» Konzepte aus der Luftfahrt zeigen: Interpersonelle Kompetenz zeichnet aus, dass alle an einem Strang ziehen und Abläufe reibungslos funktionieren – und doch muss jederzeit Raum für Kritik und Reflexion sein. « Foto: © Vladimir Melnikov

Was macht psychologisch starke Teams, Sicherheit und Organisationskultur aus? Das Konzept »Beyond Aviation« kommt aus der Luftfahrt, kann aber auch im Gesundheitswesen angewendet werden: Es steht dafür, interpersonelle Kompetenzen zu trainieren und in den Menschen zu investieren. Aus dem Risikofaktor soll der Sicherheitsfaktor Mensch entstehen. 

Der Mensch hat das Potenzial, Krisen und Herausforderungen zu meistern. Er hat Ausdauer, er hat unheimlich viele Stärken. Das zeigte sich besonders in den letzten eineinhalb Jahren der Pandemie, die wir nur gemeinsam meistern konnten. In der Medizin und Geburtshilfe lohnt es sich, in den Faktor Mensch zu investieren und interpersonelle Kompetenzen zu stärken. Der Mensch muss darin geschult werden, um mit Krisen und Herausforderungen adäquat umzugehen, sich im richtigen Moment durchzusetzen, sich und andere zu motivieren, offen mit Fehlern umzugehen, Erfahrungen zu teilen, Feedback zu geben, aber auch Feedback anzunehmen. Eine Hebamme muss wissen, wie sie auf andere wirkt. Sie sollte sich selbst reflektieren, um professionell und sicher zu handeln. Die gute Nachricht: All diese Kompetenzen können erlernt und trainiert werden.

Drei Kompetenzbereiche

Die Luftfahrt hat schon vor vielen Jahren erkannt, dass interpersonelle Kompetenzen die Sicherheit maßgeblich erhöhen. Daneben steht die technische und praktische Ausbildung samt vieler anschließender Überprüfungen. Nur wenn alle drei Kompetenzbereiche geschult sind und die Crews belegen können, dass sie diese anwenden, geht es auf den ersten Flug.

In der Medizin ist es häufig so, dass viel oder sogar fast alles in die Ausbildung der technischen und prozeduralen Fähigkeiten gelegt wird. Die interpersonellen Kompetenzen dagegen sollte man sich bestmöglich selbst aneignen oder gar mitbringen. Die Medizin muss sich in diesem Bereich verändern, der Mensch muss mehr in den Vordergrund gestellt werden. Wie in der Luftfahrt üblich, braucht es auch in der Medizin und Geburtshilfe neben technischen und prozeduralen Fähigkeiten interpersonelle Kompetenzen. Es reicht eben nicht, einen perfekten Dammschutz zu machen. Damit diese Kompetenzen erfolgreich im Alltag angewendet werden können, braucht es auch eine Kultur des Vertrauens, der Identifikation und der Werte mit einer psychologischen Sicherheit im Unternehmen und im Team.

Abbildung 1: Psychologische Sicherheit bedeutet, dass jede einzelne Person eine Rolle hat, sowie auch das Team, die Führungskräfte und die Organisation. Quelle: BlueEQ Model Four Quadrants of psychological safety, blueeq.com, modifiziert von M Egerth

Vertrauen

Im Gesundheitswesen ist Vertrauen sehr wichtig. Vertrauen innerhalb des Teams, in die Führung, in sich selbst und natürlich das Vertrauen der Schwangeren und Patient:innen in das System. Dies ist entscheidend für Erfolg, Wohlbefinden und Sicherheit. Vertrauen führt auch zu Identifikation. Es reicht nicht, wenn sich Mitarbeiter:innen mit dem eigenen Beruf identifizieren. Sie müssen sich im Idealfall auch mit dem Arbeitgeber identifizieren, denn nur dann wird man gemeinsam Krisen meistern, Fehler offen aufarbeiten und Erfolge feiern. Gerade in der Medizin braucht es psychologisch sichere Teams. Diese zeichnet aus, dass jede Person zu jeder Zeit ihre Meinung und Vorschläge einbringen, auf Fehler hinweisen und eigene Fehler eingestehen kann, ohne dafür bestraft zu werden.

Es gibt vier Quadranten der psychologischen Sicherheit (siehe Abbildung 1). Es sollte dabei erwünscht sein, dass wir aus Vergangenem lernen, dass wir uns durchsetzen, wenn es die Situation erfordert, dass wir auf Augenhöhe und mit Respekt kooperieren und andere mit einbeziehen.

Abbildung 2: Einflussfaktoren auf die psychologische Sicherheit Quelle: Egerth M, 2021

Durchsetzungsvermögen: Speak up

Besonders das »Speak up« hat die Luftfahrt maßgeblich sicherer gemacht (siehe Abbildung 2). Hierarchien wurden abgeflacht und im Training die dafür notwendigen Kompetenzen erlernt. Richtiges Durchsetzungsvermögen bedeutet, die Fähigkeit zu besitzen, Bedenken in sicherheitsrelevanten Situationen so lange mit Nachdruck zu äußern, bis eine Lösung gefunden wurde. Wenn die Patient:innensicherheit in der Geburtshilfe gefährdet scheint, muss Verantwortung übernommen werden. Hier gilt es, als Individuum bestimmt und respektvoll aufzutreten sowie selbstbewusst und angemessen zu handeln. Um durchsetzungsstark zu sein, müssen Situationen richtig beschrieben, das Kommunikationsverhalten entsprechend angepasst, Lösungsvorschläge präsentiert, Rückfragen gestellt und Entscheidungen eingefordert werden. Dies sollte immer mit dem Blick auf die größtmögliche Sicherheit für Patient:innen und Mitarbeiter:innen passieren.

Durchsetzungsvermögen kommt nicht über Nacht. Es muss gewollt, Teil der Kultur und des gelebten Miteinanders sein und es braucht Training und Zeit. Dass es möglich ist, zeigt ein Beispiel: Bei einem Training von interdisziplinären Führungskräften eines großen Krankenhauses war die Frage, wie sie »Speak up« fördern können. Es wurde das Vorbild gebracht, dass in London seit den Anschlägen überall in der Stadt Plakate hängen mit dem Slogan »See it, say it, sorted«. Sprich: Nimm etwas wahr (zum Beispiel eine herrenlose Tasche am Bahnhof), informiere die Behörden (say it) und die Behörden kümmern sich darum (sorted).

Diese Herangehensweise kann in der Medizin genutzt werden: »See it, say it, fix it«. Der Unterschied liegt darin, dass das medizinische Personal es selbst in der Hand hat, das Problem zu erkennen, anzusprechen und zu lösen. In der Luftfahrt gibt es für diese Situationen genaue Verfahren und Kommandos – etwa »I have control« oder »Go around«. Das sind antrainierte Verfahren. Beim Ausruf dieser Kommandos ist jedem sofort klar, dass es sich um eine kritische Situation handelt.

»I have control« erschien den Führungskräften des Krankenhauses zu hart. Daher wurden sie gebeten, eine Lösung für sich, ihr Team und passend zu ihrer Kultur zu erarbeiten. Monate später verkündete der Leiter der Gynäkologie ein Kommando, das zu ihnen passt: »Red Flamingo«. Wann immer die Sicherheit der Mitarbeiter:innen oder Patient:innen während einer Operation gefährdet ist – durch Fehler, durch mangelndes Situationsbewusstsein oder falsche Kommunikation – kann jede:r zu jeder Zeit »Roter Flamingo« sagen. Wenn es die Situation zulässt, wird kurz innegehalten, geschmunzelt und dann fragt der Operateur, wer es gesagt hat und warum. Dann wird es besprochen und eine Lösung gefunden. In den ersten Monaten verringerten sich die Fehler bereits deutlich. Aber noch viel eindrücklicher hat sich der Zusammenhalt, die Motivation, die psychologische Sicherheit im Team verbessert.

»Silodenken« vermeiden

In einem gut funktionierenden Team ist es wichtig, dass es nicht zu einem »Silodenken« kommt. Ein Silo beschreibt ein System, das verschiedene Arten von Mitarbeiter:innen voneinander trennt, in der Regel getrennt nach Abteilungen. Dies kann zu Barrieren führen, die der teamübergreifenden Zusammenarbeit und Kommunikation im Weg stehen, die Effizienz mindern und den Informationsfluss behindern. Verschiedene Abteilungen kann und muss es geben. Gefährlich wird es aber, wenn Informationen nicht geteilt werden, wenn es zu Machtkämpfen kommt, wenn nur auf die eigene Disziplin und Fachrichtung geachtet wird.

Während einer Operation müssen alle Abteilungen und Disziplinen reibungslos zusammenarbeiten und funktionieren. Es geht nicht darum, wer mehr am Erfolg beteiligt war oder wer das Lob bekommt. Kritisch ist ein Silodenken innerhalb des gleichen Teams, wenn erfahrene Mitarbeiter:innen oder ausgewiesene Experten:innen ihr Wissen nicht teilen wollen und andere behindern, um möglicherweise selbst in einem besseren Licht zu stehen.

Automation, Technologie und Checklisten sind ein wichtiger Bestandteil der Arbeit von Crewmitgliedern. Die Arbeit soll dabei nicht unnötig kompliziert und aufwendig gemacht werden, sondern das Ziel ist es, Fehler zu reduzieren und Arbeitsabläufe zu standardisieren. Im Notfall sollen die Crews unterstützt und angeleitet werden, um aus Vergangenem zu lernen.

Wenn bei irgendeiner Fluggesellschaft ein Vorfall passiert, wird dieser umgehend analysiert. Die Crews passen ihre Verfahren und Checklisten an oder führen zusätzliche Verfahren ein. Immer mit dem Ziel, aus Fehlern zu lernen, um sie nicht noch einmal zu machen. Auch in der Medizin wurden Checklisten und Automation eingeführt. Damit diese aber richtig angewendet werden, müssen sie erklärt und trainiert werden. Alle müssen verstehen, warum diese Verfahren eingeführt, wie sie angewendet werden und welche Auswirkungen sie auf Einzelne, das Team und die Abläufe haben. Und gerade bei Automation und Technologie ist es wichtig, dass man weiß was zu tun ist, wenn diese ausfällt.

Trügerisch beim Umgang mit Verfahren ist häufig Sorglosigkeit. Diese entsteht, wenn wenig oder nichts passiert und man sich daran gewöhnt oder sich eigene Verfahren und Abläufe etablieren. Ein Beispiel: In einem Training wurde das Team gefragt, ob Team-Time-Outs (siehe Kasten) und Checklisten immer zu 100 % angewendet werden. Einer der Anwesenden war so ehrlich und meinte, dass man sich bei großen Operationen immer zu 100 % an alle Vorgaben halte, aber bei kleineren Operationen, und wenn sich alle kennen, durchaus mal auf das Team-Time-Out verzichtet werde. Das Risiko für Fehler oder Komplikationen ist jedoch in beiden Fällen gegeben. Wie würden Sie sich fühlen, wenn Pilot:innen auf einem Flug Frankfurt–New York alle Checklisten bearbeiten, auf einem Flug Frankfurt–Hamburg jedoch nicht?

Team-Time-Out
Das »Team-Time-Out« wird von einer qualifizierten Koordinator:in und in anderen Fällen Operateur:in initiiert. Er oder sie ist ein Teil des Behandlungsteams. Während des Team-Time-Outs ruhen alle Aktivitäten, ohne die Sicherheit des Patienten oder der Patientin zu gefährden. Die Konzentration ist auf die aktive Verifizierung gerichtet. Durch Ansage und Vergleich oder via Checkliste werden folgende Punkte etwa bei einer OP geprüft: Identifikation des/der Patient:in, Identifikation von Prozedur und Eingriffsort, Abgleich mit Aufnahmen bildgebender Verfahren, Vorstellung und Rollen der Teammitglieder, richtige Lagerung des/der Patient:in und das Vorhandensein der richtigen Instrumente.

Verfahren funktionieren nur dann, wenn sie immer zu 100 % angewendet werden, ohne Ausreden und ohne Kompromisse. Somit wird es zur Routine und dann ist auch die Sicherheit gewährleistet und es kommt zu keiner Sorglosigkeit.

Fazit

Interpersonelle Kompetenzen sind im Gesundheitswesen genauso wichtig wie die fachlichen und technischen Kompetenzen. Dazu gehören Entscheidungsfindung, Teamarbeit, Resilienz, Umgang mit Herausforderungen, Durchsetzungsvermögen, Kommunikation, Kultur, Empathie, Inspiration, Führung, Fehler- und Risikomanagement und Situationsbewusstsein. Diese Kompetenzen dürfen nicht erwartet werden, sondern müssen trainiert werden. Im Idealfall interprofessionell, interdisziplinär und vor allem nachhaltig.

Es braucht Motivation und Interesse. Es braucht aber auch Identifikation mit dem Beruf und mit dem Arbeitgeber und es braucht Teamgeist. Psychologische Sicherheit im Team führt zu Arbeitszufriedenheit, gegenseitiger Motivation, Mitarbeiter:innen- und Patient:innensicherheit.

Wenn das Team übereinstimmt, wenn die Kommunikation funktioniert, wenn man respektvoll miteinander umgeht, wenn man Fehler erkennt und als Team behebt und daraus lernt, wenn die Führungskräfte motivieren und inspirieren und wenn das Wir wichtiger ist als das Ich, dann kann am Ende kommen, was will. Denn das Team ist vorbereitet, motiviert und mit allen Kompetenzen für den Alltag und die Krise ausgestattet.

Zitiervorlage
Egerth, M. (2021). Der Mensch macht den Unterschied. Deutsche Hebammen Zeitschrift, 73 (9), 8–12.
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