Agnes Schlechtriemen-Koß: »Die Angst ist an die Hebamme delegiert. Und diese sieht es als ihre Rolle und Aufgabe, alles Erdenkliche zu tun, damit nichts passiert.« Foto: © privat

In der Geburtshilfe müssen alle Beteiligten lernen, mit Angstabwehr und -kontrolle umzugehen. Gleichzeitig beeinflussen die Gesellschaft und das Rechtssystem, wie Hebammen und Ärzt:innen mit ihren eigenen Ängsten vor Fehlern oder Schicksalen umzugehen haben. Und werdende Eltern delegieren ihre Ängste an ein vermeintlich fehlerfreies medizinisches System. Was das für die wenigen schweren Ereignisse bis hin zu Todesfällen unter der Geburt bedeutet, analysiert eine Supervisorin und Lehrerin für Pflegeberufe. 

Tara Franke: Eine Dozentin sagte einmal in einer Fortbildung, alle Hebammen hätten Angst vor einem Notfall mit Todesfolge – die eine Hälfte fürchte mehr den Tod einer Mutter durch Verbluten, die andere eher den Tod eines Kindes bei der Geburt. Ist es möglich, Geburtshilfe ohne diese Ängste zu praktizieren? Und wäre das vorteilhaft – oder eher gefährlich?

Agnes Schlechtriemen-Koß: Die Angst davor, dass eine Mutter oder ein Kind während der Geburt sterben könnten, ist ja nicht ausschließlich ein Gefühl, das Hebammen haben. Vielmehr geht es um eine ganz reale, existenzielle Gefahr für Mutter und Kind. Jede Hebamme weiß, dass so etwas passieren kann, wenn auch zum Glück sehr selten. Damit sie Mutter und Kind im Rahmen des Möglichen vor dieser Gefahr schützen kann, ist es für die Hebamme wichtig, die vorhandenen Risiken so exakt wie möglich zu kennen und in der jeweiligen Situation einschätzen und adäquat agieren zu können. Förderlich ist es dabei, wenn die Hebamme die Gefahren »exakt symbolisieren« kann.

Was bedeutet das?

Das bedeutet, sie kennt vorhandene Risiken durch ihr Fachwissen sehr detailliert, kann sie in der jeweiligen Situation einschätzen und innerlich abbilden. Sie nimmt im günstigen Falle die Bedrohung gewissermaßen in einem ganzheitlichen Sinne wahr, nicht nur »mit dem Kopf«, sondern sie lässt sie sich in gewissem Umfang auch spüren. Wenn die Hebamme die Risiken ausschließlich im Kopf klar hat und nicht auch in der konkreten Situation gefühlsmäßig wahrnimmt, läuft sie Gefahr, sich in der Situation unangemessen riskant zu verhalten.

Was ist der Unterschied zwischen einer spontanen Angstreaktion und einem bewussten Umgang damit?

Bei einer spontanen Angstreaktionen folgt die Person quasi reflektorisch einem inneren Impuls. Dies ist in manchen Bedrohungslagen sinnvoll, im Zusammenhang mit der Erfüllung der Rolle und der Aufgaben einer Hebamme wäre das aber natürlich hoch problematisch. Für die Hebamme geht es darum, die eigenen Gefühle, die in der jeweiligen Situation ausgelöst werden, möglichst genau zu kennen und wahrzunehmen und sich gerade dadurch größtmöglichen Handlungsspielraum zu verschaffen.

Das, was man von sich selbst nicht spüren kann, ist ja trotzdem da und wirkt sich unkontrolliert auf das eigene Handeln aus. Außer der Wahrnehmung der eigenen emotionalen Reaktionen bedarf es für den bewussten Umgang mit bedrohlichen Situationen auch noch einer hohen Fachkompetenz und Rollensicherheit – unter anderem durch professionelle Erfahrung. Hier möchte ich vor allem routinierte, automatisierte Handlungsabläufe in Notfallsituationen hervorheben, wie beispielsweise bei einer Reanimation, die als festes Muster »abgerufen« werden können. Sie funktionieren bei entsprechender Routine im Grunde ohne bewusste Steuerung, »wie Fahrradfahren«. Dies ist auch sinnvoll, denn bei einer Reanimation ist eine starke Gefühlsbeteiligung eher kontraproduktiv, weil das tendenziell zu zögerlichem und unkoordiniertem Vorgehen führt.

Wenn Sie Hebammen oder ärztliche Geburtshelfer:innen fragen würden, ob sie in ihrer Arbeit mit Todesangst zu tun haben, würden sie das vermutlich eher verneinen. Zum Fremd- wie zum Selbstbild beider Berufe gehört die Vorstellung, dass diese Menschen emotional besonders stabil und gerade in Krisensituationen belastbar sind. Dabei ist es recht wahrschein­­­lich, dass sie im Laufe ihres Berufslebens mit lebensbedrohlichen Notfällen zu tun haben werden. Sind Geburtshelfende wirklich »angstfrei«?

Angstfrei sind Hebammen und Ärzt:innen natürlich genauso wenig wie alle anderen Menschen. Es ist aber so, dass andere sie so sehen, es sogar von ihnen gefordert wird. Es gehört zu ihrer Rolle, angstfrei zu sein. Wir Menschen verlangen ja quasi vom Medizinsystem, uns unsere Angst vor Krankheit und Sterben, welche die größte existierende Angst ist, zu nehmen.

Wir könnten auch sagen, das Medizinsystem hat den gesellschaftlichen Auftrag, Ängste zu kontrollieren. Und Hebammen, ÄrztInnen und Pflegekräfte werden auch gerne so gesehen, dass sie sich durch keine Bedrohung ängstigen lassen und sie fühlen dann auch keine Angst. Es entsteht in diesen Berufen das Gefühl, Bedrohungen kontrollieren zu können. Das gibt ein starkes Sicherheitsgefühl, das hilft, eigene Ängste zu mildern. Es ist also nach meiner Beobach-tung so, dass Hebammen, Ärzt:innen und auch Pflegekräfte eine ganz bestimmte Art des Umgangs mit eigenen Ängsten haben. Meist lassen sich dafür bei genauerer Betrachtung gute Gründe in der eigenen Herkunftsfamilie und Lebensgeschichte erkennen, die die Berufswahl dann auch mit beeinflusst haben.

Welche Mechanismen helfen Hebammen und Gynäkolog:innen, Tag für Tag mit der latenten Angst vor dem schlimmsten Fall klarzukommen und zu arbeiten?

Das ist wirklich eine große Herausforderung für Hebammen, weil die klare »selbstverständliche Minimalerwartung« von allen Seiten ist, den Tod von Mutter und Kind in jedem Fall zu verhindern. Und gleichzeitig ist fachlich klar, dass dies in – zum Glück wenigen – einzelnen Situationen nicht möglich ist.

Helfen kann hier zusätzlich zur Umsetzung fachlicher Standards die Reflexion. Vor allen Dingen sei dabei die gemeinsame Reflexion im Team zum Beispiel in der Supervision erwähnt. Hebammen brauchen Raum dafür, diese innere Spannung wahrzunehmen, sie aussprechen zu können und darauf von anderen eine Resonanz zu bekommen. Die gemeinsame Reflexion von professioneller Verantwortung und deren Grenzen, eigenen Gefühlen, eigenen Vorgehensweisen, sowie der eigenen Rolle ist ganz wichtig.

Es ist wichtig, darin verstanden zu werden und auch authentische Rückmeldungen zu bekommen. Hier können gegebenenfalls Fortbildungen hilfreich sein. Eine Teamkultur also, in der offen über schwierige Ereignisse, auch Fehler, gesprochen werden kann, in der sich alle gegenseitig stärken und Rückhalt geben. Es geht um eine Kultur, in der Strategien für den Umgang mit Krisensituationen, aber auch Erwartungen von Patient:innen und Angehörigen gemeinsam entwickelt und umgesetzt werden. Dies ist aus meiner Sicht der entscheidende Ansatzpunkt zum Umgang mit der Problematik.

Der Tod einer Mutter oder eines Neugeborenen ist an sich schon ein schwer zu verkraftendes Ereignis, auch für die Betreuenden. Hinzu kommt aber noch die Sorge, rechtlich belangt zu werden. Welche Angst tritt hier zutage und was können mögliche Folgen davon sein? Ist es denkbar, dass Hebammen oder Ärzt:innen aus dieser persönlichen Angst falsche Entscheidungen treffen, die Mutter oder Kind sogar eher schaden?

Ich denke, dass der Tod eines Kindes oder einer Mutter für eine Hebamme eine echte Krise, vielleicht in manchen Fällen sogar im engeren Sinne traumatisch ist. Es gibt erstens den Schock über den Tod, der ausgerechnet in der Situation eintrat, als neues Leben entstehen sollte, und der immer auch mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert. Es gibt zweitens vielleicht die Angst davor, diesen Tod durch fehlerhaftes Verhalten selbst (mit-)verursacht oder nicht verhindert zu haben. Und es gibt drittens die Angst davor, rechtlich belangt zu werden, verbunden mit der Angst vor Strafe, mit Scham, vielleicht auch Schmach, der Sorge vor dem Verlust von Ansehen und Status im eigenen Team und darüber hinaus, die Sorge vor finanziellen Problemen, vor Arbeitslosigkeit. Kurzum: die Angst davor, dass das eigene Leben fortan ein anderes, belastetes und vielleicht auch einsameres sein wird.

Wenn wir uns die Konsequenzen eines Rechtsverfahrens oder gar einer rechtswirksamen Verurteilung vor Augen führen, ist natürlich klar, dass Hebammen und Ärzt:innen aus Angst und Vermeidungsverhalten auch verantwortbare Risiken manchmal nicht verantworten wollen. Das heißt, es werden invasivere Maßnahmen gewählt als unbedingt nötig. Welche das im Einzelnen sind, wissen Sie als Hebamme besser als ich. Ich denke aber, dass die hohe Zahl an Kaiserschnitten natürlich auch damit zusammenhängt.

Der Druck auf die Geburtshelfenden kommt nicht nur aus den eigenen Reihen, auch die Gesellschaft, Eltern, Krankenkassen, Gerichte und Gutachter:innen legen extrem hohe Erwartungen an diese Berufsgruppe an. Dabei sind viele Ursachen für bestimmte schwere Krisen während der Geburt noch gar nicht geklärt, geschweige denn hundertprozentig zuverlässige Diagnostika oder Therapien entwickelt. Warum lastet die Gesellschaft den Helfenden eine Verantwortung auf, die sie realistisch gesehen gar nicht voll übernehmen können?

Wir stellen uns als Gesellschaft ja quasi auf folgenden Standpunkt: »Sterben und Tod während einer Geburt dürfen niemals passieren. Hebammen und Ärzt:innen sind dafür zuständig, dies sicherzustellen, und wenn dann doch etwas passiert, sind die auch schuld und müssen dafür sühnen!« Das schließt ja dann aus, dass der Tod einer Frau oder eines Kindes während einer Geburt als tragisches Unglück oder Unfall gesehen werden kann, denn wie gesagt, Tote während einer Geburt gibt es vermeintlich nicht. Der Nutzen liegt auf der Hand: Auf diese Weise delegieren wir als Gesellschaft den Umgang mit Angst, vor allen Dingen auch unserer eigenen Angst vor dem Sterben und dem Tod, ans Medizinsystem und an die dortigen Berufsgruppen – und lassen uns das übrigens auch sehr, sehr viel Geld kosten! Wir müssen diese Angst selbst dadurch nicht fühlen.

Anders formuliert: Als Gesellschaft symbolisieren wir unsere Ängste vor dem Tod nicht exakt. Wir schätzen also weder rational Risiken exakt so ein, wie sie faktisch sind und wie wir es von unseren intellektuellen Fähigkeiten und vom Stand der Wissenschaft her wissen könnten, noch lassen wir uns die daraus resultierende Bedrohung in angemessenem Maße fühlen.

Weltweit sterben täglich etwa 7.000 Neugeborene kurz nach der Geburt, zumeist ohne dass dafür das medizinische Personal zur Rechenschaft gezogen wird. Eltern empfinden den Verlust als extrem schmerzhaft. In Ländern mit einer hohen Sterblichkeit akzeptieren sie ihn aber teilweise als einen unvermeidlichen Teil des Lebens oder ihrer Lebensumstände. Warum ist dagegen bei uns der sehr seltene Tod eines Neugeborenen so ein besonders schweres Tabu?

Wenn ich es mal scharf formuliere, bilden wir uns als Gesellschaft ja eigentlich ein, weil wir »so weit« entwickelt und im Weltvergleich sehr reich sind, alles, insbesondere auch Sterben und Tod, kontrollieren, ja verhindern zu können. Wir wissen zwar, dass dies in anderen Teilen der Welt nicht gegeben ist, fühlen uns aber durch unsere technischen, strukturellen und finanziellen Voraussetzungen den Prozessen in der Natur überlegen beziehungsweise gehen davon aus, diese beherrschen zu können. Ein totes Neugeborenes konfrontiert uns, so gesehen, als Gesellschaft auch mit unserem, ich sage mal bewusst »überheblichen« und nicht ganz zutreffenden Selbstverständnis und macht uns allen gewaltige Angst, die wir uns natürlich nicht spüren lassen wollen.

Manchmal lassen sich aber tatsächlich individuelle Fehlentscheidungen, Fehler bei der Informationsübermittlung oder strukturelle Ursachen für einen mütterlichen oder kindlichen Sterbefall aufdecken, sogenannte iatrogene Ursachen. Was raten Sie Betroffenen im Umgang mit einer solchen Last?

Das ist natürlich ganz fürchterlich, wenn so etwas passiert, und vermutlich wird es für die meisten betroffenen Personen etwas sein, was sie nie vergessen und was sie immer irgendwie bei sich haben werden. Die große Frage ist, ob es gelingen kann, sich selbst zumindest mittelfristig mit diesem Fehler, der einem unterlaufen ist, zu akzeptieren. Dabei spielt es eine große Rolle, wie das Umfeld und nicht zuletzt die geschädigten Angehörigen darauf reagieren. Gibt es verständnisvolle Kolleg:innen, die nicht auf Distanz gehen, sondern sich zuwenden und Gespräche anbieten? Ist es möglich, mit den Angehörigen ins Gespräch zu kommen, ihre Gefühle auszuhalten, sich mit ihnen vielleicht sogar zu versöhnen? Versöhnung ist nach allem, was wir wissen, für beide Seiten sehr wertvoll und hilfreich, wenn es gelingt.

Die Verarbeitung eines solchen Ereignisses ist ein Prozess, der mit Schmerzen und individuell unterschiedlichen Gefühlen und Erlebensweisen einhergehen wird und für den jede Person auf ihre ureigenen Bewältigungsstrategien zurückgreifen wird. Wichtig scheint mir zu sein, sich selbst in so einer Situation als Verletzte zu betrachten, die gut für sich sorgen und prüfen sollte, was sie braucht, damit »die Wunde« heilen kann. Hilfreich sind ganz sicher immer wieder Gespräche mit Kolleg:innen, Freunden und gegebenenfalls auch professionellen Berater:innen beziehungsweise Therapeut:innen.

Die Geburtshilfe wimmelt von fragwürdigen, weil nicht evidenzbasierten Diagnostika und Interventionen, denen sich werdende Eltern oft nur schwer entziehen können. Manchmal scheinen Geburtshelfende mehr Angst um das Wohlbefinden gesunder werdender Mütter und ihrer Kinder zu haben als die Betroffenen selbst. Könnte das ein Grund sein für die zunehmende Überversorgung gesunder Schwangerer und Gebärender?

Ja, das sehe ich ganz genauso! Die Angst ist an die Hebamme delegiert und diese sieht es als ihre Rolle und Aufgabe, alles Erdenkliche zu tun, damit nichts passiert, aber auch, damit es eine möglichst unvergessliche und »ideale« Geburt wird. Um dem entgegenzuwir­­ken, bedarf es für die Hebamme immer wieder der Reflexion der eigenen Rolle, der eigenen Aufgabe, der eigenen Verantwortung und ihrer Grenzen.

Oft nehmen Ärzt:innen den übervorsichtigen interventionsfreudigeren Part ein, während Hebammen die Betreuten vor überflüssigen Eingriffen schützen wollen. Ist das auch mit Aspekten der Angstabwehr zu erklären?

Ja, ich denke schon! Die Rollen­aufteilung, die Sie beschreiben, gibt es ja auch zwischen Pflegenden und Ärzt:innen. Pflegende sind beispielsweise viel eher bereit anzuerkennen, dass ein Leben zu Ende geht, würden oft eher auf kurative Interventionen verzichten und ein palliatives Vorgehen anbieten, während Ärzt:innen oft noch in ausweglosen Situationen Diagnostik und kurative Therapien vorantreiben. Das liegt aus meiner Sicht stark an der hierarchischen Struktur im Gesundheitswesen, die damit einhergeht, dass Ärzt:innen immer die »alleinige abschließende Verantwortung« für die Entscheidung über die medizinischen Maßnahmen tragen und in erster Linie Leben erhalten wollen. Wenn dann die hohe Verantwortung auch noch gepaart ist mit fachlicher Unsicherheit und/oder geringer praktischer Erfahrung, dann wird sich die Tendenz verschärfen, aus Angst und Vorsicht überflüssige Eingriffe vorzunehmen. Umgekehrt können wir vielleicht aber auch fairerweise festhalten, dass es wohl leichter ist, auf überflüssige Eingriffe zu verzichten, wenn man nicht die abschließende Verantwortung hat.

Erlauben Sie mir eine nicht geburtshilfliche Frage – aus aktuellem Grund: Die Corona-Pandemie hat vielfältige Konflikte ausgelöst oder sichtbar gemacht. Die Gesellschaft scheint mehr und mehr gespalten zu sein zwischen denen, die Impfungen als Schutz vor der eigenen schweren Erkrankung oder Tod durch Covid-19 und als Akt der Solidarität ansehen – und denen, die auf ihrer individuellen Entscheidung gegen eine Impfung bestehen. Viele Vertreter:innen beider Seiten agieren aus einer persönlichen (Todes-)Angst heraus. Wie könnte die Gesellschaft diesen moralisch-ethischen Konflikt angehen und lösen, bevor er den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedroht?

Auf Ihre Frage, wie der gesellschaftliche Zusammenhalt gefördert werden kann, will ich an dieser Stelle nicht eingehen, weil das den Rahmen des Interviews sprengt.

Wir können aber vielleicht festhalten, dass es so ist, wie Sie es in Ihrer Frage ausgedrückt haben: Mit der riesigen, sehr berechtigten Angst, die die Pandemie auslöst, geht jeder anders um. Einige leugnen zur Angstabwehr das Vorhandensein des Virus gänzlich oder bagatellisieren seine Gefährlichkeit. Andere neigen, psychoanalytisch betrachtet, zur Reaktionsbildung, fühlen sich also der Gefahr irrationalerweise überlegen, behaupten vielleicht, sie hätten so ein starkes Immunsystem, dass das Virus ihnen nichts anhaben kann. Wieder andere verschieben die Angst auf andere Objekte, sie haben also zwar Angst, aber nicht vor der Pandemie, sondern vor Chips, die ihnen eingepflanzt werden könnten, oder vor Unfruchtbarkeit durch Impfung. Dann gibt es wieder andere, die auch nach fast zwei Jahren Pandemie und trotz vollem Impfschutz keinen direkten Kontakt zu anderen Menschen haben, Angst vor dem Virus also tendenziell überstark erleben und übervorsichtig reagieren.

Nun steht in unserer Gesellschaft glücklicherweise jedem das Recht zu, mit Gefahren selbstbestimmt umzugehen. Die Pandemie kann aber, im Gegensatz zu einigen anderen Gefahren, nur durch ein klares gemeinsames Vorgehen aller Menschen gemeinsam bewältigt werden. Wir müssen also versuchen, eine gesellschaftliche Verständigung darüber herzustellen, wie wir damit umgehen wollen.

Somit besteht die Aufgabe jedes Einzelnen darin, einen ausgewogenen, stimmigen Umgang mit der Angst anzustreben. Das bedeutet, Gefahren gut informiert und wissenschaftlich aufgeklärt einzuschätzen und sich die damit verbundene Angst in angemessener Form fühlen zu lassen, sie den richtigen Objekten zuzuordnen und Maßnahmen umzusetzen, mit denen die Gefahr gemindert oder beseitigt werden kann.

Danke für Ihre wichtigen Gedanken und Einordnungen.

Die Interviewte

Agnes Schlechtriemen-Koß war nach ihrer ersten Ausbildung Fachschwester für Innere Medizin, später tätig als Lehrerin für Pflegeberufe und Leiterin für die innerbetriebliche Fortbildung eines Krankenhausverbundes. Sie arbeitet seit vielen Jahren freiberuflich in eigener Praxis als Supervisorin, Trainerin für Führung und Kommunikation, Heilpraktikerin auf dem Gebiet der Psychotherapie und Ausbilderin für Berater:innen nach den Standards der Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie und der Deutschen Gesellschaft für Beratung.

Kontakt: schlechtriemen-koss@gmx.de; www.schlechtriemen-koss.de

Zitiervorlage
Schlechtriemen-Koß, A. & Schuch, R. (2022). Interview mit Agnes Schlechtriemen-Koß: Die Angst spüren. Deutsche Hebammen Zeitschrift, 74 (2), 8–12.
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