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Die Entstehung von Zwillingen kann eineiig oder zweieiig geschehen. Je nachdem entwickeln sich die Kinder aus einem einzigen Ei, das sich nach der Befruchtung in zwei identische Embryonen teilt, oder es finden zwei Eisprünge in einem Zyklus statt und beide Eier werden von verschiedenen Spermien befruchtet. Doch das ist nicht alles! 

Seit längerer Zeit ist bekannt, dass die Zahl der Mehrlingsschwangerschaften vor allem in den Industrienationen zunimmt. Hierfür werden ein höheres mütterliches Alter sowie der Einsatz von Methoden der assistierten Reproduktion verantwortlich gemacht (Grubinger und Scheier, 2011). Die in erster Linie auftretenden Zwillinge mögen, besonders für Paare mit lange unerfülltem Kinderwunsch, vor allem »doppeltes Glück« bedeuten. Für den Verlauf von Schwangerschaft und Geburt stellen sich jedoch spezielle Herausforderungen (Maul, 2019). In der Reproduktionsmedizin besteht daher die Tendenz, durch Transfer von möglichst nur einem Embryo mit hohem Entwicklungspotenzial die Wahrscheinlichkeit von Mehrlingsschwangerschaften zu minimieren. Die Logik dahinter folgt der Rechnung, die schon der Schriftsteller und schwäbische Mundartdichter Thaddäus Troll (1974) in seinem Aufklärungsbuch für Kinder erläutert: »Ein Samen und ein Ei machen ein Baby. Zwei Samen und zwei Eier machen zwei Babys. Und so weiter.« In Kurzfassung ergäben sich die Regeln 1+ 1 = 1 für Einlinge und 2 + 2 = 2 für Zwillinge, wodurch aber nur die sogenannten »dizygoten« Zwillinge (englisch »fraternal twins«) erfasst werden. Sie ähneln sich genetisch nicht mehr als Geschwister, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten geboren werden.

Diese Angaben erklären nicht die Entstehung von monozygoten Zwillingen (»identical twins«). Hier sind nur eine Eizelle und ein Spermatozoon beteiligt und es wird davon ausgegangen, dass der Embryo sich in einem frühen Stadium teilt, meist auf der Stufe der Blastozyste, und sich zwei genetisch identische Individuen entwickeln. Die »Rechnung« würde daher lauten: 1 + 1 = 2. Somit vermeidet sogar der Transfer von einem einzigen Embryo die Zwillingsbildung nicht vollständig. Erstaunlicherweise nimmt auch die Häufigkeit der monozygoten Zwillinge nach Anwendung reproduktionsmedizinischer Techniken zu (Parazzini et al., 2016). Die Gründe hierfür sind weitgehend unklar (Dallagiovanna et al., 2021). Neben diesen geläufigen Arten von Zwillingen gibt es jedoch noch seltene und erstaunliche Varianten der Embryonalentwicklung, von denen im Folgenden zwei vorgestellt werden.

Chimären

Die Bezeichnung »Chimäre« steht allgemein für ein mythologisches Mischwesen, in der Genetik für einen Organismus aus genetisch unterschiedlichen Zellen und Geweben. Eine menschliche Chimäre (»chimeric person«) hat den gleichen Ursprung wie dizygote Zwillinge: Zwei Eizellen werden gleichzeitig von zwei individuellen Spermatozoen befruchtet, aber die beiden Embryonen verschmelzen früh in ihrer Entwicklung und bilden nur ein Individuum. Die Formel würde also lauten: 2 + 2 = 1. Ein Beispiel für dieses Phänomen bietet der Bericht über einen Jungen aus Großbritannien, der nach einer In-vitro-Fertilisation zur Welt kam (Strain et al., 1998). Die Eizellen der Mutter wurden mit Spendersamen befruchtet und der Transfer von drei Embryonen resultierte in der Ausbildung von einem Fötus. Nach termingerechter vaginaler Geburt war die einzige Auffälligkeit ein Hodenhochstand links bei ansonsten normal männlichem Genital. Im Alter von 15 Monaten erfolgte die Behandlung einer Hernie, wobei eine sich im Bruchsack befindliche, abnorme Keimdrüse entnommen wurde. Bei genauerer Untersuchung stellte sich heraus, dass es sich nicht um einen Hoden, sondern um ein Ovar mit Eileiter und Teilen eines Uterus handelte. Dieser Hinweis auf Zwittrigkeit veranlasste eine genetische Analyse, die das Vorliegen von männlichen (46,XY) und weiblichen (46,XX) Zelllinien bestätigte. Die Daten erlaubten auch einen Rückschluss auf die Entstehung des Kindes: Mit Sicherheit waren, gemäß obiger Formel, zwei Spermien beteiligt und es wurden zwei individuelle Eizellen befruchtet. Die zwei entstandenen Embryonen – einer weiblich, einer männlich – mussten nach dem Transfer in die Gebärmutter verschmolzen sein. Die Entwicklung des Kindes war bis zu einem Alter von vier Jahren und vier Monaten bekannt und verlief normal; es wurden keine weiteren weiblichen Geschlechtsorgane entdeckt.

Dieser spezielle Fall wurde im Zusammenhang mit genetischen Besonderheiten beim Menschen von der Wissenschaftsjournalistin Helen Pearson kommentiert (Pearson, 2002). Sie betont, dass es nur sehr wenige Berichte über echte Chimären beim Menschen gibt und die tatsächliche Häufigkeit dieses Phänomens nicht bekannt ist. Dies liege daran, dass Chimären nur dann auffallen, wenn Hermaphroditismus vorliegt, gleichzeitig männliche und weibliche Zellen festgestellt werden oder die Ergebnisse einer Chromosomenanalyse und das tatsächliche Geschlecht nicht übereinstimmen.

Wichtig sei auch die Unterscheidung von Mosaiken: Diese entstehen aus nur einer befruchteten Eizelle. Aufgrund von Fehlverteilungen von Chromosomen während der nachfolgenden mitotischen Zellteilungen kommt es jedoch zu Zelllinien mit unterschiedlichen Chromosomensätzen, zum Beispiel 46,XX/47,XXX. Eine interessante Perspektive für zukünftige Forschungen ist gemäß Pearson die Vermutung, dass Chimären und Mosaike zu Infertilität, Autismus und der Alzheimer-Krankheit beitragen könnten und auch die Wirkung von Medikamenten aufgrund der komplexen genetischen Konstitution kaum vorhersagbar ist.

Sesquizygotische Zwillinge

Diese Variante des Befruchtungsvorgangs ist noch seltener und schwierig zu erklären. Den ersten eindeutigen Hinweisen (Souter et al., 2007) folgte eine ausführliche Arbeit des Teams um den australischen Genetiker Michael Terrence Gabbett (2019). Darin wird die natürlich entstandene Zwillingsschwangerschaft einer 28-jährigen Frau beschrieben, bei der Auffälligkeiten entdeckt wurden. So ergaben Ultraschalluntersuchungen im ersten Trimenon klare Hinweise auf eine monochoriale, diamniotische Plazentation und ließen damit monozygote Zwillinge vermuten. Ab der 14. Woche deuteten die Aufnahmen jedoch an, dass ein Fetus männlich und der andere Fetus weiblich war, während es keine Zweifel an der monochorialen Schwangerschaft gab. Eine Amniozentese zeigte, dass jeder Zwilling eine Chimäre aus weiblichen und männlichen Zellen (46,XX/46,XY) darstellte. Ausführlichste Analysen der im mütterlichen Blut zirkulierenden fetalen DNS und der DNS der Eltern ließen eine einzige Interpretation der Ergebnisse zu: Beide Kinder wiesen das gleiche mütterliche Erbgut (aus einer Eizelle) auf, aber eine Mischung von verschiedenen Kopien des väterlichen Erbguts (aus zwei Spermatozoen). Diese genetischen Konstellationen führten zur Geburt eines Jungen und eines Mädchens, die beide phänotypisch normal waren. Das Mädchen entwickelte jedoch bereits pränatal eine Thromboembolie der rechten Oberarmarterie, so dass im Alter von vier Wochen unterhalb der Schulter amputiert werden musste. Zudem wurden nach drei Jahren die Ovarien prophylaktisch entfernt, da offensichtlich eine Fehlentwicklung vorlag.

Doch wie kommen die Chromosomensätze der beiden Kinder zustande? Zu dieser Frage wurde die Publikation von Gabbett et al. (2019) um ein Video ergänzt, das die vermuteten Vorgänge veranschaulicht (siehe Link). Demnach dringen zwei Spermien in dieselbe Eizelle ein, woraufhin sich ein dreizelliger Embryo bildet. Eine Blastomere ist weiblich (46,XX) mit dem Erbgut der Eizelle und des ersten Spermiums. Eine weitere Blastomere ist männlich (46,XY), wieder mit dem Erbgut der Eizelle plus dem des zweiten Spermiums. Die dritte Zelle enthält nur väterliches Erbgut (46,XY) aus den beiden Spermien und stirbt im Lauf der weiteren Entwicklung ab. Die beiden ersten Zellen sind jedoch lebensfähig und vermehren sich durch mitotische Zellteilungen. Wie bei monozygoten Zwillingen spaltet sich dieser Embryo auf und führt nach der Einnistung zu zwei Kindern. Diese sind in zweierlei Hinsicht besonders, denn sie tragen unterschiedliche Anteile an 46,XX- beziehungsweise 46,XY – Zellen. Zudem haben sie zu 100 % gleiche Gene von der Mutter geerbt, die Übereinstimmung bei den väterlichen Genen beträgt aber nur 78 %, da zwei Spermien beteiligt waren. Auf diese Art entstandene Zwillinge werden im Fachjargon als »sesquizygotisch« bezeichnet, die entsprechende Kurzformel würde lauten: 1 + 2 = 2.

Zum Abschluss gibt der Autor zu, dass er im Unterricht gern die (Fang)Frage stellte: Was passiert, wenn zwei Spermien gleichzeitig in eine Eizelle eindringen? Die häufige Antwort, es würden Zwillinge entstehen, wurde mit Hinweis auf den allgemeinen Kenntnisstand verneint. Demnach führen zwei Spermien (2×23 Chromosomen) plus eine Eizelle (23 Chromosomen) mit höchster Wahrscheinlichkeit zu einem triploiden Embryo (3×23 = 69 Chromosomen) (Rosenbusch, 2008). Die Triploidie ist wiederum eine häufige Ursache für Fehlgeburten oder schwerwiegende Fehlbildungen bei wenigen, nicht lange lebensfähigen Lebendgeburten. In Anbetracht neuer Erkenntnisse muss dies relativiert werden. Demnach sind Chromosomenanomalien die Regel, aber es gibt extrem seltene Ausnahmen, die wirklich zu Zwillingen führen können. Die Tabelle fasst die beschriebenen Möglichkeiten zusammen und verdeutlicht so die unberechenbaren Wege der menschlichen Fortpflanzung.

Zitiervorlage
Rosenbusch, B. (2023). Besonderheiten bei der Zwillingsbildung: Unberechenbare Fortpflanzung. Deutsche Hebammen Zeitschrift, 75 (6), 80–82.
Literatur
Dallagiovanna C., Vanni,V.S., Somigliana,E., Busnelli,A., Papaleo,E., Villanacci,R., Candiani M., Reschini,M. (2021). Risk factors for monozygotic twins in IVF-ICSI cycles: a case-control study. Reprod Sci. 28(5): 1421–1427.

Gabbett, M.T., Laporte, J., Sekar, R., Nandini, A., McGrath, P., Sapkota, Y., Jiang, P., Zhang, H., Burgess, T., Montgomery, G.W., Chiu, R., Fisk,N.M. (2019). Molecular support for heterogonesis resulting in sesquizygotic twinning.N Engl J Med. 380(9): 842–849.

Grubinger, E., Scheier, M. (2011). Mehrlingsschwangerschaften – Epidemiologie, Entwicklung und Morbidität. J Gynäkol Endokrinol. 21(2): 14–19.

Maul, H. (2019). Manövertraining für Zwillingsgeburten. Deutsche Hebammen Zeitschrift.71(8): 46–49.

Parazzini, F., Cipriani, S., Bianchi, S., Bulfoni, C., Bortolus, R., Somigliana, E. (2016). Risk of monozygotic twins after assisted reproduction: A population-based approach. Twin Res Hum Genet. 19(1): 72–76.

Pearson, H. (2002). Dual identities. Nature. May 2. 417(6884): 10–11.

Rosenbusch, B.E. (2008). Mechanisms giving rise to triploid zygotes during assisted reproduction. Fertil Steril. 90(1): 49–55.

Souter, V.L., Parisi, M.A., Nyholt, D.R., Kapur, R.P., Henders, A.K., Opheim, K.E., Gunther, D.F., Mitchell, M.E., Glass, I.A., Montgomery, G.W. (2007). A case of true hermaphroditism reveals an unusual mechanism of twinning. Hum Genet. 121(2): 179–185.

Strain, L., Dean, J.C., Hamilton, M.P., Bonthron, D.T. (1998). A true hermaphrodite chimera resulting from embryo amalgamation after in vitro fertilization.N Engl J Med. 338(3): 166–169.

Troll, T. (1974). Wo komm‘ ich eigentlich her? Hoffmann und Campe, Hamburg.

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