„untitled“, 2010 Foto: © Christopher Burke; Reproduktion: Markus Heimbach

Zeitlebens war die eigene Mutter wohl die wichtigste Person und zentrale Figur des Schaffens für die in Paris geborene Louise Bourgeois. Ihre Arbeit funktioniere wie Psychoanalyse, urteilte die Künstlerin über ihr eigenes Werk, das geprägt war von Stofflichkeit und einer reichen Formensprache – bis ins Zelluläre hinein. Dies wird in zwei Ausstellungen in der nächsten Zeit zu sehen sein.

Als Rebellin, aber auch immer wieder als „sage femme”, als weise Frau, wurde die Künstlerin, die fast 100 Jahre alt geworden ist, beschrieben. Nun wurde diese Bezeichnung einer Ausstellung in Barcelona verliehen: „La sage femme”. Bis Ende des Monats waren im dortigen Palau de la Música Catalana zahlreiche Werke von Louise Bourgeois, die am ersten Weihnachtstag 1911 geboren wurde und 2010 in New York gestorben ist, zu sehen. Die Sammlung wurde kuratiert unter anderem von Maria Fluxà, einer Expertin in Bezug auf die Kunst von Louise Bourgeois. Sie erläutert: „Die Künstlerin bevorzugte schneidende und einmeißelnde Techniken wie Stichel und Kaltnadelradierung, was ohne Zweifel mit ihrer Affinität zur Skulptur zu tun hat. Sie bevorzugte Werkzeuge, die etwas physisch durchbohren und durchstechen. Sie arbeitete bevorzugt gegensätzlich: konkave und konvexe Linien, das Feminine und Maskuline, das Gute und das Teuflische.” Ausgestellt waren hauptsächlich zweidimensionale Arbeiten, die um Ängste, unbewältigte Emotionen sowie Manien der Künstlerin kreisten und sich mit dem weiblichen Körper auseinandersetzten. Der Ausstellungsbesuch war wie eine Reise in das Leben und die Vorstellungswelt der Künstlerin. Geheimnisse kannte sie nicht. Schonungslos offen gab sie in ihren Werken innerste Gefühle preis, erzählte von traumatisierenden Ereignissen aus ihrem Leben, um sie zu verstehen und zu bewältigen: „Ich bin eine Frau ohne Geheimnisse. Alles Private sollte kein Risiko bedeuten, es sollte ergebnisorientiert sein, es sollte verstanden werden, gelöst, verpackt und entsorgt werden.” (Übersetzung der Autorin). So lautet dementsprechend der Titel einer anderen Ausstellung, die noch bis zum 18. Mai in der Scottish National Gallery of Modern Art in Edinburgh läuft: „A Woman without secrets” – „Eine Frau ohne Geheimnisse”.

Wie Psychoanalyse

Die Künstlerin erklärt, dass ihre Arbeit genauso funktioniere und wirke wie Psychoanalyse. Man müsse in die Vergangenheit zurückgehen und die Ursache seiner Gefühle finden, gute und schlechte, um zu verstehen, wie sie heute agieren und „deine Arbeit zu leben und zu fühlen beeinflussen.” Immer wieder befasste sie sich mit ihrer Kindheit, mit den damaligen Erlebnissen, mit den Menschen, die sie beeinflussten. Erstaunt darüber, wie nachhaltig sich Probleme aus der Kindheit auf die Zeit als Erwachsener auswirken, hoffte sie sich mit ihrer Kunst von Traumen aus der Kindheit zu befreien, was ihr jedoch nicht vollständig gelang. Vor allem litt sie unter dem Fehlverhalten des Vaters, dessen Geliebte inmitten der Familie lebte, und unter dem frühen Tod der Mutter, die kurz vor Louises Abitur starb. Zeitlebens fühlte sich die Künstlerin wie ein verlassenes Kind, immer auf der Suche nach der Mutter. Denn sie war die wichtigste Person in ihrem Leben. Ihr widmete sie zahlreiche Werke. Louise stellte sie darin oft als Spinne dar. Die Mutter war gewissermaßen wie die Spinne selbst eine Weberin und stellte Stoffe her. Sie hatte einst eine Manufaktur geleitet, die historische Gobelins restaurierte. Der Vater brachte von seinen Reisen Teppiche mit, die oft defekt oder zerschnitten waren. Sie wurden in der Manufaktur gewaschen, wieder aneinander genäht, mit selbst eingefärbter Wolle ausgebessert und in der Galerie des Vaters verkauft. Louise Bourgeois zeichnete schon als Jugendliche Vorlagen für fehlende Teppichstücke. Immer wieder ließ sie später verlauten: „Ich vermisse meine Mutter. Ich bin eine Mutter, ich suche nach einer Mutter”. Die innere Zerbrechlichkeit war eines ihrer großen Themen. Die Werke waren in erster Linie für sie selbst bestimmt, aber es war ihr auch wichtig, durch ihre Werke mit anderen zu kommunizieren, um sich verständlich zu machen und geliebt zu werden. Sie wollte sich erklären und dafür entschuldigen, dass sie so sehr für die Kunst lebte, als Mutter teilweise versagte und die Versorgung ihrer drei Kinder dem Ehemann überließ.

Verwachsen mit dem Haus

Louise Bourgeois fühlte sich als Mutter und Hausfrau eingeschlossen in ihrem Haus, das wie ein ungeliebter Teil ihrer Identität war. Nicht ohne Humor schrieb sie, dass sie sich darin wie in einer Spirale bewegte und ihr Leben damit verbrachte Socken und Taschentücher zu waschen. Immer wieder zeichnete sie sich wie verwachsen mit einem Haus, das quasi den Teil ihres Oberkörpers eingenommen hat. Oder sie nähte einem weiblichen Torso aus Strickstoff ein kleines Haus auf den Bauch. Schließlich bewegte sie sich kaum fort aus ihrem Haus in der West 20th Street, schaffte keine Flucht aus dieser Enge, aus ihren Erinnerungen. Sie lebte über 50 Jahre im selben Haus und verließ es in den letzten Jahren so gut wie gar nicht mehr. In einem Gespräch mit dem New Yorker Kunsthistoriker und Ausstellungskurator Richard Marshall erklärte sie ihm ein paar Jahre vor ihrem Tod, dass es eben ein freundliches Refugium sei. Vormittags würde sie ihre Skulpturen anfertigen, nachmittags zeichnen. Sonntags empfing sie regelmäßig wie eine Salonniere aus dem alten Frankreich junge Künstler, vor allem junge Frauen, um mit ihnen deren Kunstwerke zu besprechen. Sie hatte ihre inneren Welten und inneren Räume, die sie dann zuhauf in Raumgröße nachbaute, Zellen – „Cells” – genannt. Dabei handelt es sich nicht um behagliche Schutzräume, sondern sie ähneln oft eher Folterkammern, Räumen in denen unheimlich Dinge passieren. Keine Orte, wo man verweilen möchte.

Im Februar 2015 werden im Münchner Haus der Kunst so viele Zellen gleichzeitig ausgestellt wie noch nie. In den sorgfältig inszenierten Mikrokosmen befinden sich verwirrende Skulpturen aus Stoff oder Stein, Gegenstände, die die Künstlerin mal fand oder in ihrem Besitz hatte, selbst getragene Kleidungsstücke und Mobiliar. Sie erklärte 1991 zu diesen Räumen: „Sie repräsentieren verschiedene Arten von Schmerz: physischen, emotionalen, psychologischen, geistigen und intellektuellen Schmerz. Dabei ist jedoch die Frage: Wann wird eine Emotion physisch? Wann wird das Physische emotional? Es geht immer im Kreis. Schmerz kann an irgendeinem Punkt beginnen und sich dann in jede Richtung drehen. Jede Zelle handelt von der Angst. Angst ist Schmerz. Oft wird er nicht als Schmerz wahrgenommen, weil er sich tarnt. Jede Zelle spielt mit dem Vergnügen des Voyeurs, dem Nervenkitzel des Anschauens und Angeschautwerdens. Die Zellen ziehen sich gegenseitig an oder weisen sich ab. Es gibt dieses Verlangen zu integrieren, zusammenzufließen oder auseinanderzufallen.” Die Künstlerin, die nichts dem Zufall überließ, war sehr genau in ihrer Wortwahl, ob im Französischen oder im Englischen. Bei der Bedeutung des Wortes Cell wollte sie verschiedene Bedeutungen anklingen lassen. Cell könnte die Zelle bedeuten, in die sich Mönche für ein Gebet oder Kontemplation zurückziehen, auch die Zelle, in die man Verbrecher steckt, aber auch Zellen als mikroskopisch kleine Bauteile des Menschen.

Verletzlichkeit und Hilflosigkeit

Auch in der Ausstellung in Edinburgh sind einige Zellen zu sehen: etwa „Cell XIV (Portrait)” von 2000 und „Untitled” von 2010. Die Verwendung von Stoff unterstreicht laut der Ausstellungsmacher die Idee der Verletzlichkeit und Hilflosigkeit, die die Künstlerin so dauerhaft beschäftigten. Sie begann erst ziemlich spät, Stoffe und Kleidung künstlerisch zu verwerten. Es war jedoch eine logische Weiterführung ihrer gesamten Kreativität, die einst in der Weberei ihrer Mutter begann, so Lucy Askew im begleitenden Ausstellungskatalog. Die Geschmeidigkeit der Stoffe würde oft im Widerspruch zu der emotionalen Anspannung und den extrem aufgeladenen Werken stehen, nachdem die Künstlerin die Stoffe mit ihren Händen transformiert hat. Das Rot von „Cell XIV (Portrait)” signalisiert starke Emotionen. Die hellen Farben, nahezu Weißtöne, von „Untitled” bedeuten Reinigung, Katharsis und Erneuerung. Diese Arbeit entstand im letzten Jahr ihres Lebens als eine Vitrine, die ausgewogen vertikale und horizontale Elemente vereinigt. Die Künstlerin kombinierte hier Konzepte und Interessen, die sie ihr Leben lang beschäftigt haben, meint Askew und bezeichnet die Arbeit als das möglicherweise am weitesten vollendete Selbstporträt der Künstlerin. Links befindet sich ein Ständer mit Garnspulen, ein Objekt, das sich immer wieder in ihren Arbeiten finden lässt und an die Mutter samt Weberei erinnert. Früher war Garn zudem untrennbar mit dem Spinnen verbunden, ein nahezu archetypisches Symbol für das Leben. Das Garn ließe sich auch als eine Art Lebensfaden interpretieren.

Auf einer Metallplatte rechts neben dem Spulenständer liegt ein Torso, ein Körper in Ruhe, bezogen mit einer hellen Decke, die der Künstlerin gehörte, eine Referenz an die körperliche Wärme, die sie mit der Mutter in Verbindung brachte. Darauf liegen wie Eier weiße Berets, diese französischen Mützen, die sie ihr Leben lang trug. Ihr langjähriger Freund und Assistent Jerry Gorovoy, der heute die Nachlassverwaltung der Künstlerin leitet, erklärt dazu: „Die Gruppe von brustähnlichen Formen bezieht sich auf die gegossenen weichen Landschaften, die Louise in den späten 1960er Jahren anfertigte. Die Gruppe beziehe sich auch auf Steine, die ein Grab markieren. Hier geht es definitiv um die Idee des Lebens, das Gefüttertwerden durch die mütterliche Brust zusammen mit der Idee des Todes.”

An der Stelle, wo der Kopf sitzen würde, befestigte Louise Bourgeois eine geometrische Form, auf der anderen Seite eine pinkfarbene Öffnung. Die Künstlerin hat wohl nie über die Bedeutung dieser beiden Elemente gesprochen, jedoch war sich Gorovoy sicher: „Es hat zu tun mit dem Körper und dem Geist, zwischen der Irrationalität der Sexualität und der Welt der Vernunft, es geht um Ideen sowie dem Intellektuellen und Rationalen. Man könnte vielleicht sagen zwischen dem Es und dem Ego.” Arbeiten, die sehr berühren, wenn man ihre symbolhafte Sprache versteht.

Ausstellungen

„Louise Bourgeois – A Woman without Secrets”

National Galleries of Scotland

Artist Rooms, Edinburgh

Die Ausstellung ist noch bis zum 18. Mai 2015 zu sehen.

Nähere Informationen: www.nationalgalleries.org

„Louise Bourgeois”

27. Februar 2015 bis 26. Juli 2015

Haus der Kunst

Prinzregentstr. 1, 80538 München

Nähere Informationen unter www.hausderkunst.de

Zitiervorlage
Heimbach B: Die Künstlerin Louise Bourgeois: Schmerz in jeder Zelle. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2014. 66 (4): 73–75 
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