: © Gitta Turowski
Abbildung 4 Embryonale Entwicklung
Abbildung: https://www.lecturio.de/artikel/medizin/pranatale-und-postnatale-physiologie/
Die verschiedenen Zottentypen können dabei unterschiedlichen Funktionen zugeordnet werden: So obliegt den Stammzotten die Stabilisierung des Blutstroms durch kontraktile Elemente der Blutgefäße und die Aufrechterhaltung des Gewebetonus der mechanischen Stabilität des Zottenbaums. Die unreifen Zwischenzotten repräsentieren die Wachstumszone, während die reifen Zwischenzotten zur Mikrozirkulation, Hormonproduktion und metabolischen Aktivität beitragen. Die terminalen Zotten dienen dem feto-maternalen Austausch und tragen zur Hormonproduktion bei (siehe Abbildung 5).
Kein anderes Organ im Körper ist während seiner Lebenszeit so dynamisch wie die Plazenta. Bis zum Geburtstermin zeigt sich diese Dynamik in einer Reifung der Zotten mit dem erklärten Ziel, die Gesamtaustauschfläche zu erhöhen und die Distanz zwischen mütterlichem und fetalem Kreislauf zu vermindern.
Ist der Reifungsprozess gestört, ist auch die Ernährung des Feten nicht länger gewährleistet und es kann zu einer Plazentainsuffizienz kommen. Ursache von Reifungsstörungen können assoziiert sein mit mütterlichen oder kindlichen Erkrankungen, wie etwa Diabetes, Adipositas oder auch genetischen Veränderungen.
Abbildung 5: Der villöse Zottenbaum: (1) Stammzotten; (2) unreife Zwischenzotten; (3) reife Zwischenzotten; (4) terminale Zotten
Abbildung: © Gitta Turowski
Ausblick
International sind auch nach dem Amsterdam-Workshop-Consensus noch viele Fragen offen. So wird zum Beispiel eine Abstufung der Kriterien für die Diagnose der mütterlichen Zirkulationsstörungen von gering über mittelmäßig bis ausgeprägt gefordert. Speziell in Terminplazenten überlappen sich die Kriterien mit natürlichen Degenerationsprozessen, die möglicherweise zurückzuführen sind auf die Erschöpfung der Reservekapazität der Plazenta (Slack & Parra-Herran, 2022). Hier gilt es einen Cut-off-Wert zu finden, der in der Konsequenz zu einem Konsens führen sollte, eine Übertragung zu vermeiden.
Weitere Forschung ist notwendig, um der Reservekapazität auf die Spur zu kommen. Und es gilt Biomarker zu finden, die eine präventive Diagnostik möglich machen.
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass der Amsterdam Workshop Consensus Grundvoraussetzungen für die internationale Zusammenarbeit bietet, da erst die Summe der Plazenten eine Kategorisierung in unterschiedliche Kohorten, wie Schwangerschaftslänge, mütterliche und kindliche Krankengeschichte, etc. im Vergleich ermöglicht. So wird internationale Forschungszusammenarbeit möglich, mit dem Potenzial, in der Zukunft offene Fragen beantworten zu können. Nicht zuletzt trägt internationaler fachlicher Austausch hier entscheidend bei.