Frida Kahlo hält in dem Gemälde »Henry Ford Hospital« von 1932 ihr Erlebnis einer Fehlgeburt fest Quelle: Souter 2006, S. 57

Ästhetische Bildung kann in der Hebammenausbildung das wissenschaftliche Lernen ergänzen: In der Kunstbetrachtung kommt es auf Empathie und leibliche Erfahrungen an, auf die Auseinandersetzung mit sinnlichen Wahrnehmungen und den verständnisvollen Austausch. Ein Beitrag zur Bildungsforschung im Hebammenwesen. 

Wahrnehmungsprozesse sind wichtig für das Lernen wie auch für die Hebammenarbeit. Sie finden nicht nur mithilfe der Sinne statt, sondern ihr Ursprung liegt schon davor im leiblichen Spüren (Friesacher 2008, S. 321 f.). Ästhetische Bildung kann als Potenzial genutzt werden, um implizites Wissen im Hebammenberuf als professionelle Handlungskompetenz aufzuwerten. Dazu kann beispielsweise die Intuition in beruflichen Situationen zum Gegenstand von Lehr- und Lernsituationen gemacht werden. Über ästhetische Erfahrungen in der Unterrichtspraxis werden die Lernenden für leibliches Spüren und Kommunizieren sensibilisiert und zu Erkenntnisprozessen angeregt, die neben einer naturwissenschaftlichen Herangehensweise zusätzliche Aufschlüsse für die Hebammenarbeit liefern können.

Das Kunstwerk »Henry Ford Hospital« von Frida Kahlo steht hier exemplarisch für die Chance, im Unterricht werdender Hebammen implizite und leibliche Wissensformen zu thematisieren und dadurch den Erkenntnisgewinn im Hebammenwesen zu ergänzen (siehe Abbildung 1).

Frida Kahlo gilt als »Malerin der Schmerzen«
Quelle: Trujillo 2019, S. 158

Warum ästhetische Bildung für Hebammen?

Aktuell wird die Hebammenausbildung in Hochschulstudiengängen verstärkt evidenzbasiert ausgerichtet. Damit nimmt die Notwendigkeit zu, einer einseitig naturwissenschaftlich-medizinisch geprägten Sozialisation des Berufsstandes entgegenzuwirken. Hebammenarbeit sollte nicht nur aus einer medizinlogischen Perspektive heraus gelehrt werden, sondern das subjektive Erleben der Frauen sollte stärker in den Mittelpunkt gestellt werden. Hebammenarbeit ist in ihrem Kern als »Beziehungs- und Berührungsberuf« zu sehen (Uzarewicz & Uzarewicz 2005, S. 177). Lösungsansätze gegen die verstärkt naturwissenschaftlich ausgerichteten Tendenzen in der Berufsbildung können in kunstpädagogischen und philosophischen Ansätzen gefunden werden. Deshalb wurde im Rahmen einer berufspädagogischen Masterthesis ein Unterrichtskonzept anhand des Kunstwerkes »Henry Ford Hospital« von Frida Kahlo entwickelt, das exemplarisch eine Verbindung zwischen ästhetischen Erfahrungen und Bildungsprozessen zur hebammendidaktischen Diskussion herstellt. Im Kern schärft es den Blick auf subjektives Erleben im Unterricht und rückt individuelle Ausdrucksformen sowie vielfältige Deutungsweisen in den Mittelpunkt. Anknüpfend an das Vorwissen der werdenden Hebammen, kann es Erfahrungsräume für neue Erkenntnisse und Ansichten eröffnen.

Die Stärke ästhetischer Bildung ist in der Förderung personaler und sozial-kommunikativer Kompetenzen sowie in der Betonung des Subjektes zu sehen. Die Arbeit mit Kunstwerken kann ein geeignetes Gegengewicht zur naturwissenschaftlich-medizinisch ausgerichteten Ausbildung von Hebammen darstellen und zur Professionalisierung beitragen.

Im Mittelpunkt ästhetischer Bildungsprozesse stehen insbesondere die Reflexion über ästhetische Erfahrungen und die Auseinandersetzung mit der eigenen Wahrnehmung (Peez 2005, S. 16). Dadurch werden neue Blickwinkel auf die Welt eingenommen. Die ästhetische Erfahrung selbst wird zum Bildungsprozess, indem wir uns als Wahrnehmende gewahr werden (vgl. Dietrich et al. 2012, S. 60). Ästhetische Erfahrungen sind Voraussetzung für ästhetische Bildung, denn, wenn das Erfahrene subjektiv reflektiert, eingeordnet, strukturiert und kategorisiert wird, können sich ästhetische Bildungsprozesse entfalten (Kirchner 2004, S. 7).

Die deutsch-mexikanische Künstlerin Frida Kahlo ist bis heute als »Malerin der Schmerzen« bekannt. Die Bedeutung des Gemäldes »Henry Ford Hospital« entfaltet sich im Unterricht über »Imaginative Spaziergänge durchs Bild« (Krautz 2012, S. 89), die Möglichkeitsräume für leiblich-sinnliche Erfahrungen eröffnen. Für die Lernenden zeigt sich die im Kunstwerk dargestellte Erfahrungssituation Frida Kahlos aufgrund eigener Erfahrungen, die sie beispielsweise in der beruflichen Praxis gemacht haben, als jeweils andere Erfahrung. Diese Fülle an Bedeutungen gilt es mit aktuellem berufsbezogenem Wissen in Verbindung zu bringen. Das Kunstwerk lässt somit Freiraum für nicht vorgefertigtes Wissen, also für leiblich-sinnliche Wahrnehmung, die mit Gefühlen, Stimmungen und Atmosphären einhergeht. So können alternative Zugänge zu hebammenkundlichen Themen eröffnet werden, die zur Ausbildung hermeneutischer Kompetenz – eines sinnhaften Verstehens – beitragen können.

Frida Kahlos Skizze zu »Henry Ford Hospital« Quelle: Souter 2006, S. 55

»Eine Schleife um eine Bombe«

Kahlo malte zahlreiche Bilder, die ihre unterbrochenen Schwangerschaften thematisieren und eindrucksvoll ihre Emotionen und persönlichen Ängste zeigen. Die Qualität und die expressive Kraft der weiblichen Leiberfahrungen in ihrer Malerei liegen in einer Präsenz ihrer Werke, die sich den Betrachter:innen über leibliches Spüren derart aufdrängen, dass der Dichter André Breton behauptete, ihre Kunst sei wie »eine Schleife um eine Bombe« (Darbyshire 1994, S. 51).

Durch die Betrachtung des Kunstwerkes kann das eigene Berührt-Sein zum Ausdruck gebracht werden und über Reflexion können Dinge in einem neuen Licht

gesehen werden. Gegenseitiges »verstehen lernen« wird damit angeregt. In Gesprächen über Kunst werden Deutungen, Imagination, Empathie und eine subjektorientierte Haltung als Basis zwischenmenschlicher Kommunikation gefördert, die zu einfühlenden und tieferen Verständniswegen führen (vgl. Schmidt 2016, S. 119). In einer Distanz zur Realität können die Lernenden eine andere Form der Weltaneignung über Wege der Wahrnehmung, Interpretation und Wertung erleben. Dabei werden neue Ansichten generiert, die persönlich bedeutsam werden können.

Die beiden Pflegepädagoginnen Franziska Fichtmüller und Prof. Dr. Anja Walter konnten für die didaktisch-methodische Fallarbeit in gesundheitsfachberuflichen Lehr- und Lernsequenzen zeigen, dass die Arbeit mit konstruierten Fällen die Perspektive der Lernenden vernachlässigt. Denn die vorbereiteten Fallbeispiele, gespickt mit möglichst vielen Informationen, schildern die beruflichen Situationen nicht aus Sicht der Lernenden (Fichtmüller & Walter 2007, S. 167). Dieser Kritik lässt sich das Lernen und Arbeiten mit Kunstwerken im Unterricht entgegensetzen. Über ästhetische Erfahrungen können die Auszubildenden die Lerninhalte selbst identifizieren, die im Kunstwerk begreiflich werden. Im Gegensatz zur Arbeit mit konstruierten Fällen in der theoretischen Ausbildung werdender Hebammen, können in der Begegnung mit dem Kunstwerk »Henry Ford Hospital« Phänomene aus der Perspektive der Lernenden erschlossen werden, die in authentische berufliche Handlungssituationen eingebunden sind.

In Kunstgesprächen werden über den Austausch zwischen den Lernenden Themen mehrperspektivistisch identifiziert und bearbeitet. Dabei zeigt sich die Authentizität in den Kunstwerken von Frida Kahlo insbesondere durch die Einheit von Leben und Werk. Kunst wird also zu einem sichtbaren Ausdruck, einer Antwort auf ein leibliches Ereignis. Die Betrachter:innen werden in den Bann des Kunstwerkes gezogen und erleben über die sinnliche Wahrnehmung ihren eigenen Leib, der nicht gegenständlich ist und auch nicht über Denkprozesse erfasst werden kann, sondern in der ästhetischen Erfahrung thematisch wird. Im Kunstwerk »Henry Ford Hospital« hält die »Malerin der Schmerzen« ihre leibliche Ergriffenheit im Selbstbildnis ihrer Fehlgeburt fest und positioniert Symbole, die auf die Todesursachen ihres Kindes hindeuten. Verstehensprozesse der Lernenden für diese tiefgreifende Erfahrung, wie sie Frida Kahlo durchlebt hat, können durch die Auseinandersetzung mit expressiver Kunst angeregt werden. Denn die ästhetische Erfahrung veranlasst die werdenden Hebammen, sich auf sinnliche, leibliche, spürende und fühlbare Eindrücke einzulassen.

Abbildung 4a: Frida and the Abortion, 1932

Mehr Kreativität und kritisches Hinterfragen

Philip Darbyshire, Dozent für Gesundheitswissenschaften an der Universität Glasgow in Schottland, hebt in seiner Veröffentlichung »Understanding the life of illness: Learning through the art of Frida Kahlo« die besonderen Vorteile der Arbeit mit Kunstwerken im Studium werdender Hebammen hervor: »We can best understand these experiences through engaging with expressive arts such as poetry, stories, photographs, and paintings, for the artist’s portrayals of human experience are often most vivid, evocative and powerful« (Darbyshire 1994a, S. 52).

Die Bildbetrachtung schärft den Blick auf subjektives Erleben. Foto: © FridaKahlo.org

Prof. Anne de la Croix und ihr Team von der medizinischen Fakultät der Freien Universität Amsterdam haben zudem in ihrer qualitativen Studie »Art-based learning in medical education: the students’ perspective« Daten von Medizinstudent:innen erhoben, die Erfahrungen mit Kunst in Lehr- und Lernsituationen sammeln konnten. Die Auswertung der Interviews zeigte, dass die angebotenen »Workshops« die Fähigkeiten zur Kreativität und zum kritischen Hinterfragen traditioneller Denkweisen fördern konnten (de la Croix et al. 2014, S. 1096). Zusammenfassend ließ sich feststellen, dass ästhetische Bildungsprozesse durch die veränderte Verarbeitung von Informationen charakterisiert sind, also durch die Art und Weise, wie wir »wissen«, »können« oder »wahrnehmen«. Sie ermöglichen eine grundlegende Veränderung im Denken. Das eigene Verständnis von Welt wird somit in ästhetischer Erfahrung angerührt. An dieser Schnittstelle können über die Verknüpfung von leiblich-sinnlicher Wahrnehmung des Kunstwerks und Erkenntnisgewinn in der Auseinandersetzung mit der Welt ästhetische Bildungsprozesse entstehen, die persönlich und beruflich bedeutsam sind.

Abbildung 4b: Frida and the Caesarean, unfinished, dated to 1931

Ausblick

In der Begegnung mit dem Bild »Henry Ford Hospital« im Unterricht tritt eine neue Dimension der Erfahrung hervor, indem sich die Lernenden in der Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk der Welt leiblich-sinnlich zuwenden können. In der ästhetischen Bildung wird ausdrücklich die Bedeutung der Leibtheorie für das Hebammenwesen hervorgehoben und aufgezeigt, dass das Lernen mit Kunstwerken im Unterricht positive Effekte auf Bildungsprozesse besitzt sowie fachdidaktisch für das Hebammenwesen aufgegriffen werden kann.

Empirische Untersuchungen im Hebammenwesen, die ästhetische Erfahrungen und Leiblichkeit in Bildungsprozessen in den Blick nehmen, stehen noch aus. Die Sichtung des Forschungsstandes zeigt, dass sich Forschungslücken identifizieren lassen und Forschungsbedarf besteht. Auch wenn der Bildungswert ästhetischer Erfahrung im Hebammenwesen nicht quantitativ messbar ist, können Forschungsarbeiten zu den Erfahrungen werdender Hebammen mit ästhetischen Bildungsprozessen dazu beitragen, die Wirksamkeit von Kunstwerken in der theoretischen Ausbildung empirisch zu erforschen. Dadurch können Grundsteine einer Fachdidaktik für das Hebammenwesen gelegt werden, welche die leiblich-sinnliche Wahrnehmung als Grundlage von Lernen und Bildung sieht.

Abbildung 4c: Birth 1932

Zitiervorlage
Schaback, M. (2021). Kunst bildet die Sinne. Deutsche Hebammen Zeitschrift, 73 (10), 84–87.
Literatur
Darbyshire P: Understanding the life of illness: learning through the art of Frida Kahlo. In: Advances in Nursing Science 1994. 17(1), 51–59. www.researchgate.net/publication/15220507_Understanding_a_life_of_illness_through_the_art_of_Frida_Kahlo

De la Croix A, Rose C, Wildig E, Wilson S: Arts-based learning in medical education: the students’ perspective. In: Medical Education 2011. 45 (11), 1090–1100. www.researchgate.net/publication/51708400_Arts-based_learning_in_medical_education_The_students‘_perspective/citations

Dietrich C, Krinninger D, Schubert V: Einführung in die Ästhetische Bildung. 2. Auflage. Weinheim/Basel. Beltz Juventa Verlag 2012

Fichtmüller F, Walter A: Pflegen lernen. Empirische pflegedidaktische Begriffs- und Theoriebildung zum komplexen Wirkgefüge von Lernen und Lehren beruflichen Pflegehandelns. Göttingen. V&R unipress 2007

Friesacher H: Theorie und Praxis pflegerischen Handelns. Begründung und Entwurf einer kritischen Theorie der Pflegewissenschaft. Osnabrück. V&R Verlag 2008

Gahlings U: Frida Kahlo: Mi nana y yo o Yo mamando (Meine Amme und ich oder ich nuckele). Mahayni Z (Hrsg.): Neue Ästhetik. Das Atmosphärische und die Kunst. München. Wilhelm Fink Verlag 2002. 85–96

Kirchner C: Bildnerische Gestaltung und ästhetische Bildung. Potenziale ästhetischer Erfahrung in Rezeptions- und Produktionsprozessen. ph akzente 2004. 3 »Ästhetische Bildung«. Pädagogische Hochschule Zürich – Forschung und Innovation, Weiterbildung und Beratung (Hrsg.). Zürich 2004. 7–11

Krautz J: Imagination und Personalität in der Kunstpädagogik. Anthropologische und didaktische Aspekte. In: H. Sowa (Hrsg.): Bildung der Imagination, Band 1: Kunstpädagogische Theorie, Praxis und Forschung im Bereich von Wahrnehmung, Vorstellung und Darstellung. Oberhausen. Athena Verlag 2012. 74–97

Peez G: Evaluation ästhetischer Erfahrungs- und Bildungsprozesse. Beispiele zu ihrer empirischen Forschung. München. Kopaed Verlag 2005

Rittelmeyer Ch: Warum und wozu Ästhetische Bildung? Über Transferwirkungen künstlerischer Tätigkeiten. Ein Forschungsüberblick. 2. Auflage. Oberhausen. Athena Verlag 2012

Schmidt A: Ästhetische Erfahrung in Gesprächen über Kunst. Eine empirische Studie mit Fünft- und Sechstklässlern. München. Kopaed Verlag 2016

Souter G: Kahlo 1907–1954. London. Sirrocco Verlag 2006

Trujillo H: Frida Kahlo: Ihre Fotografien. München. Prestel Verlag 2019

Uzarewicz C, Uzarewicz M: Das Weite suchen. Einführung in eine phänomenologische Anthropologie für Pflege. Stuttgart. Lucius Verlag 2005

Zetterman E: Frida Kahlo‘s Abortions: With Reflections from a Gender Perspective on Sexual Education in Mexico. Konsthistorisk tidskrift/Journal of Art History 2006. 75(4), 230–243. www.tandfonline.com/doi/abs/ 10.1080/00233600601130137?journalCode=skon20

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