Die linksdrehende Milchsäure baut der Organismus schlechter ab, ein Übermaß kann das Blut übersäuern. Säuglinge sollten diese aufgrund des unreifen Stoffwechsels nicht aufnehmen. Die rechtsdrehende Form ist auch ein natürliches Zwischenprodukt des menschlichen Stoffwechsels und wird mit einem spezifischen Enzym abgebaut.
Bifidobakterien von Sekretorinnen
2015 wurde in der UC Davis Foods For Health Institute Lactation Study herausgefunden, dass sich Bifidobakterien schneller im Darm von Säuglingen etablieren, deren Mütter Sekretorinnen sind (Nelson 2014/siehe Kasten). Deren Milch enthält Fucosyloligosaccharide, welche die Bifidobakterien sehr gern konsumieren (Center of Health for Advancing Microbiome and Mucosal Protection 2015). Nicht-Sekretorinnen können diese Art der HMO nicht bilden. »Muttermilch von ihnen ist aber nicht weniger gesund », sagt David Mills, der leitende Studienautor. Die Arbeit zeige jedoch, dass der Genotyp der Mutter die Muttermilch und darüber die Orchestrierung der Mikroben beeinflusst.
Laktobazillen: vor allem im Dünndarm
In der Muttermilch befinden sich auch die meist stäbchenförmigen Laktobazillen (Lactobacillus), die ebenfalls darmnützlich die Laktose durch Gärung zu Milchsäure (Laktat) umwandeln und dadurch zu den sogenannten Milchsäurebakterien (Lactobacillaceae) gehören. Lactis bedeutet im Lateinischen »Milch« und bacillus »kleiner Stab«. Es gibt aber auch gekrümmte oder schraubenförmige Milchsäurebakterien, die nicht typisch für die Muttermilch sind.
Laktobazillen, die sich in der Regel nicht aktiv bewegen können, befinden sich zu bestimmten Anteilen in der Muttermilch und in anderen Milchen – der Häufigkeit nach: L. salivarius, L. fermentum, L. gasseri, L. reuteri, L. plantarum, L. rhamnosus , L. casei (Cabrera-Rubio et al. 2016; Jost et al. 2015).
Für Lactobacillus reuteri ist nachgewiesen: Es verstärkt über immunendokrine Gehirnsignalnetzwerke das Hormon Oxytocin und die systemischen Immunantworten (Erdmann 2016).
Es gibt viele Arten und Unterarten der Laktobazillen. Eine fand der Nobelpreisträger Elias Metchnikoff (1845–1916) bereits zwischen 1895 und 1897 in bulgarischer Sauermilch und brachte eine hohe Zahl dieser Laktobazillen in der Darmflora in Zusammenhang mit dem langen Leben einiger Bulgar:innen (Sherman 2015). Er vermutete, dass Milchsäurebakterien unerwünschte Fäulnisvorgänge im Darm unterdrücken, und riet zum Trinken von Kefir, Sauermilch und Joghurt. 1907 publizierte Metchnikoff, der wie Tissier am Pasteur-Institut forschte, dass Laktobazillen gesund seien. Angeregt von ihm, erforschte Dr. Minoru Shirota (1899–1982) an der Universität Kyoto in Japan die Wirkung der Darmbakterien auf die Gesundheit und fand den nach ihm benannten Lactobacillus casei Shirota, mit dem man auch Durchfall bei Babys behandelte.
Den Laktobazillen ordnete man damals auch die Bifidobakterien zu und nannte sie eine Zeit lang Lactobacillus bifidus. Frick: »Ende der 1960er Jahre grenzte man sie voneinander ab. Zwar bilden beide – Laktobazillen und Bifidobakterien – Milchsäure, doch über unterschiedliche Stoffwechselwege (Vries 1967). Bifidobakterien bilden gleichzeitig Essigsäure und es entsteht 25 % mehr des Energieträgers Adenosintriphosphat (ATP) als bei der Milchsäuregärung von Laktobazillen. Letztere besitzen eine homofermentative Milchsäuregärung, bei der fast nur Milchsäure produziert wird, oder eine heterofermentative, bei der außerdem entweder Kohlendioxid oder Essigsäure produziert wird. Bifidobakterien können sich aufgrund ihres anaeroben Stoffwechsels vor allem im Dickdarm durchsetzen, während Laktobazillen – vor allem L. gasseri und L. reuteri – den Dünndarm dominieren.« Zu den nützlichen Laktobazillen gehören die Döderlein-Bakterien (Döderleinsche Stäbchen), die auch in die Vagina wandern und vor krankheitserregenden Bakterien schützen. Laktobazillen im Rektum und der Vagina stimmen zu 80 % überein.
Wie Bifidobakterien und andere Milchsäurebakterien gehören Laktobazillen zu den kommensalen Bakterien. Das heißt, sie ernähren sich von Nahrungsrückständen, ohne Schaden zu verursachen, und fermentieren sie nutzbringend für den Menschen.
Lebenslange Einflüsse
Frick: »Die frühe Entwicklung der Darmmikrobiota kann die Gesundheit lebenslang beeinflussen. Dazu gehört auch das Immunsystem: Kommensale Bakterien regen die Bildung von Antikörpern sowie die Aktivität von Makrophagen an und aktivieren die Bildung schützender Enzyme. Der Stoffwechsel der Darmwand wird durch Substanzen, welche von den Bakterien gebildet werden (zum Beispiel kurzkettige Fettsäuren), angeregt, was unter anderem die Darmmotilität steigert.« Sie spielen auch eine Rolle dabei, die Darmbarriere zu verbessern.
Die heutige Ernährung ist zwar vielfältig, aber konserviert und raffiniert, dadurch stellt sie nicht genügend gute und verschiedene Bakterien zur Verfügung. Hinzu kommen Genussgifte wie Zucker, Alkohol, Koffein und Nikotin, mangelnde Bewegung und häufiger Medikamentenkonsum, beispielsweise Antibiotika. Alter, Nahrungsaufnahme, BMI und Rauchen beeinflussen das Niveau der Anzahl der Bifidobakterien. Die Zahl von Lactobacilli- oder Bifidobakterien-positiven Proben war in einer Studie signifikant niedriger bei Frauen, die während der Schwangerschaft oder Stillzeit eine Antibiotikatherapie erhalten hatten (Soto 2014).
Sie ist auch niedriger bei übergewichtigen Menschen – jedoch reversibel bei einer Gewichtsreduktion (Khonsari 2016). In der Studie wurde anhand einer Untersuchung an Mäusen gezeigt, dass eine fettreiche Ernährung die Population von Bifidobakterien um das 100-Fache verringerte (Khonsari 2016). Ein niedrigeres Niveau an Bifidobakterien lag bei veganer oder vegetarischer Ernährung vor, es stieg bei größerem Konsum von Reis. Zu selten werden über die Nahrung genügend neue Milchsäurebakterien aufgenommen, etwa durch Milch, Joghurt, Kefir oder Sauerkraut. Und viele Menschen kommen nicht auf die nötigen 30 g Ballaststoffe pro Tag. Kommensale Darmbakterien finden dann weniger geeignete Lebensbedingungen und werden von schädlichen Darmbakterien verdrängt.
In dieser gestörten Darmflora werden schädliche Enzyme, die Zellkernveränderungen hervorrufen können, zu wenig gehemmt, und zu wenig Immunzellen werden aktiviert, um entartete Zellen im Darm zu finden und zu zerstören. Eine Studie von 2018 ergab, dass Darmkrebs in den zurückliegenden 25 Jahren bei jüngeren Menschen zwischen 20 und 59 Jahren in Europa zugenommen hat (Vuik et al. 2018).
Das Erbe der Generation Y
Diese Überlegungen betreffen vor allem die Generation Y: Menschen, die in den frühen 1980er Jahren bis zu den späten 1990er Jahren geboren wurden, heute zwischen 20 und 40 Jahren alt sind – und damit im gebärfähigen Alter. Sie bekamen den Buchstaben Y verliehen, weil er auf Englisch »why« wie »warum« ausgesprochen wird, was auf die Neigung dieser Generation zum Hinterfragen verweisen soll.
Angeblich soll ein Drittel dieser Generation etwa in Australien bis 2023 aufgrund ungesunder Ernährung und Bewegungsmangel einen Diabetes erwerben und müsste daher im Grunde den Namen Generation D erhalten (Fröhlich 2007). Zu den eigenen Krankheitsrisiken kommt im Falle einer Sectio der beeinträchtigte Mutter-zu-Kind-Mikrobiotatransfer (Shao et al. 2019). Säuglinge, die vaginal geboren wurden, haben größere Populationen von Bifidobakterien und Lactobacilli als Kaiserschnittkinder, bei denen meist auch erst später ausreichend Muttermilch zur Verfügung steht. Besonders gestört wird dabei die Population der Bifidobakterien (Chen 2007). Sie erreicht erst nach einem Monat das Niveau der vaginal geborenen Babys (Khonsari 2016). Es kann dann offenbar bis zum siebten Lebensjahr dauern, bis der Darm ausgewogen besiedelt ist (Yapet 2014).
Dr. Martin Claßen, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin in Bremen, Vorsitzender der Gesellschaft für Pädiatrische Gastroenterologie und Ernährung: »Die langfristig negativen Auswirkungen einer Sectio für den Darm und das Immunsystem der Kinder wird immer noch zu wenig beachtet, insbesondere bei Schwangeren, die sich ohne medizinische Indikation eine Sectio wünschen.« Studien haben gezeigt, dass die falsche Darmbesiedelung auch ein Risiko für chronische Immunerkrankungen birgt (Sevelsted et al. 2015). Dazu zählen Allergien, Autoimmunerkrankungen oder Stoffwechselstörungen. Auch negative Auswirkungen auf die Psyche über die Darm-Gehirn-Achse (Gut-Brain-Axis) werden beschrieben. Deshalb applizierte man in einer Studie nach einer Sectio Darmmikrobiota der Mutter über die Nahrung den Neugeborenen (Korpela 2020). Claßen: »Eine Empfehlung für dieses Seeding kann allerdings noch nicht gegeben werden.«
Das Beste fürs Kind jedenfalls ist die Milch einer Mutter mit einer vielfältigen Mikrobiota und HMO.
Zeitalter der Probiotika?
Immer öfter werden lebende Bakterien (vor allem Laktobazillen und Bifidobakterien) zur Beeinflussung der Darmmikrobiota für Säuglinge und Erwachsene eingesetzt – Probiotika genannt. Der Begriff wurde 1965 von den Wissenschaftler:innen Daniel M. Lilly und Rosalie H. Stillwell eingeführt. 1995 kam der Begriff Präbiotika hinzu: Nährstoffe für die kommensalen Bakterien. 2002 wurden die Probiotika offiziell von der WHO als lebende Mikroorganismen anerkannt, die die menschliche Gesundheit verbessern können.
Für Durchfallerkrankungen wurde die Wirksamkeit von Probiotika in der Prävention oder Therapie bereits im Jahr 2000 nachgewiesen (Saavedra 2000). Sie werden vielfach eingesetzt, auch zur Behandlung entzündlicher Erkrankungen, etwa einer Mastitis oder Parodontitis, oder als regelmäßige Prophylaxe gegen Darmkrebs (Menche 2020).
Bei Menschen mit einer sogenannten Laktose-Unverträglichkeit, bei der Milchzucker nicht gespalten werden kann, weil ein Enzym fehlt, sollen Probiotika den Zucker abbauen und Beschwerden verringern. Therapeutisch eingesetzt wird etwa der stäbchenförmige Lactobacillus reuteri, erstmals 1962 isoliert und nach seinem Entdecker Gerhard Reuter benannt. Am besten bildet er bei 37 bis 42 °C antibiotisch wirkende Substanzen. Er wird als Mittel zur Zahngesundheit, gegen Durchfall oder Darmkoliken bei Kleinkindern sowie zur Bekämpfung von Helicobacter pylori eingesetzt und ist über die Milch übertragbar. Behandelt werden damit auch Frühgeborene, um eine nekrotisierende Enterocolitis (NEC) abzuwehren.