Leitlinien und Richtlinien sollen in erster Linie dafür sorgen, dass das Behandlungsniveau der Gesundheitsberufe konstant bleibt und eine Qualitätssicherung erreicht wird. Veraltete Behandlungsmethoden und entbehrliche Kosten sollen vermieden werden (Knehe, 2016, 104).
Leitlinien und Empfehlungen – letztere haben keinen offiziellen Charakter – sollen Entscheidungshilfen und Handlungsempfehlungen darstellen. Sie können medizinische Entscheidungen der Hebammen transparent machen, da sie allgemein zugänglich und daher auch für die Patient:innen einsehbar sind.
Es handelt sich bei Leitlinien und Empfehlungen nicht um Rechtsnormen, sondern um sachverständige Empfehlungen für eine angemessene Vorgehensweise bei bestimmten Gesundheitsproblemen, die von wissenschaftlichen Gesellschaften, Berufsverbänden und interessierten Kreisen zusammengestellt werden. Neben vertragsärztlichen Richtlinien und verbindlichen Klinikstandards entfalten sie keine Bindungswirkung. Sie ersetzen auch keine Sachverständigengutachten, zum Beispiel in einem Haftungsprozess. Allgemeine verbindliche Standards werden durch sie nicht gesetzt. Leitlinien entfalten allerdings eine Indizwirkung für den geltenden fachlichen Standard.
Im Gegensatz zu Leitlinien geben Richtlinien in der Regel verbindliche Therapiemaßnahmen vor, wogegen Empfehlungen lediglich gewisse Abläufe vorschlagen (Knehe, 2016, 104, 105).
Leitlinien als Entscheidungshilfen
Leitlinien werden in drei Qualitätsstufen untergliedert. Stufe 1 stellt eine informell erarbeitete Leitlinie dar, Stufe 2 ist das Ergebnis eines strukturierten Konsensusverfahrens. Eine Leitlinie der Stufe 3 muss in einem geregelten Verfahren von einer repräsentativ besetzten Kommission unter dem Gesichtspunkt der evidenzbasierten Medizin entwickelt worden sein (AWMF, 2023).
In gerichtlichen Auseinandersetzungen können Leitlinien lediglich Entscheidungshilfen für die Urteilsfindung darstellen. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass neben den Leitlinien für die Gesundheitsberufe grundsätzlich Therapiefreiheit besteht, für Hebammen genauso wie für Ärzt:innen. Nicht jedes Abweichen von Leitlinien führt notwendigerweise zu einem schuldhaften und pflichtwidrigen Verhalten der handelnden Personen.
Im Ergebnis bedeutet dies, dass es nicht immer einen Behandlungsfehler darstellen muss, wenn von Leitlinien abgewichen wurde. Auf der anderen Seite scheidet eine Haftung nicht allein deswegen aus, nur weil sich die Hebamme an die Leitlinie gehalten hat.
So hat zum Beispiel das Oberlandesgericht (OLG) Koblenz mit Urteil vom 5. Februar 2009 (Az.: 5 U 854/08) entschieden, dass zwar die Leitlinie der geburtshilflichen Fachgesellschaften bei einer Sectio einen Grenzwert von 20 Minuten zwischen der notwendigen Entschließung zur Sectio und der Entwicklung des Kindes nennt, eine Überschreitung dieser Frist um 8 Minuten allerdings nicht notwendigerweise zu einer Pflichtverletzung der handelnden Personen führen müsse.
Die Zeitspanne zwischen Entschließung zur Sectio und deren Durchführung (EE-Zeit) hänge nicht nur von Leitlinien, sondern unter anderem auch von der Größe des Krankenhauses und dessen Zuschnitt – räumlich und personell – sowie davon ab, ob eine Belegabteilung vorhanden sei oder nicht. Der im dortigen Verfahren angehörte Sachverständige, dessen Auffassung das OLG der strikten Anwendung der Leitlinien vorgezogen hatte, hatte insbesondere geäußert, dass eine Zeit von 20 Minuten »übertrieben sei« – im Sinne von zu kurz. Bereits aus dieser Entscheidung ist zu ersehen, dass das Nichteinhalten von Leitlinien nicht notwendigerweise zu einer Pflichtverletzung und Haftung führen muss.
Richtlinien sind verbindlich
Richtlinien werden anders beurteilt. Sie sind von rechtlich legitimierten Institutionen ausgearbeitet und veröffentlicht. Sie sind daher verbindlich, wobei sich die Verbindlichkeit nur für die konkreten Adressat:innen der Richtlinie ergibt. Richtlinien räumen üblicherweise nur einen geringen Ermessensspielraum ein. Das Nichteinhalten von Richtlinien stellt üblicherweise einen Verstoß gegen den Facharztstandard dar und kann daher eine Haftung begründen (Knehe, 2016, 108).
Richtlinien, die sich speziell an Hebammen wenden, sind in der Fachliteratur nicht genannt. Als Ausnahme seien die Mutterschafts-Richtlinien (Mu-RL) genannt, wobei Hebammen streng genommen keine Adressat:innen dieser Richtlinie sind, da sie nicht Mitglied im Gemeinsamen Bundesausschuss sind, der diese Richtlinie entwickelt hat. Die Richtlinie regelt die ärztliche Betreuung der Versicherten während der Schwangerschaft und nach der Geburt, insbesondere den Umfang und Zeitpunkt der Leistungen, das Zusammenwirken mit Hebammen und die Dokumentation im sogenannten Mutterpass (G-BA zur Fassung vom 21.9.2023).
Die Hebammenhilfe nach § 24d SGB V ist nicht Gegenstand dieser Richtlinie (Vorbemerkung zur Mu-RL). Als Orientierungsmaßstab sind die Mutterschafts-Richtlinien jedoch auch für Hebammen geeignet. Es wird im Schadensfall unter anderem anhand dieser Richtlinien geprüft werden, ob der Hebamme möglicherweise eine Pflichtverletzung vorzuwerfen ist. Die Ausführungen in den Mutterschafts-Richtlinien sind daher für Hebammen auf der Stufe von Leitlinien zu berücksichtigen.
Die Hebammen-Berufsordnungen der Bundesländer sind dagegen keine Richtlinien, sondern Rechtsverordnungen mit Gesetzeskraft.
Hinsichtlich Richtlinien hat das OLG Hamm im Urteil vom 27. Januar 1998 (Az.: 3 U 26/98) ausgeführt (Rdnr. 39), dass eine regelrechte Behandlung nicht, jedenfalls nicht allein, durch Richtlinien bestimmt wird. Vielmehr beurteilt sich die – bei der regelrechten Behandlung – zu beachtende Sorgfalt nach dem Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft zur Zeit der Behandlung. Richtlinien können diesen Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nur deklaratorisch wiedergeben, nicht aber konstitutiv begründen: Richtlinien stellen klar, begründen aber keine wissenschaftliche Evidenz. Ärzt:innen müssen, um den erforderlichen Erkenntnisstand zu erlangen, die einschlägigen Fachzeitschriften des entsprechenden Fachgebiets regelmäßig lesen (BGH NJW, 1991, 1535).
Beweislastumkehr
Vorsicht ist daher insbesondere in den Fällen geboten, in denen Hebammen der Vorwurf gemacht wird, sich nicht an Leitlinien gehalten zu haben und dies zu einer Beweislastumkehr führen soll. Die Patientin könnte es dann dabei belassen, sich auf die Ausführungen in den Leitlinien zu beschränken und der Hebamme die Pflicht auferlegen, nachzuweisen, warum es im konkreten Fall geboten war, von den Leitlinien abzuweichen.
Eine solche Beweislastumkehr sehen jedoch insbesondere die Vorschriften über den Behandlungsvertrag im Bürgerlichen Gesetzbuch (§§ 630a ff. BGB) nicht vor. Auch für Gesundheitsberufe gilt, dass stets die für die Patient:innen sicherste Methode zur wählen ist, wofür Leitlinien Anhaltspunkte liefern können. Abweichende Methoden können jedoch ausdrücklich im Behandlungsvertrag vereinbart werden (§ 630a Abs. 2 BGB).
Zusammenfassend kann daher festgestellt werden, dass es sich bei Leitlinien um Entscheidungshilfen über die angemessene medizinische Vorgehensweise und entsprechenden Handlungsempfehlungen handelt, von denen allerdings in begründeten Fällen abgewichen werden kann beziehungsweise muss. Sie indizieren nicht ohne Weiteres das Vorliegen eines Behandlungsfehlers, insbesondere nicht eines groben Behandlungsfehlers.