Dr. Erich Saling mit Neugeborenen in der geburtshilflichen Abteilung der Frauenklinik Neukölln im Jahr 1983 Aus: Der erste Schrei, oder: Wie man in Neukölln zur Welt kommt. Ausstellungskatalog Heimatmuseum Neukölln, Berlin 2000, Foto : © Metter
Die erste Fetalblutanalyse wurde am 21. Juni 1961 in der Städtischen Frauenklinik Berlin-Neukölln durchgeführt. Der Eingriff wurde als »Kopernikanische Wende« in der Geburtshilfe betitelt (Stupin 2018). Denn durch sie sei nun das Kind – anstatt der Mutter – in den Mittelpunkt geburtshilflicher Bemühungen gestellt worden. Der Begriff, mit dem eine fundamentale Wende in der Welt der Geburtshilfe beschrieben wurde, vermittelt die Tragweite: Als Kopernikanische Wende wird der bahnbrechende Wandel unseres Weltbildes beschrieben, nachdem der Astronom Nikolaus Kopernikus die Sonne statt der Erde als Mittelpunkt des Planetensystems erkannt hatte.
Der Geburtshelfer, der diese erste Fetalblutgasanalyse durchführte, war Prof. Dr. med. Dr. h. c. mult. Erich Saling, geboren in einem einstigen Bezirk Polens, am 21. Juli 1925. Der Fetus wurde nun wie ein Patient behandelt, wenn es nötig war. Dabei verlor der »Father of Perinatal Medicine«, wie er international genannt wurde, nicht die Sicherheit der Mutter aus den Augen: Eine Gebärende für ihr Kind zu opfern, gehörte in ein längst überwundenes Zeitalter. Und doch empfand die heute in Berlin freiberuflich tätige Hebamme Jana Friedrich, die dort in den 1990er Jahren ihre Ausbildung machte, aus feministischer Perspektive gewisse Bedenken: »Dadurch, dass das Kind stärker in den Fokus rückt, wurde die Frau weniger gesehen.« (Kotsev 2019)
Viele Jahre lang trieb Saling die Geburtsmedizin und Neonatologie in Neukölln voran. 1963 für Gynäkologie und Geburtshilfe habilitiert, war er ab 1968 außerplanmäßiger Professor, ab 1976 Chefarzt der Neuköllner Geburtshilfe, bis 1991. Das Haus am Mariendorfer Weg gehörte zu den größten Geburtskliniken in Deutschland und war zeitweise die geburtenstärkste. Ab 1987, als Saling C4-Universitäts-Professor der Freien Universität Berlin wurde, erblickten in seiner Klinik über 3.000 Kinder pro Jahr das Licht der Welt. Geboren wurden sie in einem der sieben abgeteilten Säle, die im Kreißsaal halboffen um eine runde Kanzel herum angeordnet waren – erst der Nachfolger Salings ließ dort statt der Falttüren richtige Türen für mehr Intimität anbringen. Frauen mit problematischem Schwangerschaftsverlauf kamen von überall her zu ihm. Viele mussten erstmal in die Knie gehen: Saling hatte 1979 den Kniebeugenbelastungstest erfunden, ein einfach anwendbarer Test unter Kardiotokografie, um drohenden fetalen Stress zu erkennen.
Am 6. November 2021 verstarb der international bekannte Pionier der Perinatalen Medizin, knapp drei Wochen vor dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin (DGPM) (siehe Seite 68). Saling hatte den Begriff der Perinatalen Medizin 1967 überhaupt erst eingeführt und auch die Gründung der Gesellschaft veranlasst.
Er hatte einen genauen Überblick über alle wesentlichen Entwicklungen auf dem Gebiet der fetalen Diagnostik und angrenzender Disziplinen, auch international. 1968 gründete er die European Association of Perinatal Medicine (EAPM) mit und wurde deren erster Präsident. Bis 1990 war er verantwortlich für die Organisation von 14 DGPM-Kongressen in Berlin, 1981 hatte er ihnen noch einen internationalen Teil angefügt.
2019 wurde ihm zu Ehren im DGPM-Kongress die sogenannte Erich-Saling-Lecture eingeführt, deren Vortragende er selbst auswählen sollte. Seine Wahl fiel im ersten Jahr auf Prof. Dr. Wolfgang Holzgreve, der über die »Noninvasive Pränatale Testung« sprach. Damals kamen die einführenden Worte noch von Saling selbst – in bewundernswerter Vitalität. Bis ins hohe Alter bewahrte er sich seine wache Neugierde und Freude daran, Weiterentwicklungen in der Medizin und auf anderen Gebieten zu verfolgen.
Für den Kongress 2021 hatte er Prof. Dr. Ulrich Gembruch eingeladen, den wohl profiliertesten deutschen Ultraschaller auf dem Gebiet des fetalen Herzens, der nun in den Ruhestand tritt. Zuhören konnte er seinem beeindruckenden Vortrag nicht mehr, aber das meiste davon wäre nicht neu für ihn gewesen: Gembruch sprach über die Entwicklung des Ultraschalls seit 1958 bis zur Verfeinerung der Herzdiagnostik, die alle vier Herzkammern und den Ausflusstrakt einschließt.
Salings Erfindergeist sprudelte über viele Jahre unermüdlich, um Leben zu retten. So erzählt Dr. Jörg Giffei, der viele Jahre lang sein Oberarzt war: »Das erste, was Saling für das Kind im Bereich der Geburtshilfe gemacht hat, war folgendes: In seiner Pflichtassistentenzeit kam er von einer internistischen Intensivstation in den Kreißsaal. Dort wurde ein Neugeborenes, das nicht atmete, an den Füßen hochgehalten und ihm wurde auf den Hintern geschlagen zur ›Reanimation‹. Da wurde ihm bewusst, dass hier ein Fach nicht mit dem medizinischen Fortschritt mitgehalten hatte. Und schon baute er ein Beatmungsgerät für Neugeborene, das sogenannte Salingsche Auferstehungsköfferchen.«
1960 nutzte Saling erstmals Blutgasanalysen, um die Wirksamkeit von Wiederbelebungsmaßnahmen beim Neugeborenen zu ermitteln. 1961 entwickelte er eine Mikroschnellmethode zur Messung der Blut-O2-Sättigung sowie die Fetalblutanalyse, um einen intrauterinen Sauerstoffmangel zu erkennen.
1962 führte der Geburtshelfer die Methode der Fruchtwasserspiegelung (Amnioskopie) ein, um dessen Zustand beurteilen zu können. War es zum Beispiel klar mit Vernixflocken, trübe oder gar grünlich und wies damit auf erheblichen Stress des Ungeborenen hin?
1965 wurde Salings klinisch-biochemische Zustandsdiagnostik beim Neugeborenen sofort nach der Geburt etabliert.
Einer seiner Schüler und nachfolgenden Präsidenten der DGPM, Prof. Dr. Stephan Schmidt, hielt am 3. Dezember vergangenen Jahres eine sehr wertschätzende Ansprache während der Beerdigung von Erich Saling. Dieser habe »das wissenschaftliche Instrumentarium wie ein hochbegabtes Wunderkind eingesetzt«. Er sei kreativ und interdisziplinär kooperativ gewesen, kannte sich auch in Physik und Chemie aus. So zeigt das Programm des nächsten Kongresses entsprechend breit gefächert verschiedene Disziplinen. > www.dgpgm.de
Erich Saling probiert die »Unterdruckschale« am eigenen Leib aus. Sie sollte bei einer Schwangeren für eine gute Durchblutung des Feten sorgen. Die Schale kam nie zur Anwendung. Foto: © privat
In den 1970er Jahren entwickelte er eine Technik, um das Ungeborene von außen aus der Steißlage zu wenden. Er nutzte dabei als erster die Tokolyse, die noch eine junge Errungenschaft war, und verschob den damals empfohlenen Zeitpunkt der Wendung in die 37. Schwangerschaftswoche. Zwei Hebammenschülerinnen an seiner Klinik erklärte er 2005 in einem Interview, dass er zu dem Verfahren mit dem Uterus-erschlaffenden Mittel gekommen sei, weil er nicht nur systematisch vorgehe, sondern auch intuitiv. »Das heißt, wenn ein Thema mich bewegt, beschäftigt es mich so lange, bis mir dann häufig eine Lösung einfällt.« (Koch & Stegmair 2007)
Eine dieser beiden Schülerinnen, Rania Stegmaier-Pints, die heute in Berlin als freiberufliche Hebamme tätig ist, erinnert sich an den ideenreichen Tüftler: »Viel haben wir Schülerinnen damals nicht von Saling mitbekommen. Man sah ihn über das Klinikgelände laufen, er hatte da noch ein Büro. Einmal kam er kurz in den Unterricht, ein älterer Herr, man wusste er war eine Koryphäe, sein Interesse war aber wohl nicht die physiologische Geburt.« In dem Jahr, als sie das Interview führte, machte Saling dort seine letzten Runden, denn die Klinik wurde wegen Baufälligkeit geschlossen und zog um.
Stegmaier-Pints erfuhr im Interview auch eine ulkige Geschichte: Saling hatte einmal seinem Oberarzt, Dr. Jörg Giffei, eine neuartige Wendung des Feten vorgeschlagen: Er solle ein Loch in eine Liege sägen, die Schwangere bäuchlings darauf legen und von unten dann das Kind drehen. Giffei war später selbst Chefarzt, das ist inzwischen auch schon 14 Jahre her. Nur gut erinnert er sich aber an die Geschichte. Saling hatte es tatsächlich ganz ernst gemeint mit dem Vorschlag, er hatte schon so eine Liege vorbereitet. Im Grunde in der Theorie nicht so verkehrt, meint Giffei heute. Aber unklar sei gewesen, ob man sich dann wie in einer Autowerkstatt unter die Frau legen oder die Liege hätte hochstemmen sollen. Giffei fertigte eine komische Strichmännchenzeichnung an, die Idee wurde verworfen.
Saling sprudelte nur so vor Ideen und ihm wurden auch erstaunliche Vorschläge unterbreitet, so Giffei. Einmal bekam sein Chef eine Art Plastikschale zugeschickt, die sich die Schwangeren um den Bauch schnallen sollten, damit durch einen darin erzeugten Unterdruck die Durchblutung des Feten verbessert werden sollte. Er probierte es auch an sich selbst aus. Umgesetzt wurde es nie.
Saling konnte nie verstehen, dass sich Giffei nicht, wie er, als Pensionär weiter mit der Geburtshilfe befasste. Der heute 80-jährige Giffei konterte mal, dass er dies als passionierter Lilienzüchter auf eine andere Art tue. 2015 gab er einer neuen Lilienart den Namen seines einstigen Lehrers. Sie ist offiziell in London registriert: Weiß, in der Mitte orange zeigt sie sich. Eine schöne Würdigung an Saling, der 96 Jahre alt geworden ist. Er sei ein gerechter Chef gewesen, ja, manchmal sei er auch sehr streng gewesen und habe die Leute brüskiert.
Für seine Familie blieb Saling mitunter wenig Zeit: zwei Söhne, von denen einer auch Gynäkologe wurde, sechs Enkel und acht Urenkel. Salings Ehefrau, die einstige Militärärztin Dr. Hella Saling, starb bereits 15 Jahre vor ihm. Für Saling gab es aber noch eine andere Art Großfamilie: 1986 wurde er als Begründer der Perinatologie in den »Stammbaum der Medizin« aufgenommen.
Was den Chefarzt aus Neukölln über Jahrzehnte besonders umtrieb, war die Vermeidung der Frühgeburt – und zwar durch Bekämpfung von Infektionen, die seiner Meinung nach in 40 % der Fälle die Ursache seien. Er gründete dafür 1993 das Erich-Saling-Institut für Perinatale Medizin in Berlin (siehe Link), in der Stadt, wo er seit seinem Medizinstudium gelebt hatte. Saling sah großes Potenzial darin, frühzeitig eine bakterielle Vaginose gerade bei symptomlosen Frauen zu entdecken. Sie würde das Risiko für eine Frühgeburt verdoppeln, weil sich dabei Infektionserreger ausbreiten könnten und dann zu vorzeitigen Wehen führten. Darum setze er ab 1993 große Anstrengungen in ein von ihm entwickeltes Screening: Frauen sollten ab Beginn der Schwangerschaft mit einem besonderen Testhandhandschuh den vaginalen pH-Wert zweimal die Woche überprüfen. Bei einer Vaginose sollte dann rechtzeitig ein Antibiotikum gegeben werden mit anschließender Gabe von Laktobazillus-Stämmen.
Seine Sicht war für viele Kolleg:innen zu einseitig. Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) nahm sein Screening-Programm nicht auf – weder 2019 noch 2020 in ihrer S2k-Leitlinie zu Prävention und Therapie der Frühgeburt. Saling sah, dass sich seine Methode nicht etablierte und er gegen Windmühlen ankämpfte. Enttäuscht betonte er Ende 2020 auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) in München nochmal deutlich die Bedeutung seines Screenings. Er hatte enormes Durchhaltevermögen für sein Low-Cost-Programm.
1981 hatte Saling für Frauen mit wiederholten späten Fehlgeburten und Frühgeburten den operativen Frühen Totalen Muttermund-Verschluss (FTMV) entwickelt. Zunächst wird dafür das Epithel des Muttermundes entfernt, dann komplett vernäht. Dies würde eine totale Barriere für Keime darstellen. Eine Cerclage würde den Zervikalkanal nur verengen. Sie könne zwar den Erhalt des Zervixschleimpfropfes unterstützen, der eine wichtige immunologische Funktion habe, aber es lasse sich nicht vorhersagen, in welchen Fällen dies gelinge. Auf der Internetseite seines Instituts werden immerhin 70 Kliniken aufgelistet, die den FTMV anwenden (siehe Link). Auch Giffei wandte die Methode an, sie war Thema seiner Doktorarbeit, er wisse aber nicht, wer sie noch anwendet.
Ende November auf dem Kongress der DGPM knüpften gleich mehrere Vorträge an Salings Erkenntnisse rund um die Mikrobiom-Analyse des Scheidenmilieus und die Bemühungen an, das Risiko für eine Frühgeburt zu senken. Die Ergebnisse der neuen Forschungsprojekte hätten ihn bestimmt sehr interessiert. Und es hätte ihn gefreut, dass einige seiner Grundgedanken weitergetragen werden.
Koch H, Stegmaier R: Die äußere Wendung bei Beckenendlage – ein Interview mit Prof. Erich Saling. Die Hebamme 2007. 20: 27–28
Kotsev, M: Nachbarschaft. Newsletter Neukölln: https://leute.tagesspiegel.de/neukoelln/unter-nachbarn/2019/10/23/100312/
Saling E, Dräger M, Stupin JH (Hrsg.): The Beginnings of Perinatal Medicine. De Gruyter. Berlin, München, Boston 2014
Saling E: Vortrag von Erich Saling auf dem 63. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe am 9. 10. 2020: www.saling-institut.de/german/04infoph/06videovortrag.html
Stupin, JH: Erich Saling – Eine lebende Legende. Der Gynäkologe 2018. 51, 1064. https://link.springer.com/article/10.1007/s00129-018-4364-8
Vetter K: Es geht auch ohne. Deutsche Hebammen Zeitschrift 2019. www.dhz-online.de/archiv/archiv-inhalt-heft/archiv-detail-leseprobe/artikel/es-geht-auch-ohne/
Vetter K (2018) Erich Saling – Vater der Perinatalmedizin. Gynäkologe 51:734–736. https://doi.org/10. 1007/s00129-018-4297-2
Zöllkau J, Pastuschek J, Borges L, Heimann Y, Makarewicz O, Bergner M, Haase R, Stubert J, Olbertz DM, Pieper P, Dawczynski K, Schleußner E.: PEONS: Prädiktion der Early-onset neonatal Sepsis (EONS) nach vorzeitigem Blasensprung (PPROM) mit vaginaler Mikrobiom-Analyse . Geburtshilfe Frauenheilkd 2020. 80(10): e145. DOI: 10.1055/s-0040–1717995. www.thieme-connect.com/products/ejournals/abstract/10.1055/s-0040-1717995