Illustration: © Birgit Heimbach

Von den Kleinsten können wir lernen, präsent zu sein. Sie leben unmittelbar. Immer im Hier und Jetzt, nicht im Gestern oder Übermorgen. Haben sie Hunger, dann äußern sie das so lange, bis das Bedürfnis gestillt ist. Sehnen sie sich nach Nähe, fordern sie diese ein – sie scheinen es förmlich zu riechen, wenn ihre Beziehungsperson sich dünn macht oder nicht aufmerksam ist.

Viele erwachsene Menschen wollen dahin zurückfinden, manchmal ausgelöst durch einen Denkzettel des Lebens, manchmal als Ziel jahrelanger Meditationsübung: zurück in die Präsenz des Augenblicks.

Zu viele Dinge gibt es, die im Alltagsgetümmel gleichzeitig getan werden wollen. Und dann ist da auch noch die schlechte Gewohnheit, immer und überall mobil erreichbar oder „Insta“ zu sein. Achtsamkeit und Präsenz wollen hart erarbeitet sein im Zeitalter von multimedialer Lichtgeschwindigkeit.

Inspiriert durch einen Film über die Performance »The Artist is Present« von Marina Abramović denke ich über die Hebammenkunst nach: Im New Yorker Museum of Modern Art saß die Künstlerin zu den Öffnungszeiten der Ausstellung in einem langen roten Kleid und schwieg. Ihr gegenüber konnten BesucherInnen Platz nehmen. Sie sah sie nur an – und rief allein damit intensive Gefühle hervor. Abramović ließ aus der Präsenz des Moments ihre Aktionskunst entstehen. Eine Kunst, die auch unter den Teilnehmenden einer Geburt entsteht: jedes Mal einzigartig, in jedem Moment von einer Gegenwärtigkeit geprägt, die dieser einen Frau, diesem einen Kind eigen ist und im Zusammenspiel mit der einen Hebamme möglich wird.

Hebammen sind Meisterinnen darin, Frauen und Familien vom Trubel in der Kreißsaalzentrale oder auf den Fluren nichts mitbekommen zu lassen. Betreten sie den Geburtsraum, strahlen sie Ruhe aus, lassen alle Hektik der stressigen Schicht außen vor und nehmen die Frau in ihrer Gegenwart wahr. Zwischen Hebamme und Gebärender entsteht eine ganz eigene Choreografie. Und ist es nicht die Hebamme, die sich gegenüber jeder einzelnen Frau neu und wertfrei öffnet? Wer könnte einer werdenden Mutter in der Zeit des Anamnesegesprächs, der Bauchmassage, dem Warten zwischen der Geburt des Köpfchens und des kindlichen Körpers ihre ganze Präsenz besser schenken als eine Hebamme?

Zitiervorlage
Steinmann, J. R. (2021). The midwife is present. Deutsche Hebammen Zeitschrift, 73 (6), 112.
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