Der Begriff aufrechte Gebärhaltung wird zwar inflationär verwendet, ist aber bisher nur unzureichend definiert. Das erschwert die Vergleichbarkeit von Studienergebnissen, zum Beispiel zu Geburtsdauer und -verletzungen. 

Bei einem internationalen Kongress wurde ich während wundervoller Videos von spontanen Beckenendlagengeburten aus Vierfüßlerstand über den Vorteil einer Geburt aus aufrechter Position belehrt. Die Bilder passten aber gar nicht zum gesprochenen Wort. Es regte sich innerer Widerstand, der in der Frage mündete: Was ist eigentlich eine aufrechte Gebärhaltung? Hat das mal jemand klar beschrieben? Von welcher Geburtsphase reden wir dabei?

Keine klare Definition

Die Lehrbücher geben keine klare Definition, was unter aufrechter Gebärhaltung verstanden wird und wie sie gegen andere abgegrenzt wird. Sie wird anhand von Bildbeispielen illustriert und häufig auch als alternative Gebärhaltung beschrieben. Alternativ zu welcher Norm(alität)?

1961 haben die Anthropologin Frada Naroll und KollegInnen beschrieben: Als aufrecht kann eine Körperhaltung definiert werden, wenn sich der dritte Lendenwirbel oberhalb der gedachten Verbindungslinie zwischen der Mitte des dritten und fünften Lendenwirbels befindet. Demzufolge würde jedes leichte Anstellen der Rückenlehne von 10 bis 20 Grad schon zu einer aufrechten Haltung führen.

Ank de Jonge, Hebamme und Professorin in Amsterdam, und ihre KollegInnen beschreiben seit 2004 alle Körperhaltungen als waagerecht bis zu einem Winkel von 45 Grad. Aufrecht nennen sie die Körperhaltungen, in denen die Wirbelsäule sich zwischen 45 und 135 Grad bewegt. Die „halbsitzende Rückenlage“ im Kreißbett kann dementsprechend durchaus eine aufrechte Gebärposition sein, wohingegen im Vierfüßlerstand keine aufrechte Haltung mit über 45 Grad erreicht werden kann. Erst in der freihändig knienden Position oder in der vornüber gelehnt sitzenden Position erreicht der Rücken diesen Winkel.

Das Becken trägt die Last

Im Gegensatz zu unseren nächsten Verwandten, den großen Menschenaffen, können Menschen voll aufrecht gehen. Auch hier bildet der 45-Grad-Winkel die Trennlinie zwischen der Möglichkeit, sich leichter mit oder ohne Abstützen der Hände fortzubewegen (siehe Abbildung 1). Aus dieser Entwicklung ergaben sich Proportions- und Körperbaumerkmale, die sehr spezifisch für den Menschen sind. Die aufrechte Haltung veränderte die Lage der inneren Organe und bedingte eine andere Statik des Rumpfes. Die Wirbelsäule ist beim Menschen doppelt S-förmig geschwungen und wird zu einer federnden Säule, die die Stöße des zweibeinigen Gehens auffängt. Der unterste Teil der Wirbelsäule (Kreuzbein und Steißbein) sind als Bestandteil des Beckenrings an der Aufrichtung nicht vollständig beteiligt. Das wird am Promontorium deutlich, wo die Wirbelsäule scharf gegen die Lendenwirbelsäule abknickt.

Abbildung 1: Vergleich der Körperhaltung von Mensch und Gorilla

Dafür hat nun das Becken die Last der inneren Organe des Bauchs zu tragen – Beckenschaufeln und Kreuzbein treten breiter auseinander und bilden eine Art Schale. Anders als beim Vierfüßlergang sind die hinteren Extremitäten jetzt die unteren. Sie müssen den ganzen Körper tragen und fortbewegen (Schwidetzky 1971). Die Beine sind im Vergleich zu anderen Primaten beim Erwachsenen viel länger als die Arme, aber auch im Verhältnis zur Rumpflänge hat der Mensch die längsten Beine. Im Alter von drei Jahren sind Arme und Beine noch gleich lang. Die angepassten Muskelansätze führen beim Menschen zu ausgeprägten Waden und zu einem Gesäß, im Gegensatz zu den Primaten. Die oberen Extremitäten des Menschen werden für die Fortbewegung nicht mehr gebraucht. Sie wurden in der Entwicklung gelenkiger und beweglicher im Verhältnis zum Rumpf und zu den Beinen auch kürzer (siehe Abbildung 2). Der Beinlängen-Rumpf-Index beträgt bei Frauen 120 Prozent. Der Intermem­bral-Index, das Verhältnis der Armlänge zur Beinlänge, liegt bei 93 Prozent (Alt 2002).

Abbildung 2: Vergleich der Arm- und Beinlängen bei Frauen

Optisch stellt sich das ganz einfach dar: Beim aufrecht stehenden Erwachsenen enden die Handgelenke etwa auf Höhe des Hüftgelenkes. Das bedeutet für die möglichen Körperhaltungen während der Geburt, dass eine Frau Arme und Rumpf wie ein gleichschenkliges Dreieck einsetzen kann. Denn die Beweglichkeit findet im Handgelenk, im Schultergelenk als Arm-Rumpf-Verbindung und in der Hüfte als Rumpf-Bein-Verbindung statt. Sitzt eine Frau mit durchgestrecktem Rücken im rechten Winkel zum Boden, erreichen die Handgelenke den Boden zum seitlichen Abstützen kaum. Das ist auch davon abhängig, wie weit die Arme aufgrund der Körperfülle zu Seite abgespreizt werden müssen.

Auf einem Polster ist die Möglichkeit der seitlichen Abstützung bei aufrechter Haltung gegeben (siehe Abbildung 3).

Abbildung 3: Beim aufrechten Sitzen auf einem Pilatesball ist ein seitliches Abstützen möglich, weil die Frau ein Stück weit einsinkt.

Im Vierfüßlerstand

Begibt sich die Frau in den Vierfüßlerstand, sitzt sie erhöht auf ihren Fersen und kann ein beinahe gleichseitiges Dreieck bilden, je mit einem Winkel von 60 Grad, eben auch vom Rücken zu ihrer Sitzlinie, dem Verlauf des Oberschenkels (siehe Abbildung 4).

Abbildung 4: Dieser Vierfüßlerstand baut sich wie ein gleichseitiges Dreieck auf.

Dennoch kann diese Haltung nicht als aufrechte Gebärposition angesehen werden, weil der entscheidende Winkel jener zur Waagerechten, also zum Boden oder zum Bett ist. Die Schwerkraft wirkt lotrecht zum Untergrund, daher muss dieser auch als Bezugsgröße herangezogen werden.

Sobald die Frau den Rücken weiter aufrichtet, kann sie sich aufgrund ihrer anatomischen Gegebenheiten nicht mehr auf der Unterlage abstützen. Sie könnte es an einer Lehne oder an ihrem Partner machen, aber dann ist es kein Vierfüßlerstand mehr.

Werden die 45 Grad als Definition angenommen, kann der Vierfüßlerstand niemals zu den aufrechten Geburtshaltungen gezählt werden.

Weitere Gebärhaltungen

Wird Schwerkraftwirkung bei der aufrechten Geburtshaltung als Argument verwendet, muss die Stellung des Rückens zur Waagerechten in Bezug gesetzt werden. Damit müssen auch verschiedene Positionen einer stehenden oder sitzenden Gebärenden erneut geprüft werden.

Da es keine Raste am Geburtsbett für 45 Grad gibt, geschieht die Einschätzung immer nach Augenmaß und wir verschätzen uns zu oft.

Die Fotos in Abbildung 5 zeigen eine Reihe verschiedener Körperhaltungen und die Aufrichtung der Wirbelsäule in Bezug zum Untergrund.

Abbildungen 5: Aufrichtung der Wirbelsäule in Bezug zum Untergrund bei verschiedenen Körperhaltungen

Auch wenn der Winkel zwischen Oberkörper und Oberschenkel im Stehen groß ist, heißt es nicht, dass die Wirbelsäule sich in einer aufrechten Position befindet und die Schwerkraft als Argument herangezogen werden kann. Allerdings ist die Beweglichkeit des Kreuzbeins und des Steißbeins bei einem nicht aufliegenden Becken größer.

Bekanntermaßen werden Kinder nicht ausschließlich als Folge der Schwerkraft geboren, sondern durch Kräfte, die durch mehr als die Körperhaltung beeinflusst werden. Und der Geburtsweg verläuft in einer Kurve, so dass es schon aus diesem Grund nicht die eine Geburtsposition geben kann (siehe Abbildung 6).

Abbildung 6: Weil der Geburtsweg eine Kurve beschreibt, sollte es im Verlauf nicht bei einer einzigen Gebärhaltung bleiben.

Konsequenz für die Frauen

Für die Gebärenden hat diese Diskussion gar keine Konsequenz. Es ist ganz bestimmt auch nicht förderlich, mit den Frauen über Winkelmaße zu sprechen. Sie können ihre Körperhaltungen nach eigenem Befinden aktiv wählen und zwischen Wehe und Wehenpause wechseln. Sie sollten keineswegs durch unbegründete Interventionen aus ihrem Flussbett der Geburt geworfen werden. „Never change a running system“ – dieses Ingenieursprichwort eignet sich selbst bei Ablehnung technischer Begriffe für die Geburtshilfe.

Konsequenzen dieser Erläuterungen liegen ausschließlich im wissenschaftlich-kommunikativen Bereich. Es ist für die Vergleichbarkeit von Studienresultaten unabdingbar, genau zu beschreiben, wovon man spricht. Und wenn die aufrechte Gebärhaltung als Vor- oder Nachteil für eine Intervention oder einen Geburtsverlauf diskutiert wird, muss sie korrekt beschrieben werden. Die weiteren Einflüsse von Bewegung wie Schaukeln oder Gehen, Ruhe und Haltesystemen mit Seil oder Partner in der aufrechten oder vertikalen Körperhaltung wurden hierbei nicht diskutiert. Sie müssen aber als Teil des multifaktoriellen Geschehens mit beachtet werden. Außerdem darf nicht unterschlagen werden, über welchen Zeitrahmen der Geburt wir sprechen. Über die letzten zehn Minuten oder über die letzten zwei Stunden, seitdem der Muttermund vollständig ist, oder gar die Eröffnungsperiode?

Wenn sich aus der Auswertung der Perinatalbögen eine Diskussion darüber ergibt, dass in den Kliniken die Frauen immer noch alle liegend gebären würden „wie ein Käfer auf dem Rücken“, entbehrt das schon seit vielen Jahren jeder Grundlage. Die Daten sind aber aufgrund der eingeschränkten Antwortmöglichkeiten in den Perinatalbögen nicht anders auswertbar. Hier sollte ein sorgsamer Umgang mit der Datenlage stattfinden. Bestimmte Maßnahmen in der Geburtshilfe sollten immer erst nach einer gewissenhaften Auswertung belastbarer Daten verurteilt werden. Wir wissen einfach nicht, ob jede „sogenannte aufrechte Position“ wirklich zu einem besseren Geburtsoutcome führt(e). Es gibt genauso wenige Gründe dafür, daraus zu folgern, dass die Frauen besser liegen sollten.

Geburt ist Bewegung und die Gebärhaltung eine aktive Wahl – der Frau.

Zitiervorlage
Seehafer P, Kindberg S: Ist der Vierfüßlerstand eine aufrechte Gebärhaltung? DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2016. 68 (2): 69–71
Literatur
Alt K, Kemkes-Grottenthaler A: Kinderwelten: Anthropologie – Geschichte – Kulturvergleich.
Böhlau Verlag Köln 2002

Coppen R: Birthing positions: Do midwives know best? Quay books Division MA health Care. London 2005

de Jonge A, Van Diem MT, Scheepers PL, Buitendijk SE, Lagro-Janssen AL: Risk of perineal damage is not a reason to discourage a sitting birthing position: a secondary analysis. Int J Clin Pract 2010. 64 (5): 611–8

Naroll F, Naroll R, Howard FH: Position of women in childbirth. A study in data quality control. American journal of obstetrics & Gynecology 1961. 82: 943–954

Rothe H, Henke W: Stammesgeschichte des Menschen: Gedanken zu den Anfängen der Menschwerdung. In: Fasterding M (Hrsg.): Auf den Spuren der Evolution. Vom Urknall zum Menschen. Edition Archaeam Gelsenkirchen 1999. 135–163

Schwidetzky I.: Das Menschenbild in der Biologie G. Fischer Verlag Stuttgart 1971

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