Fast fünf Meter hoch ist die Figur »Ohne Titel« (1996). Sie besteht aus Eisen, Holz und Kunststoff. Foto: © Schirn Kunsthalle, Christian Krass

Der österreichische Bildhauer Bruno Gironcoli zeigt in überdimensionalen Konstruktionen eine seelenlose Massenproduktion von Mehrlingen, die einer Formpresse entsprungen zu sein scheinen. Sechs große Skulpturen sind gerade in Frankfurt zu sehen. 

Es könnte eine Konstruktion aus der Energietechnik sein: eine Art Hochspannungsanlage auf vier Beinen, deren scheibenartige Versatzstücke an Isolatoren erinnern. Als Techniklaie geht einem durch den Kopf: Traversen mit Drehspulen oder Elektrospindeln, die wie Croissants gewickelt sind. Ist der große, waagerecht liegende Kreisel auf der ersten Etage eine Art Turbine? Der abtastende Blick entdeckt direkt davor Beinchen und Ärmchen, kupfern wie das Gesamte. Sie gehören zu Säuglingen, die da rücklings aufgebockt auf Sockeln liegen. Ihre Haltung ist identisch, wie einer Formpresse entsprungen. Sie wirken wie soeben produziert. Auf ihren nackten Köpern sind technische Elemente befestigt. Ausdruck und Haltung sind starr, wie das ganze Ungetüm. Keine Bewegung ist bei der Skulptur »Ohne Titel « (1996) zu erkennen. Das Ganze wirkt wie ein Modell: ein Prototyp.

Von oben gesehen: Zwei Säuglinge gehören zur Figur »Ohne Titel« (1996). Andere Skulpturen von Gironcoli zeigen Mehrlinge in größerer Anzahl. Foto: © Schirn Kunsthalle, Norbert Miguletz

Organisierte Dinge

»Prototypen einer neuen Spezies«, heißt die Ausstellung in der Schirn Kunsthalle Frankfurt, wo sich sechs dieser wundersamen Apparate von Bruno Gironcoli (1934–2010) in ihrem silbernen, kupfernen oder goldenen Catsuit gegenseitig die Show stehlen. Sie faszinieren. Man fragt sich, ob ihre hohe Energie positiv oder negativ ist. Im Hirn versuchen sich bekannte Technikbilder aus Elektronik, industrieller Produktion und medizinischer Reproduktion zu vernetzen.

Auch andere der maschinenartigen Anlagen haben Säuglinge produziert, Mehrlinge en masse, eine offensichtlich schon acht Säuglinge, von denen einige auf einer abschüssigen Fläche aus dem Inneren der Maschine wie ins Leben rutschen. Um einige Babys züngeln Flammen aus Silber herum. Große Hitze schien von Nöten zu sein.

Gironcoli war eigentlich ein Maschinenhasser. Er erklärte: »Ich verzerre die Gegenstände auf meine Art, um zu schauen, wie es dem Subjekt in der Welt der Gegenstände geht. Doch meine Gegenstände sind keine Maschinen. Es sind organisierte Dinge.« Der Kunsthistoriker Wolfgang Pauser ging dem auf den Grund: »Dinge sind Teile, die einen eigenen Körper haben und ganz sind in dem Sinne, wie der Mensch einen eigenen und ganzen Körper haben will.« (Pauser 2004) Und die meisten Dinge der Alltagswelt seien Maschinen, meist elektrischer Natur, so Pauser weiter. Demnach müssten Gironcolis Skulpturen vielleicht doch Maschinen sein. Er hält fest: Skulpturen seien die einzig wahren Dinge auf dieser Welt. So definierte es auch der Dichter Rainer Maria Rilke vor 100 Jahren: »Skulpturen sind ein Nichtmitsterbendes, ein Dauerndes, ein Nächsthöheres: ein Ding«.

Zuoberst von »Ohne Titel« von 1996 sitzt eine Figur nach dem Roman »Murphy« von Samuel Beckett. Foto: © Schirn Kunsthalle, Norbert Miguletz

Metaphern für den Menschen

Gironcoli betitelte selbst alle seine Skulpturen mit dem Begriff Figur, denn er wollte zeigen, dass es ihm um den Menschen ging, um so etwas wie Individuen. »Bei diesem Ringen um das menschliche Abbild wende ich nur nicht diese Formenhülse Menschenbild dafür an. Ich versuche in Umschreibungen, in Umwegen, in der Psychologisierung der Umwelt das Menschenbild zu erfassen, weil die Darstellung, die Abbildung für mich zu wenig ergibt.« (Bregenzer Kunstverein 1995)

Als Jungmarxisten hatte ihn die industrielle Massenproduktion beschäftigt, die alle Menschen mit Dingen des Konsums versorgt. Laut Karl Marx bestehen Maschinen aus »zahlreichen mechanischen und intellektuellen Organen«, und die damit arbeitenden Menschen sind darin »selbst nur bewusste Glieder«. Dieser Gedanke prägte Gironcolis Themensuche im »Umfeld der menschlichen Bedürfnisse«, wie er es formulierte. »Dort habe ich den Menschen als Instrument seiner eigenen Mittel wiederentdeckt. Ich verzerre die Gegenstände auf meine Art, um zu schauen, wie es dem Subjekt in der Welt der Gegenstände geht.« Er nannte die Skulpturen auch mal »Requisiten der menschlichen Existenz«. Sie verbinden Mechanik und Organismus, Psychisches und Technisches . Das ist gar nicht so ganz neu. Schon der Philosoph und Naturwissenschaftler René Descartes (1596–1650) definierte den lebenden Organismus Mensch als eine Art mechanisches Maschinenmodell und sprach vom Körperautomaten. In den 1960erJahren, als Gironcoli zu den Elementen seiner Skulpturen fand, tauchte der Begriff des Cyborgs auf: ein Mischwesen aus lebendigem Organismus und Maschine.

Gebärende – nicht unbedingt weiblich

Die meisten der Figuren haben keinen genaueren Namen, einfach: »Ohne Titel«. Von den wenigen, die einen haben, umkreisen die meisten menschliche Reproduktion und Familienstrukturen: »Mutter Vater« (1969), »Engerling und seine Eltern« (1984–1989), »Mutterfigur« (1985–1989), »Mütterliches, Väterliches« (1968–1972), »Väterliches Mütterliches. Eine fiktive Modellvorstellung« (1968), »Gebärmutter« (1986–1990), »Figur des Ungeborenen« (1995) »Die Ungeborenen« (1996) »Die Eltern mit zwei Tischaufsätzen« (1989–1990), »Wir Villacher Kinder« (2003–2004/05), »Flammenkranz mit Baby« (2006). Sie symbolisieren den Prozess, Leben hervorzubringen. Es sind Gebärende, ohne zwangsläufig weiblich zu sein. Dabei spielt Elektrizität eine große Rolle. Sie ist für den Künstler eine Metapher für Sexualität: »Man könnte schon sagen, dass meinen Skulpturen ein verdrängter Kinderwunsch zugrunde liegt.«

Der gebürtige Villacher wurde 1961 Vater einer Tochter. Die Mutter war seine erste Frau, von der er sich scheiden ließ und die er wenige Jahre vor seinem Tod erneut heiratete. Sie sagte kurz vor seinem Tod: »Ich habe ihn auch gefragt, warum er nur einmal Vater wurde, das hat er mir bis heute nicht beantwortet. Er hatte nach der Scheidung noch zwei Partnerinnen, mit denen er noch Kinder hätte haben können.« In einem Interview wurde er gefragt: »Sie haben sich viel mit Jean-Paul Sartre befasst. Er meinte, man sollte Kinder nicht in diese Welt setzen.« Seine Antwort: »Ja, ich gehe mit dessen Ausführungen konform.«

Gironcoli fand als junger Mann und dann als junger Vater sein Thema und seine Form: »Schneller Brüter 2« entstand 1958. 1966 konstruierte er einen überdimensionalen Kinderwagen aus Metall, 1968 verwendete er zwei Babypuppen in einer Skulptur. Dann reduzierte er die menschliche Figur auf einfachste Grundformen, wie architektonische Elemente. Gleichzeitig bediente er sich am Dekor barocker Architektur: so etwa die gerollten Croissant-artigen Formen, sogenannte Voluten. Er reduzierte oder abstrahierte nicht bewusst und rational, sondern impulsiv und nach Gefühl. Er formte so lange, bis es für ihn einen gewissen Klang ergab, wie er erklärte. Rund 50 Jahre dauerte sein innerer Bauauftrag von Arbeiten immer derselben Natur: Apparaturen mit Embryonen, Feten und Säuglingen, stets Mehrlinge. Immer wieder eine Art neuer Matrix – ursprünglich das lateinische Wort für Gebärmutter

»Architektur des Körpers«

Daneben entstanden wohl Hunderte von Zeichnungen, eine für sich stehende Werkgruppe, in denen Gironcoli Apparate, unterschiedliche Menschen und Maschinen in Räumen miteinander verschmolzen, sie lesen sich wie Bauanleitungen für Fabrikeinrichtungen: Figurmaschinen, Maschinenfiguren, die wie am Fließband Dutzende von Embryonen und Säuglingen produzieren, transportieren, mit Haken halten, in Behälter legen, mit Stangen fixieren, in Hülsen pressen. Manchmal stehen Bezeichnungen daneben: Vierlinge, Embryohauben. Man sieht Elektromotoren, Steckdosen, Kabel oder Spulen.

Zwischen 1980 und 1985 entstanden Zeichnungen, wie Entwürfe zu Fabriken mit Kindergebärenden-Maschinen. Auf einer Zeichnung – hier ein Ausschnitt – lässt sich die Hauptgestalt »Murphy« gut erkennen: eine abstrakte Figur auf einem abstrakten Sessel. Foto: © Schirn Kunsthalle, Norbert Miguletz

Ein Mann namens Murphy

Zum Schluss fragt man sich, was auf der zweiten Etage, ganz zuoberst auf der »Figur ohne Titel« von 1996 thront. Man entdeckt diese nicht einfach zu definierende Form in Variation immer wieder bei seinen Skulpturen seit 1968, als er aus Aluminiumguss »Entwurf für eine Figur (Murphy)« schuf. Sie steht für einen Mann namens Murphy. Gironcoli hatte den ersten Roman von Samuel Beckett gelesen: »Murphy« von 1938. Dieser Romanheld bevorzugte es, seine Tage zu verbringen, indem er sich selbst mit sieben Schlaufen nackt an seinen Schaukelstuhl fesselte, diesen in Schwung brachte, regungslos darin verharrte und meditierte, bis der Stuhl und er zur völligen Ruhe kamen. Nur so glaubte er, sich seinem Wunschtraum nähern und das Gefühl genießen zu können, sein Geist habe sich von seinem Körper getrennt. Er weigerte sich zu arbeiten. Beckett beschrieb mit schwarzem Humor die Absurdität menschlichen Strebens.

Diese Figur von Beckett begleitete Gironcoli sein ganzes künstlerisches Leben. Als er in den 1960er Jahren als junger Fabrikarbeiter seine Familie ernähren musste, beteuerte er, dass er alles geben würde, wenn er aus diesem Umfeld rauskäme. Als Künstler hatte er lange Angst, schwach zu werden und dort wieder zu landen. Mit großer Energie gab er sich der Kunst hin, wollte in etwas Transzendentes eintauchen. In einem Schaukelstuhl wiegte er sich selbst wohl kaum, er war unaufhörlich am Arbeiten und Produzieren. Er stellte den Irrsinn menschlicher Reproduktion dar, statt sich seinem Wunsch, mehr Kinder als eines zu haben, hinzugeben.


Hinweis: Bruno Gironcoli – Prototypen einer neuen Spezies. Bis zum 12. Mai 2019 werden in der Frankfurter Kunsthalle Schirn sechs monumentale Skulpturen aus dem Spätwerk des Künstlers Bruno Gironcoli gezeigt.
www.schirn.de


Zitiervorlage
Heimbach B: Bruno Gironcoli: Mehrlinge vom Fließband. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2019. 71 (5): 110–112
Literatur

Bregenzer Kunstverein: Bruno Gironcoli. Arbeiten von 1962–1995. Katalog. Bregenz 1995

Heimbach B: Hoffnungslos: Bruno Gironcolis »Anatomie der guten Hoffnung«. DHZ 2007. 6: 67–70

Pauser W: Bruno Gironcoli. Lady Madonna. Zeichnungen 1980-1985. Katalog. Katalog, Hrsg. Galerie Elisabeth und Klaus Thoman. Innsbruck 2004

Weinhart M (Hrsg.): Bruno Gironcoli: Prototypen einer neuen Spezies. Prototypes for a new Species. Katalog 2019. Berlin

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