Rollenspiele sind ein beliebtes Mittel zur Selbsterfahrung in Balintgruppen. Foto: © imago/blickwinkel

Die Beziehung ist wesentlich für das Gelingen einer Behandlung. Der ungarische Arzt Michael Balint sprach von der „Droge Arzt“. In der Begegnung zu PatientInnen fand er Wirkungen sowie unerwünschte Nebenwirkungen. Er entwickelte eine analytische Gruppenarbeit, die er zunächst bei SozialarbeiterInnen, später mit AllgemeinärztInnen anwandte.

Was „Wie” einer therapeutischen Maßnahme hat Einfluss auf deren Wirksamkeit. Es macht einen Unterschied, ob ein Behandler sagt: „Versuchen wir es mal, vielleicht nutzt es ja”, oder: „Dies hat sich sehr bewährt, davon haben schon viele Menschen profitiert”. Das wird auf den ersten Blick deutlich. Nicht so einfach ist es mit den unausgesprochenen Botschaften. Als Ärztin kann ich versuchen, noch so professionell zu agieren und zu reagieren. Bin ich beispielsweise genervt, wird mein Gegenüber es spüren. Und ich werde – oft von mir selbst unbemerkt – das Gespräch abzukürzen versuchen, werde weniger auf Fragen und Argumente eingehen, werde kürzere Informationen geben. Vielleicht bin ich anschließend nicht zufrieden mit der Begegnung, habe möglicherweise das Gefühl, etwas übersehen zu haben. Vielleicht beschäftigt mich im Nachhinein auch die Frage: Warum bin ich mit dieser Patientin nicht klar gekommen? Was hat sie in mir ausgelöst?

Übertragung und Gegenübertragung

Die Medizin hat enorme Fortschritte gemacht in den vergangenen 150 Jahren. Wir haben heute bessere diagnostische Möglichkeiten, Instrumente, Hilfsmittel und Medikamente als vor der Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts. Diese Mittel versetzen uns in die Lage, Menschen zu behandeln und Krankheiten zu heilen. Geburten sind sicherer geworden, Mütter und Kinder besser geschützt, die vorgeburtliche Diagnostik ist hoch spezialisiert. Und doch wird es immer wieder Situationen geben, in denen wir als Menschen gefordert sind, in denen der Einsatz von Maschinen keine ausreichende Hilfe leisten kann. Wie gehen wir heute als professionelle HelferInnen um mit der psychischen Dimension von Krankheit, Geburt und Tod? Und wo bekommen wir Hilfe, um mit den Ereignissen in unserem Berufsalltag umzugehen und sie zu verarbeiten?

Ende des 19. Jahrhunderts entstand das „Maschinenmodell des Menschen”. Die Medizin glaubte, die Funktionen des Körpers zu durchschauen und seine Fehlfunktionen „reparieren” zu können wie bei einer Maschine. Auch damals gab es schon Gegenmodelle. Der Neurologe Jean-Martin Charcot (1825–1893) demonstrierte in Paris die Auswirkung der Hysterie auf den Körper, und der Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud (1856–1939) veröffentlichte in Wien die Behandlung solcher und ähnlicher neurologischer Symptome mit der „Gesprächskur”. Damals begann die Diskussion um die „somatoformen Störungen”, wie wir sie heute nennen. Ob psychosomatisch oder somatopsychisch – unsere Emotionen wirken auf die Funktionen des Körpers, wie die Wut im Bauch, Angstschweiß oder Freudentränen. Und gestörte Körperfunktionen wirken sich auf das seelische Befinden aus: Schmerz, der quält, Sehstörungen, die uns abhängig machen, Hörverlust, der die Kommunikation erschwert und verunsichert.

Eine ängstliche Erstgebärende wird eine andere Unterstützung benötigen als eine erfahrene Drittgebärende. Eine Diabetikerin wird bei der Geburt differenzierter, vielleicht vorsichtiger, auf körperliche Reaktionen achten als eine junge gesunde Mutter. Und die noch unerfahrene junge Hebamme wird anders auf diese Frauen wirken als eine erfahrene ältere. Nicht nur diese pauschalen Unterschiede spielen eine Rolle, sondern vor allem auch ganz individuelle Gefühle auf beiden Seiten. Da sind Vorerfahrungen mit ähnlichen PatientInnen. Da sind unausgesprochene Wünsche an die HelferInnen. Da gibt es positive und negative Gedanken, die auf den jeweils anderen projiziert werden.

In der Sprache der Psychoanalyse heißt dies Übertragung und Gegenübertragung. Diese Phänomene sind immer vorhanden, ob wir sie wahrnehmen oder nicht. In vielen Fällen hilft es uns und unserem Gegenüber, wenn wir uns dessen bewusst werden. An diesem Punkt setzen Balintgruppen an.

Michael Balint (1896–1970) war ein ungarischer Arzt, der sich früh mit den Schriften von Sigmund Freud befasst hat und sich in seiner naturwissenschaftlichen Arbeit unter anderem mit den Phänomenen in der Pharmakologie auseinandergesetzt hat. Dies brachte ihn auf die Idee, dass auch die Begegnung zwischen Arzt und Patient „Wirkungen und unerwünschte Nebenwirkungen” hervorrufe, die man erforschen müsse.

„Und gewiss nicht zum ersten Mal in der Geschichte der Medizin führte die Diskussion sehr bald zu der Erkenntnis, dass das am allerhäufigsten verwendete Heilmittel der Arzt selber sei. Nicht die Flasche Medizin oder die Tabletten seien ausschlaggebend, sondern die Art und Weise, wie der Arzt sie verschreibe – kurz die ganze Atmosphäre …”, schreibt Balint im Jahr 1957. Diese Weisheit hat nichts an Aktualität verloren und gilt auch für die Geburtshilfe. Vielleicht eine Binsenweisheit, dass die Atmosphäre im Kreißsaal eine große Rolle spielt für den Ablauf einer Geburt – vielleicht die allergrößte? In Balintgruppen tauschen sich vor allem im Medizinsystem Tätige aus. Balint nannte seine ersten Gruppen mit Allgemeinmedizinern in London „Training cum Research Groups”. Er wollte mit dieser Arbeit eine „Psychologisierung des ‚Arztens‘”erreichen, einerseits also eine Weiterbildung in psychosomatischem Denken anstoßen (Training), andererseits herausfinden, auf welche Weise die Arzt-Patient-Beziehung auf Diagnose und Therapie einwirkt (Research). Für die Beziehung sind beide Partner wichtig: Patient und Helfer. Die Gruppe wird sich mit beiden beschäftigen, mit dem Patienten allerdings ausschließlich durch den Bericht des Kollegen.

Ein Beispiel: Eine junge Gynäkologin berichtet in ihrer Balintgruppe von einer 23-jährigen Patientin, die zur Geburt in die Klinik kam. Diese verlief komplikationslos, die Frau brachte ein gesundes Kind zur Welt. Die junge Mutter allerdings wandte sich vom Kind ab, sie konnte es nicht annehmen. Die Kollegin war entsetzt und wütend auf die Mutter, empfand sie als undankbar, machte sich Sorgen um das Kind. Gleichzeitig hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie der Patientin im Anschluss auswich, sich nicht professionell genug um sie kümmern konnte. Es blieb eine kühle Beziehung.

Im Anschluss an den Bericht der Gynäkologin fantasiert die Gruppe zunächst die Situation der jungen Mutter. Es entstehen überwiegend Gefühle wie Trostlosigkeit, Leere, Einsamkeit und Traurigkeit. In welcher Lebenssituation mag sie sich befinden? Hat sie einen Partner? Gibt es Eltern, die sie begleiten? Die Gynäkologin erinnert sich, dass die junge Mutter keinen Besuch bekam; das macht sie nachdenklich und ihr Ärger auf die Patientin wird weniger. Auch die Situation der Vortragenden wird beleuchtet: Konnte sie sich austauschen mit den KollegInnen? Gibt es Anhaltspunkte für ihre starke Gefühlsreaktion? Die Referentin deutet an, dass es im Hintergrund eine eigene Geschichte gibt, die ihr zunächst nicht zugänglich war. Die Erinnerung daran hilft ihr, den Ärger auf die junge Mutter zu verstehen. Sie führt nicht aus, was in ihrem eigenen Leben passiert ist. Ist sie selbst ähnlich abgelehnt worden von ihrer eigenen Mutter? Der Selbsterfahrungsanteil der Referentin wird berührt, aber nicht weiter ausgeführt oder diskutiert. Sie wird dieser emotionalen Erfahrung in ihrem Beruf noch häufiger begegnen und ist nun besser darauf vorbereitet. Im Verständnis für die Situation der Patientin liegt die Chance, in einer ähnlichen Situation zugewandt zu bleiben und die Patientin und das Kind zu unterstützen, anstatt sie abzulehnen.

In diesem Beispiel geht es vor allem um die Psychohygiene der Gynäkologin. Sie ist entlastet, weil sie ihre Reaktion nun versteht. Sie wird eine ähnliche Situation in Zukunft anders gestalten können. Balint spricht von der „kleinen, aber wesentlichen Veränderung in der Persönlichkeit des Arztes” nach einer gewissen Zeit. Forschungsergebnisse sprechen davon, dass dies nach einem Jahr regelmäßiger Teilnahme an Balintgruppen eintritt.

Die Beziehung im Mittelpunkt

In der Balintgruppe wird also eine Begegnung beschrieben. Die übrigen Gruppenmitglieder hören zunächst den Bericht, können dann Fragen zur Situation stellen und schließlich ihre Eindrücke, Gefühle und Fantasien schildern. Diese werden der Referentin sozusagen zur Verfügung gestellt. Sie nimmt alles zunächst kommentarlos auf und lässt die Gruppenarbeit auf sich wirken. Das hilft ihr, die eigene Situation besser zu verstehen, blinde Flecke zu erhellen und sich ihrer Anteile an der Beziehungsgestaltung bewusst zu werden. Oft kann sie sich währenddessen sehr gut in die geschilderte Patientin einfühlen. Dies zeigt die spätere Rückmeldung an die Gruppe.

Wir haben es mit einer analytischen Gruppensitzung zu tun, die geleitet wird von einem ausgebildeten Balintgruppenleiter, der von seiner Grundkompetenz Psychoanalytiker beziehungsweise -therapeut ist. Die Balintarbeit ist angesiedelt zwischen Supervision und Selbsterfahrung. Spielen in einem Supervisionssetting die Geschichte der Patientin, die Diagnose und die Therapie die Hauptrolle, so liegt in der Selbsterfahrungsgruppe der Fokus auf dem Teilnehmer beziehungsweise der Teilnehmerin. In der Ba­lintgruppe dagegen steht die Beziehung zwischen beiden im Mittelpunkt.

Die daraus erwachsenden Erkenntnisse helfen uns selbst, unsere eigenen Reaktionen im Berufsalltag besser zu verstehen und damit umzugehen. Wir werden nicht alle PatientInnen dadurch lieben oder selbst nur noch liebevoll sein. Weiterhin wird es schwierige, ärgerliche und wenig zufriedenstellende Situationen geben. Wir werden sie dann jedoch anders meistern. Studien dazu gibt es von Ulrich Rosin, emeritierter Professor für Psychiatrie und Psychosomatik, der in den 1980er Jahren zu Balintarbeit forschte, und der dänischen Ärztin Dorte Kjeldman. Sie haben gezeigt, dass die Mitglieder von Balintgruppen weniger stressanfällig sind. Diese haben demnach außerdem mehr Freude an ihrer Arbeit und schauen auf die psychosomatischen Symptome, die oft therapieresistent sind und hilflos machen, eher mit Interesse als davon genervt zu sein.

Skulptur zur Veranschaulichung

Balint hat seine Gruppen als reine Diskussionsgruppen geführt. Wir sind heute geneigt, auch andere kreative Verfahren aus der Psychotherapie hineinzunehmen. Ein wesentlicher Gedanke ist dabei der systemische Ansatz: Obwohl sich PatientInnen und medizinische HelferInnen als einzelne Individuen begegnen, so ist doch im Hintergrund beider ein ganzes System. Gehen wir von der Situation der Schwangeren und der Hebamme aus, so haben wir es auf der Seite der Patientin meist mit einer Familie zu tun, auf der anderen Seite mit einem professionellen Helferteam. Die privaten Beziehungen der professionellen HelferInnen werden in der Balintarbeit nicht thematisiert. Sie werden oft für die Referentin in der Gruppe implizit erfahrbar.

Um die Einflüsse, die von diesen Systemen ausgehen, sichtbar zu machen, formieren wir eine Skulptur: Die Referentin benennt die Personen, die ihr für das Verständnis der Begegnung wichtig erscheinen, also etwa den Kindsvater, die Eltern der Schwangeren oder die Geschwister des Neugeborenen. Auf der Seite der Hebamme stehen beispielsweise die KollegInnen und die Klinik als Institution. Dadurch wird deutlich, welche Beziehung die einzelnen Personen zueinander haben: Stehen sie weit voneinander entfernt oder dicht beisammen? Sind sie einander zugewandt oder drehen sie sich den Rücken zu? Gibt es wohlwollende oder kritische Gesten? Es ist immer wieder erstaunlich zu erleben, wie gut sich die ProtagonistInnen mit den Personen identifizieren können und deren Gefühle wiedergeben. Oft fällt es der Referentin schon während der Aufstellung wie Schuppen von den Augen: Sie erkennt die Problematik und kann ihre abgewehrten Gefühle und Gedanken wahrnehmen.

Eine weitere Möglichkeit ist, ein Rollenspiel einzuführen in die Gruppenarbeit oder auch die Fantasien anzustoßen mit Hilfe der Imagination.

Diese Methoden beleben die Gruppenarbeit, es darf gern gelacht werden. Humor ist die beste Burnout-Prophylaxe! Und auch dies ist ein wichtiges Ziel der Balintarbeit. Sie dient der Psychohygiene. Wir teilen Erfahrungen, die oft leidvoll sind, und erleben die Unterstützung durch eine Gruppe.

Balint-Gesellschaften

Die Deutsche Balintgesellschaft (DBG) veranstaltet jährlich in ganz Deutschland etwa 16 Wochenendtagungen, bei denen die Balintarbeit vorgestellt und in Gruppen erlebt wird. Nähere Informationen unter
www.balintgesellschaft.de.

Balintgesellschaften gibt es in vielen Ländern. Sie sind zusammengeschlossen in der „International Balint Federation” (IBF). Näheres hierzu unter www.balintinternational.com.

Zitiervorlage
Otten H: Arbeit in Balintgruppen: Blinde Flecken erhellen. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2014. 66 (4): 42–45 
Literatur

Balint, M.: Der Arzt, sein Patient und die Krankheit. Stuttgart: Klett-Cotta. 10. Auflage (2001) Original: The Doctor, his Patient and the Illness, 1957, International Universities Press. Inc. (1966)

Kjeldmand, D.: The Doctor, the Task and the Group. Acta Universitatis Upsaliensis. Uppsala(2006)

Otten, H.: Professionelle Beziehungen. Springer-Verlag. Berlin, Heidelberg, New York (2012)

Rosin, U.: Balint-Gruppen: Konzeption, Forschung, Ergebnisse. In: Die Balintgruppe in Klinik und Praxis. Band 3. Springer-Verlag (1989)

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