»Niedrig-Risiko-Geburten wurden durch die Rechtsprechung stets anders beurteilt als Hoch-Risiko-Geburten. Auch ohne die Leitlinie müssen Hebammen prüfen, ob es sich insoweit um eine regelrechte oder bereits pathologische Geburt handelt.« Illustration: © Ikon Images/imago-images

Am Beispiel der S3-Leitlinie »Vaginale Geburt am Termin« wird die rechtliche Bedeutung von Leitlinien in der Hebammenarbeit dargestellt – auch in Abgrenzung zu Richtlinien. Denn Leitlinien sind Handlungsempfehlungen und ersetzen nicht die individuelle Prüfung im Einzelfall.

Leitlinien und Richtlinien sollen in erster Linie dafür sorgen, dass das Behandlungsniveau der Gesundheitsberufe konstant bleibt und eine Qualitätssicherung erreicht wird. Veraltete Behandlungsmethoden und entbehrliche Kosten sollen vermieden werden (Knehe, 2016, 104).

Leitlinien und Empfehlungen – letztere haben keinen offiziellen Charakter – sollen Entscheidungshilfen und Handlungsempfehlungen darstellen. Sie können medizinische Entscheidungen der Hebammen transparent machen, da sie allgemein zugänglich und daher auch für die Patient:innen einsehbar sind.

Es handelt sich bei Leitlinien und Empfehlungen nicht um Rechtsnormen, sondern um sachverständige Empfehlungen für eine angemessene Vorgehensweise bei bestimmten Gesundheitsproblemen, die von wissenschaftlichen Gesellschaften, Berufsverbänden und interessierten Kreisen zusammengestellt werden. Neben vertragsärztlichen Richtlinien und verbindlichen Klinikstandards entfalten sie keine Bindungswirkung. Sie ersetzen auch keine Sachverständigengutachten, zum Beispiel in einem Haftungsprozess. Allgemeine verbindliche Standards werden durch sie nicht gesetzt. Leitlinien entfalten allerdings eine Indizwirkung für den geltenden fachlichen Standard.

Im Gegensatz zu Leitlinien geben Richtlinien in der Regel verbindliche Therapiemaßnahmen vor, wogegen Empfehlungen lediglich gewisse Abläufe vorschlagen (Knehe, 2016, 104, 105).

Leitlinien als Entscheidungshilfen

Leitlinien werden in drei Qualitätsstufen untergliedert. Stufe 1 stellt eine informell erarbeitete Leitlinie dar, Stufe 2 ist das Ergebnis eines strukturierten Konsensusverfahrens. Eine Leitlinie der Stufe 3 muss in einem geregelten Verfahren von einer repräsentativ besetzten Kommission unter dem Gesichtspunkt der evidenzbasierten Medizin entwickelt worden sein (AWMF, 2023).

In gerichtlichen Auseinandersetzungen können Leitlinien lediglich Entscheidungshilfen für die Urteilsfindung darstellen. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass neben den Leitlinien für die Gesundheitsberufe grundsätzlich Therapiefreiheit besteht, für Hebammen genauso wie für Ärzt:innen. Nicht jedes Abweichen von Leitlinien führt notwendigerweise zu einem schuldhaften und pflichtwidrigen Verhalten der handelnden Personen.

Im Ergebnis bedeutet dies, dass es nicht immer einen Behandlungsfehler darstellen muss, wenn von Leitlinien abgewichen wurde. Auf der anderen Seite scheidet eine Haftung nicht allein deswegen aus, nur weil sich die Hebamme an die Leitlinie gehalten hat.

So hat zum Beispiel das Oberlandesgericht (OLG) Koblenz mit Urteil vom 5. Februar 2009 (Az.: 5 U 854/08) entschieden, dass zwar die Leitlinie der geburtshilflichen Fachgesellschaften bei einer Sectio einen Grenzwert von 20 Minuten zwischen der notwendigen Entschließung zur Sectio und der Entwicklung des Kindes nennt, eine Überschreitung dieser Frist um 8 Minuten allerdings nicht notwendigerweise zu einer Pflichtverletzung der handelnden Personen führen müsse.

Die Zeitspanne zwischen Entschließung zur Sectio und deren Durchführung (EE-Zeit) hänge nicht nur von Leitlinien, sondern unter anderem auch von der Größe des Krankenhauses und dessen Zuschnitt – räumlich und personell – sowie davon ab, ob eine Belegabteilung vorhanden sei oder nicht. Der im dortigen Verfahren angehörte Sachverständige, dessen Auffassung das OLG der strikten Anwendung der Leitlinien vorgezogen hatte, hatte insbesondere geäußert, dass eine Zeit von 20 Minuten »übertrieben sei« – im Sinne von zu kurz. Bereits aus dieser Entscheidung ist zu ersehen, dass das Nichteinhalten von Leitlinien nicht notwendigerweise zu einer Pflichtverletzung und Haftung führen muss.

Richtlinien sind verbindlich

Richtlinien werden anders beurteilt. Sie sind von rechtlich legitimierten Institutionen ausgearbeitet und veröffentlicht. Sie sind daher verbindlich, wobei sich die Verbindlichkeit nur für die konkreten Adressat:innen der Richtlinie ergibt. Richtlinien räumen üblicherweise nur einen geringen Ermessensspielraum ein. Das Nichteinhalten von Richtlinien stellt üblicherweise einen Verstoß gegen den Facharztstandard dar und kann daher eine Haftung begründen (Knehe, 2016, 108).

Richtlinien, die sich speziell an Hebammen wenden, sind in der Fachliteratur nicht genannt. Als Ausnahme seien die Mutterschafts-Richtlinien (Mu-RL) genannt, wobei Hebammen streng genommen keine Adressat:innen dieser Richtlinie sind, da sie nicht Mitglied im Gemeinsamen Bundesausschuss sind, der diese Richtlinie entwickelt hat. Die Richtlinie regelt die ärztliche Betreuung der Versicherten während der Schwangerschaft und nach der Geburt, insbesondere den Umfang und Zeitpunkt der Leistungen, das Zusammenwirken mit Hebammen und die Dokumentation im sogenannten Mutterpass (G-BA zur Fassung vom 21.9.2023).

Die Hebammenhilfe nach § 24d SGB V ist nicht Gegenstand dieser Richtlinie (Vorbemerkung zur Mu-RL). Als Orientierungsmaßstab sind die Mutterschafts-Richtlinien jedoch auch für Hebammen geeignet. Es wird im Schadensfall unter anderem anhand dieser Richtlinien geprüft werden, ob der Hebamme möglicherweise eine Pflichtverletzung vorzuwerfen ist. Die Ausführungen in den Mutterschafts-Richtlinien sind daher für Hebammen auf der Stufe von Leitlinien zu berücksichtigen.

Die Hebammen-Berufsordnungen der Bundesländer sind dagegen keine Richtlinien, sondern Rechtsverordnungen mit Gesetzeskraft.

Hinsichtlich Richtlinien hat das OLG Hamm im Urteil vom 27. Januar 1998 (Az.: 3 U 26/98) ausgeführt (Rdnr. 39), dass eine regelrechte Behandlung nicht, jedenfalls nicht allein, durch Richtlinien bestimmt wird. Vielmehr beurteilt sich die – bei der regelrechten Behandlung – zu beachtende Sorgfalt nach dem Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft zur Zeit der Behandlung. Richtlinien können diesen Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nur deklaratorisch wiedergeben, nicht aber konstitutiv begründen: Richtlinien stellen klar, begründen aber keine wissenschaftliche Evidenz. Ärzt:innen müssen, um den erforderlichen Erkenntnisstand zu erlangen, die einschlägigen Fachzeitschriften des entsprechenden Fachgebiets regelmäßig lesen (BGH NJW, 1991, 1535).

Beweislastumkehr

Vorsicht ist daher insbesondere in den Fällen geboten, in denen Hebammen der Vorwurf gemacht wird, sich nicht an Leitlinien gehalten zu haben und dies zu einer Beweislastumkehr führen soll. Die Patientin könnte es dann dabei belassen, sich auf die Ausführungen in den Leitlinien zu beschränken und der Hebamme die Pflicht auferlegen, nachzuweisen, warum es im konkreten Fall geboten war, von den Leitlinien abzuweichen.

Eine solche Beweislastumkehr sehen jedoch insbesondere die Vorschriften über den Behandlungsvertrag im Bürgerlichen Gesetzbuch (§§ 630a ff. BGB) nicht vor. Auch für Gesundheitsberufe gilt, dass stets die für die Patient:innen sicherste Methode zur wählen ist, wofür Leitlinien Anhaltspunkte liefern können. Abweichende Methoden können jedoch ausdrücklich im Behandlungsvertrag vereinbart werden (§ 630a Abs. 2 BGB).

Zusammenfassend kann daher festgestellt werden, dass es sich bei Leitlinien um Entscheidungshilfen über die angemessene medizinische Vorgehensweise und entsprechenden Handlungsempfehlungen handelt, von denen allerdings in begründeten Fällen abgewichen werden kann beziehungsweise muss. Sie indizieren nicht ohne Weiteres das Vorliegen eines Behandlungsfehlers, insbesondere nicht eines groben Behandlungsfehlers.

Am Beispiel der S3-Leitlinie »Vaginale Geburt am Termin« wird die rechtliche Bedeutung von Leitlinien in der Hebammenarbeit dargestellt – auch in Abgrenzung zu Richtlinien. Denn Leitlinien sind Handlungsempfehlungen und ersetzen nicht die individuelle Prüfung im Einzelfall.

Definition
Ein grober Behandlungsfehler liegt vor, wenn die Hebamme gegen bewährte Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstößt und somit einen Fehler begangen hat, der aus medizinischer Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er den Behandlern schlichtweg nicht unterlaufen darf (Knehe, 2016, 228).

Ein grober Behandlungsfehler führt zu einer Beweislastumkehr (§ 630h Abs. 5 BGB), das heißt, nicht mehr die Patientin muss die Ursächlichkeit des Fehlers beweisen, sondern die Hebamme muss den Entlastungsnachweis führen.

Die Rechtsprechung

Leitlinien ersetzen kein Gutachten
Die zentrale Entscheidung zu Leitlinien hat der Bundesgerichtshof (BGH) in seinem Urteil vom 15. April 2014 (Az.: VI ZR 382/12) getroffen: »Handlungsanweisungen in Leitlinien ärztlicher Fachgremien oder Verbände dürfen nicht unbesehen mit dem medizinischen Standard gleichgesetzt werden. Dies gilt im besonderen Maße für Leitlinien, die erst nach der zu beurteilenden medizinischen Behandlung veröffentlich worden sind. Leitlinien ersetzen kein Sachverständigengutachten. Zwar können sie im Einzelfall den medizinischen Standard für den Zeitpunkt ihres Erlasses zutreffend beschreiben; sie können aber auch Standards ärztlicher Behandlung fortentwickeln oder ihrerseits veralten.«

In dieser Entscheidung stellt der BGH klar, dass Leitlinien keine Sachverhalte in der Vergangenheit regeln können. Außerdem wird klargestellt, dass sich die Frage, welches Verhalten von gewissenhaften und aufmerksamen Ärzt:innen in der konkreten Behandlungssituation im Zeitpunkt der Behandlung erwartet werden kann, aus der berufsfachlichen Sicht ihres Fachgebiets und nicht derjenigen anderer Fachbereiche ergibt. Das gilt für Hebammen gleichermaßen.

Leitlinien sind keine Rechtsnormen
Bereits mit Beschluss vom 8. Januar 2008 (Az.: VI ZR 161/07) hat der BGH entschieden, dass ärztliche Leitlinien keine Rechtsnormqualität besitzen, anders als die Mutterschafts-Richtlinien, welche sich jedoch nicht mit dem Geburtsvorgang selbst befassen. Die Nichteinhaltung von Leitlinien führt daher nicht »per se« zu einer Beweislastumkehr, sondern bedarf regelmäßig der zusätzlichen Feststellung eines groben Behandlungsfehlers (siehe Kasten).

Dies deckt sich mit der Rechtsprechung zum groben Behandlungsfehler, der zunächst tatsächlich festgestellt werden muss, bevor sich daraus eine Beweislastumkehr ergeben kann. Der BGH hat mit dieser Entscheidung klargestellt, dass alleine die Nichtberücksichtigung von Leitlinien nicht automatisch zu einem groben Behandlungsfehler führt.

Auch aus dem Jahr 2008 stammt der Beschluss des BGH vom 28. März 2008 (Az.: VI ZR 57/07), in dem ausgeführt wird, dass Leitlinien von ärztlichen Fachgremien oder Verbänden (im Gegensatz zu den Richtlinien der Bundesausschüsse der Ärzt:innen und Krankenkassen) nicht unbesehen mit dem medizinischen Standard gleichgesetzt werden können, der zur Beurteilung eines Behandlungsfehlers geboten ist. Sie können kein Sachverständigengutachten ersetzen und nicht unbesehen als Maßstab für den Standard übernommen werden. Letztlich obliegt die Feststellung des Standards dem sachverständig beratenen Richter oder der Richterin.

Die objektiv erforderliche Sorgfalt
Mit Urteil vom 24. Februar 2015 (Az.: VI ZR 106/13) hat der BGH entschieden, dass in den Fällen, in denen eine bestimmte Untersuchung in den Leitlinien und Fachinformationen nur empfohlen und lediglich in der Literatur für indiziert gehalten wird, nicht notwendigerweise zu einem Haftungsausschluss führt. Im Arzthaftungsrecht gelte der objektivierte zivilrechtliche Fahrlässigkeitsbegriff des § 276 Abs. 2 BGB, wonach die Gesundheitsberufe für die Einhaltung der objektiv erforderlichen Sorgfalt einzustehen hätten.

Die Gesundheitsberufe müssten die Voraussetzungen einer dem medizinischen Standard entsprechenden Behandlung kennen und beachten. Hierbei kommt es nicht allein auf die Einhaltung von Leitlinien an, sondern auch auf die Ausführungen von Sachverständigen. Leitlinien alleine sind nicht geeignet, die objektiv erforderliche Sorgfalt zu ermitteln. Ergänzende Sachverständigengutachten, die sich mit dem konkreten Einzelfall auseinandersetzen, sind für die gerichtliche Auseinandersetzung erforderlich – auch dann, wenn der Leitlinie die bestmögliche wissenschaftliche Evidenz zugrunde liegt.

Medizinische Grundregeln
Mit Beschluss vom 7. November 2017 (Az.: VI ZR 173/17) hat der BGH entschieden, dass nicht nur die Erkenntnisse, die in Leitlinien, Richtlinien oder anderweitige Handlungsanweisungen eingegangen sind, gesicherte medizinische Erkenntnisse darstellen, deren Missachtung einen Behandlungsfehler als grob erscheinen lassen. Vielmehr müssen hierbei auch die elementaren medizinischen Grundregeln berücksichtigt werden, die im jeweiligen Fachgebiet vorausgesetzt werden. Das gilt zum Beispiel, wenn eine Hebamme die Hinzuziehung eines Arztes oder einer Ärztin unterlässt, obwohl sie einen pathologischen Verlauf der Behandlung erkennt.

Fachliche Standards
Mit Urteil vom 9. Dezember 2021 (Az.: I ZR 146/20) hat der BGH entschieden, dass bei der Bestimmung der anerkannten fachlichen Standards sowohl die Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften als auch die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses gemäß §§ 92, 136 SGB IV Berücksichtigung finden können. Sie sind also nur ein Element in der Gesamtbetrachtung.

Haftung der Hebamme
Mit Beschluss vom 2. November 2023 (Az.: 6 StR 128/23) hat der BGH in einem Revisionsverfahren gegen ein Urteil des Landgerichts Verden entschieden, dass einer Hebamme auch im Strafverfahren vorgeworfen werden kann, »sich mit ihrem Verhalten konträr zu allen ärztlichen Leitlinien und solchen des Hebammenberufs verhalten« zu haben und dadurch für die Risiken für das Leben des Kindes haften zu müssen.

Der wissenschaftliche Standard
Auch das Bundesverwaltungsgericht war nicht untätig: Mit Beschluss vom 16. April 2020 (Az.: 2 B 5.19) wurde entschieden, dass »Leitlinien von ärztlichen Fachgremien oder Verbänden im Gegensatz zu den Richtlinien der Bundesausschüsse der Ärzt:innen und Krankenkassen nicht unbesehen mit dem für die Beurteilung des Gesundheitszustands gebotenen wissenschaftlichen Standard gleichgesetzt werden können. Sie können auch nicht ohne Weiteres als Maßstab für diesen Standard übernommen werden. Die Feststellung des Standards obliegt der Würdigung des sachverständig beratenden Tatsachengerichts« (Ziffer 3 der Leitsätze bzw. Rn. 29 des Urteils; so auch Beschluss des BGH vom 28.3.2008, Az. VI ZR 57/07).

Das Hebammengesetz
Aus dem Studienziel des Hebammengesetzes ergibt sich, dass das Hebammenstudium insbesondere dazu befähigen soll, an der Entwicklung von Qualitätsmanagementkonzepten, Risikomanagementkonzepten, Leitlinien und Expertenstandards mitzuwirken (§ 9 Abs. 3 Nr. 4 HebG). Hebammen sind daher von Gesetzes wegen dazu berufen, sich an der Entwicklung von Leitlinien zu beteiligen. Sie waren daher durch die Deutsche Gesellschaft für Hebammenwissenschaft (DGHWi) zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) maßgeblich an der S3-Leitlinie »Vaginale Geburt am Termin« beteiligt.

Nach den Landesberufsordnungen sind Hebammen verpflichtet, sich regelmäßig fortzubilden. Hierzu zählt auch, sich über den jeweiligen Stand von Leitlinien und Richtlinien zu informieren und deren Ergebnisse in die Ausübung von Heilkunde einfließen zu lassen.

Die S3-Leitlinie »Vaginale Geburt am Termin«

Eine auch für Hebammen bedeutsame Leitlinie stellt die S3-Leitlinie »Vaginale Geburt am Termin« der DGGG und der DGHWi dar. An dieser Leitlinie vom 22. Dezember 2020 haben unter anderem der Deutsche Hebammenverband, das Österreichische Hebammengremium und die Schweizerische Hebammenverband mitgewirkt. Es handelt sich daher um eine unter wesentlicher Mitwirkung der Hebammen entstanden Leitlinie, die von Prof. Dr. Rainhild Schäfers als Leitlinienkoordinatorin auf Seiten der Hebammen betreut wurde. In der gemeinsamen Pressemitteilung vom Januar 2021 schreibt sie: »Erstmalig wurde hier eine Leitlinie auf der höchsten Entwicklungsstufe von Hebammen und Ärzt:innen initiiert und gemeinsam mit der Bundeselterninitiative Mother Hood entwickelt. Ein wichtiger Schritt, von dem hoffentlich viele Mütter und Neugeborene profitieren werden.«

Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BGH wird in der Leitlinie ausdrücklich darauf hingewiesen, dass »Medizin einem fortwährenden Entwicklungsprozess unterliegt, so dass alle Angaben, insbesondere zu diagnostischen und therapeutischen Verfahren, immer nur dem Wissenstand zur Zeit der Drucklegung der Leitlinie entsprechen können«.

Die gemeinsame Pressemitteilung ergänzt konsequenterweise: »Leitlinien sind für Ärzt:innen rechtlich nicht bindend und haben daher weder haftungsbegründende noch haftungsbefreiende Wirkung.« Das gilt für Hebammen gleichermaßen.

In der Leitlinie selbst wird darauf hingewiesen, dass bei den Empfehlungen der Therapiemaßnahmen größtmögliche Sorgfalt angewandt worden sei. Gleichzeitig wurde darauf hingewiesen, dass zur Kontrolle und im Zweifelsfall Spezialist:innen zu konsultieren seien. Die Nutzerinnen und Nutzer blieben für jede diagnostische und therapeutische Applikation, Medikation und Dosierung selbst verantwortlich – das gilt für Hebammen und Ärzt:innen genauso wie für die gebärenden Frauen.

Insbesondere durch diesen Hinweis ist klargestellt, dass es sich um eine Leitlinie handelt, die für jeden Einzelfall gesondert geprüft werden muss und dass die konkrete Anwendung alleine im Verantwortungsbereich der Nutzer:innen liegt. Verallgemeinerungen sind nicht ratsam. Sollten daher einzelne Maßnahmen in Leitlinien kritisiert werden, so ist darauf hinzuweisen, dass die notwendigen Einzelfallprüfungen den Leitlinien vorgehen.

Arbeits-, Berufs- und Strafrecht
Leitlinien können auch auf das Arbeitsrecht und das Berufsrecht der Hebammen Einfluss nehmen sowie strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen.

Arbeitsrecht
Bei den arbeitsrechtlichen Gesetzen handelt es sich um Arbeitnehmerschutzgesetze. Sie geben den arbeitsrechtlichen Mindeststandard vor, der nicht zu Lasten der Arbeitnehmer:innen unterschritten werden darf. Wenn zum Beispiel in § 3 des Bundesurlaubsgesetzes der jährliche Mindesturlaub mit 24 Werktagen festgeschrieben ist, darf diese Zahl der Urlaubstage nicht zum Nachteil der Arbeitnehmer:innen unterschritten werden.

Gleiches gilt zum Beispiel für die Regelungen des Arbeitszeitgesetzes. Wenn im dortigen § 3 festgelegt ist, dass die regelmäßige werktägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer:innen 8 Stunden nicht überschreiten darf, so können Leitlinien hieran nichts ändern. Selbst wenn in Leitlinien eine kontinuierliche Betreuung von Patient:innen über 8 Stunden hinaus als wünschenswert angesehen wird, können hierdurch Arbeitnehmerschutzgesetze nicht ausgehebelt werden. Arbeitszeiten und Pausen sind einzuhalten.

Das gilt jedoch nur für abhängig Beschäftigte, nicht für freiberufliche Hebammen bei Hausgeburten oder Geburten in hebammengeleiteten Einrichtungen oder für selbstständige Beleghebammen.

Berufsrecht
Die genannten Grundsätze spielen auch für die Frage der Zuverlässigkeit von Hebammen bei der Ausübung ihres Berufes eine Rolle. Nach § 7 HebG kann die Berufserlaubnis widerrufen werden, wenn sich eine Hebamme eines Verhaltens schuldig macht, aus dem sich ihre Unwürdigkeit oder Unzuverlässigkeit ergibt, den Hebammenberuf auszuüben. Die Unzuverlässigkeit einer Hebamme aufgrund besonderer Umstände kann auch vorliegen, wenn sie sich an Leitlinien hält beziehungsweise die Unzuverlässigkeit muss nicht notwendigerweise gegeben sein, nur weil sich die Hebamme nicht an Leitlinien hält. Unter Berücksichtigung der genannten Grundsätze ist die Frage der Zuverlässigkeit nicht alleine anhand von Leitlinien zu beurteilen. Auch dazu müssen sämtliche Rechtsquellen gesichtet und gegebenenfalls Sachverständigengutachten eingeholt werden.

Strafrecht
Neben einer zivilrechtlichen Haftung aufgrund einer fehlerhaften Anwendung von Leitlinien kommt stets auch eine strafrechtliche Haftung in Betracht. Ist die Behandlung durch die Einwilligung der Patientin nicht (mehr) gedeckt, können Behandlungsfehler vorsätzliche oder fahrlässige Körperverletzungen darstellen (§§ 223ff. StGB), die durch die Staatsanwaltschaften und die Gerichte auch unabhängig von einer möglichen Schadensersatz- und Schmerzensgeldzahlung verfolgt werden können.

Ziele und Zielgruppen

Das Ziel der Leitlinie war die »Zusammenfassung des aktuellen Wissens über die vaginale Geburt am Termin mit dem Fokus auf Definition der physiologischen Geburtsphasen mit Abgrenzung pathologischer Entwicklungen und Zustände sowie einer Einschätzung einer Notwendigkeit oder auch Vermeidung einer Intervention«. Die Leitlinie soll danach »eine angemessene Orientierung für das berufliche Handeln bieten und den Frauen eine der Situation angepasste, selbstbestimmte Geburt ermöglichen«.

Weiter heißt es: »Zielgruppe sind zum einen Schwangere/Gebärende und zum anderen deren Kinder, die in SSW 37+0–41+6 als Einling aus Schädellage geboren werden. Fokussiert wird im Wesentlichen der Geburtsprozess, der alle Phasen der Geburt einschließlich der Nachgeburtsphase inkludiert. Zudem soll die Leitlinie den beteiligten Professionen evidenzbasierte Handlungsempfehlungen an die Hand geben, um die gemeinsame Betreuung von Frauen und ihren Kindern in der Lebensphase von Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und früher Elternschaft zu verbessern und die Zusammenarbeit der Professionen zu fördern. Zu diesen Professionen gehören vor allem Hebammen, Gynäkolog:innen/Geburtshelfer:innen, Kinder- und Jugendärzt:innen/Neonatolog:innen und Anästhesist:innen.« (Ziffer 2.1. der Leitlinie)

Diese Vorschläge sind für Hebammen stets vor dem Hintergrund der Regelungen des Hebammengesetzes und der jeweiligen Landesberufsordnung zu sehen.

Hierbei ist in § 1 HebG bereits klargestellt, dass die Hebammentätigkeit insbesondere die selbstständige und umfassende Beratung, Betreuung und Beobachtung von Frauen während der Schwangerschaft, bei der Geburt, während des Wochenbetts und während der Stillzeit sowie die (von Anfang bis zum Ende) selbstständige Leitung von physiologischen Geburten umfasst. Ausführlicher wird dies im Studienziel des § 9 HebG und der Vorschrift der jeweiligen Landesberufsordnung über Aufgaben und Pflichten der Hebammen ausgeführt (dort in § 2).

Die Hebammen selbst müssen »trotz« Leitlinien stets prüfen, ob es sich im konkreten Fall um einen regelrechten Geburtsverlauf oder eine pathologische Geburt handelt. Die Leitlinie nimmt den Hebammen diese Prüfung im konkreten Einzelfall nicht ab.

Empfehlungen zur CTG- Überwachung

Punkt 3 der S3-Leitlinie enthält Empfehlungen zur Kommunikation und Informationen zur Geburtsvorbereitung. Punkt 4 befasst sich mit der Eins-zu-eins-Betreuung durch Hebammen. Punkt 5 enthält Empfehlungen zum Monitoring, insbesondere der Auskultation der fetalen Herztöne. Nach der dortigen Empfehlung 5.5 soll die Auskultation der fetalen Herzfrequenz bei Niedrig-Risiko-Schwangeren in der aktiven Eröffnungsphase angeboten werden. Eine Pflicht hierfür besteht nicht. Es soll ein Pinard-Stethoskop oder eine Dopplersonografie verwendet werden.

Dies ist verschiedentlich kritisiert worden, da eine CTG-Überwachung zum medizinischen Standard zähle.

Hierbei ist festzustellen, dass in der Vorbemerkung zu Empfehlung Punkt 5.1 darauf hingewiesen wird, dass im Falle einer Auskultation gewährleistet sein muss, dass Best-Practice-Empfehlungen umgesetzt werden können. Lediglich bei Niedrig-Risiko-Geburten biete nach Auffassung der Fachleute die Auskultation mehr Vorteile als eine CTG-Überwachung. Hierbei müssten jedoch außerdem eine Eins-zu-eins-Betreuung ab der aktiven Eröffnungsphase, entsprechende Kompetenzen des geburtshilflichen Personals und eine sorgfältige, lückenlose Dokumentation der Herztöne sowie weiterer relevanter geburtshilflicher Geburtsbefunde sichergestellt sein. Wenn diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind, sollte eine CTG-Überwachung erfolgen (siehe auch DHZ 3/2021, 52–55 und DHZ 5/2023, 60–63).

Risiken einschätzen

Niedrig-Risiko-Geburten wurden durch die Rechtsprechung stets anders beurteilt als Hoch-Risiko-Geburten. Auch ohne die Leitlinie müssen Hebammen prüfen, ob es sich insoweit um eine regelrechte oder bereits pathologische Geburt handelt. Ob ärztliche Hilfe hinzuzuziehen ist, ist stets eine Frage des Einzelfalls, die die Hebamme sorgfältig prüfen muss (so z.B. auch § 3 der Hebammenberufsordnung Baden-Württemberg). Hieran hat die Leitlinie nichts geändert.

In den Fällen von Behandlungsfehlern und Pflichtverletzungen aus Behandlungsverträgen werden die Gerichte nach wie vor prüfen, ob Hebammen den konkreten Einzelfall richtig eingeschätzt haben. In Konfliktfällen wird es nicht ausreichend sein, sich auf Leitlinien zu berufen, wenn Sachverständige zu dem Ergebnis kommen, die entsprechenden Voraussetzungen hätten nicht vorgelegen.

Insofern bietet auch diese S3-Leitlinie nur eine Empfehlung, die im konkreten Einzelfall aufgrund der jeweiligen Besonderheiten unter Umständen nicht angewendet werden kann, so dass andere Mittel der Behandlung gewählt werden müssen.

Die Empfehlung 5.9 (zu 5.2.1) lautet daher nur bei Niedrig-Risiko-Schwangeren, dass die CTG-Aufzeichnung nicht bei Verdacht auf Geburtsbeginn durchgeführt werden sollte. Nach Empfehlung 5.11 (zu 5.2.1) soll eine CTG-Aufzeichnung durchgeführt werden, wenn bei der Auskultation der fetalen Herzfrequenz Auffälligkeiten festgestellt werden. Insofern schlägt die Leitlinie nicht vor, auf CTG-Überwachung grundsätzlich zu verzichten, sonders diese bei Niedrig-Risiko-Schwangeren nur bei Auffälligkeiten einzusetzen. Wann auch bei Niedrig-Risiko-Patientinnen eine CTG-Ableitung stets durchgeführt werden soll, lässt sich der Empfehlung 5.12 (zu 5.2.2) entnehmen.

Dass auch die CTG-Verwendung durchaus Haftungsrisiken bergen kann, hat die Rechtsprechung in zahlreichen Urteilen entschieden. Abschließend lässt sich auch an diesem Beispiel feststellen, dass Leitlinien eben »nur« Leitlinien sind, die die Prüfung der Umstände des konkreten Einzelfalls nicht ersetzen können.

Zitiervorlage
Diefenbacher, M. (2024). Leitlinien, Richtlinien, Empfehlungen: Rechtlich verbindlich? Deutsche Hebammen Zeitschrift, 76 (10), 58–63.
Literatur
AWMF. (2021). S3 Leitlinie Die vaginale Geburt am Termin. AWMF 015-083. Stand 22.12.2020. https://register.awmf.org/assets/guidelines/015-083l_S3_Vaginale-Geburt-am-Termin_2021-03.pdf

Knehe, H. M. (2016). Die Haftung der Hebamme. Springer-Verlag.

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