Sibylle Lüpold: »Etwa ein Drittel der Erwachsenenbevölkerung leidet unter Schlafstörungen – ich sehe da Zusammenhänge.«
Foto: © 1001kindernacht
Vor zehn Jahren hat Sibylle Lüpold ein Schlafberatungskonzept geschaffen. Sie setzt darin einen bindungsorientierten Schwerpunkt. Seit 2016 bildet sie Fachpersonen aus – so auch Hebammen. Im Interview spricht sie über die wichtigsten Methoden und Ziele.
Carolin Steinweger: Sie sind Schlafberaterin und geben Ihr Wissen nicht nur an Eltern weiter, sondern bilden auch Fachpersonen aus. Was können Hebammen von Ihnen lernen?
Sibylle Lüpold: Hebammen können sich einerseits in unserem Kurs zur Schlafberaterin weiterbilden lassen. Aber wir bieten auch Seminare zur »Schlafentwicklung in den ersten drei Monaten« speziell für Hebammen an. Der Fokus liegt dabei auf den ganz Kleinen: Es geht um die Grundlage der Schlafentwicklung rund um die Geburt und Neugeborenenphase.
In dem Seminar geht es vor allem um das sichere Schlafen und damit verbunden um den Plötzlichen Kindstod. Wie können sich Eltern gut und sicher einrichten? Was müssen sie beachten oder sollten sie lieber lassen? Aber auch: Was braucht die Familie, um entspannt zu sein?
Außerdem geht es um sinnvolle Schlafgewohnheiten. Wie können und wollen Eltern ihr Kind in den Schlaf begleiten? Eltern sind diesbezüglich oft sehr unsicher und die Meinungen gehen stark auseinander. Die Hebamme lernt in dem Seminar an das Später zu denken.
Vor zehn Jahren haben Sie das Konzept 1001kindernacht® gegründet. Dahinter stecken Ihre Konzepte und Methoden zur Schlafberatung. Was hat Sie dazu inspiriert?
Ich bin Mutter von drei Kindern und Stillberaterin. Am Thema Schlafen kommt man da nicht vorbei. Es hat mich frustriert, dass ich mir und auch anderen Eltern keine Antworten auf Fragen zum Thema Schlaf geben konnte. Ich habe mich dann selbst eingearbeitet und hatte irgendwann meinen Schreibtisch voller Bücher, Artikel und Material. Daraus ist ein Buch entstanden und ich habe ehrenamtlich Schlafberatungen angeboten.
Vor zehn Jahren habe ich gemerkt, dass ich keine reine Stillberatung mehr anbieten möchte, weil die Nachfrage nach der Schlafberatung so groß ist. Ich habe aus meinem Wissen und meiner Erfahrung Konzepte erarbeitet und in Form gebracht und bilde seit 2016 auch Fachleute aus.
Was unterscheidet 1001kindernacht von anderen Schlafkonzepten?
Schlafberatungen haben meist entweder einen bindungsorientierten oder einen verhaltenstherapeutischen Schwerpunkt. Der verhaltenstherapeutische Ansatz beschäftigt sich mit der Frage, was Eltern tun können, damit ihr Kind ein gewünschtes Verhalten zeigt.
Wir wollen stattdessen den Schlaf von Anfang an so aufgleisen, dass das Kind die dazugehörigen Bereiche, wie die Nacht oder den Schlafplatz, mit positiven Gefühlen verknüpft. Außerdem gehen wir mit einem langfristigen Blick daran: Etwa ein Drittel der Erwachsenen leidet unter Schlafstörungen – ich sehe da Zusammenhänge zu frühkindlichen Stresserfahrungen. Wir versuchen, die Bindung zu den Eltern und das Urvertrauen des Kindes zu stärken, weil ich mir wünsche, dass es ein Leben lang gut schläft.
Welche Rolle spielt dabei die Eltern-Kind-Bindung?
Die Schlafentwicklung wird nicht nur neurologisch und biologisch, sondern auch emotional beeinflusst. Die emotionale Entwicklung hängt zu einem Großteil von der Bindung zu den Eltern oder einer Bezugsperson und von gemachten Erfahrungen ab. Je mehr innere Sicherheit ein Kind erwerben kann, desto entspannter läuft auch die Schlafentwicklung.
Wenn man sich mit Ihrer Arbeit beschäftigt, fallen einem unbekannte Begriffe auf. Was ist beispielsweise das 3-Schienen-Konzept?
Vorab: Das 3-Schienen-Modell ist noch ganz neu und ich habe es noch nicht schriftlich ausgearbeitet.
Die Methoden von 1001kindernacht kommen alle aus der Erfahrung – ich bin eine Praktikerin. In erster Linie gehe ich in die Praxis, arbeite mit den Eltern und schaue, was funktioniert. Das versuche ich dann mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu verknüpfen. So entstehen meine Konzepte.
So ist mir auch aufgefallen, dass die Schlafentwicklung des Kindes auf drei unabhängigen Schienen läuft. Das ist interessant, weil viele Eltern auf einer Schiene wunderbar unterwegs sind, aber auf einer anderen Schwierigkeiten haben können.
Die erste Schiene ist die rein biologische Schlafentwicklung, die bei allen Kindern ungefähr gleich verläuft: Der Schlaf wird im ersten Lebensjahr zunehmend in die Nacht verlegt. Mit der Abnahme von Tagschlaf verbessert sich der Nachtschlaf, und die Schlafarchitektur gleicht sich immer mehr der von Erwachsenen an.
Die mittlere Schiene ist für uns die wichtigste. Sie hängt mit der emotionalen Entwicklung zusammen: Wie wohl fühlt sich das Kind in der Schlafsituation? Wie viel Sicherheit kann es erleben? Wie viel Nähe bekommt es? Wir versuchen hier, eine möglichst positive Verknüpfung und eine sichere Bindung zu ermöglichen. Dieser Ansatz fehlt oftmals in der verhaltenstherapeutischen Schlafberatung.
Die dritte Schiene ist die der Gewohnheiten. Diese können angenehm oder unangenehm sein und dort setzen wir in der Schlafberatung an. Wenn das Kind sich zum Beispiel daran gewöhnt hat, in den Schlaf getragen zu werden, wird es nicht in den Schlaf finden, wenn dieses Ritual aussetzt.
Wie gehen Sie auf diese Gewohnheiten ein?
Vorweg: Schlafen ohne Gewohnheiten funktioniert nicht. Sie sind etwas total Wichtiges und erleichtern den Ablauf. Die Frage ist, ob eine Gewohnheit für die Familie angenehm oder unangenehm ist. Das möchte ich auch den Hebammen mitgeben: Habt keine Angst vor Gewohnheiten.
Wenn eine Gewohnheit nicht (mehr) optimal ist, dann suchen wir eine Alternative, die angenehmer ist. Jede Gewohnheit kann verändert werden. Kleine Kinder reagieren auf Veränderungen in der Schlafsituation meist sehr emotional, kommen aber damit zurecht, wenn sie ruhig und liebevoll begleitet werden. Wenn die Eltern verstehen, wie sie Gewohnheiten verändern können, dann klappt das eigentlich immer.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Ein klassisches Beispiel ist das Tragen. Anfangs ist das eine gute Gewohnheit, weil Neugeborene sehr gut darauf ansprechen. Je schwerer das Kind und je häufiger es wach wird, desto anstrengender wird diese Gewohnheit. Ich bespreche mit spätestens sechs Monaten mit den Eltern, wie ihr Kind mit Körperkontakt in der liegenden Position einschlafen kann.
Der Körperkontakt, der beim Tragen gegeben ist, wird also beibehalten. Wir nehmen aber das Element der Bewegung aus der Situation heraus. Wenn nun das Kind weint, kommen die meisten Eltern zu dem Schluss, dass es so nicht funktioniert. Man darf aber dranbleiben, das Weinen aushalten und verstehen, dass, solange ein Kind von einer Bindungsperson begleitet wird, kein Trauma oder Bindungsabbruch passiert. Eine ruhige und liebevolle Begleitung führt erstaunlich schnell zu Veränderungen.
Weil das für Eltern nicht ganz einfach ist, gibt es Fachpersonen, die das gut begleiten können.
Die bindungsorientierte Schlafbegleitung findet sich sogar beim nächtlichen Abstillen wieder. Wie funktioniert der gleichzeitige Fokus auf Bindung und Abstillen?
Die allermeisten Mütter kommen mit dem Thema, so wie wir es begleiten, nicht in Kontakt. Rein statistisch wird der Großteil der Kinder in Deutschland oder der Schweiz mit ungefähr sechs Monaten abgestillt. Erst für Mütter, die länger stillen, wird das ein Thema.
Das nächtliche Stillen nimmt zwischen dem sechsten und zwölften Monat oft zu. Eltern reagieren dann meist irritiert und sehen das als Rückschritt. Hauptfaktor dafür kann die emotionale Entwicklung des Kindes sein. In dieser Zeit beginnt die Fremden-Angst-Phase, die dazu führt, dass Kinder nachts mehr Sicherheit brauchen und teilweise stündlich an die Brust wollen. In dieser Phase führt das nächtliche Abstillen nicht zum gewünschten Ergebnis.
Erst wenn diese sensible Phase abgeschlossen ist, also etwa mit einem Jahr, können wir durch das nächtliche Abstillen deutliche Verbesserungen erzielen. Wir lösen die Verknüpfung von Brust und Schlaf. Das ist ein relativ radikaler Schritt. In der Schlafsituation gibt es dann kein Stillen mehr, das Ein- und Weiterschlafen wird stattdessen mit Körperkontakt begleitet und als neue Gewohnheit verankert. Gut umgesetzt, führt das meist zu deutlich besseren Nächten oder sogar zum Durchschlafen des Kindes.
Sie legen viel Wert auf nächtlichen Körperkontakt: Ist Ihr Konzept auf Co-Sleeping ausgelegt oder funktioniert es auch bei getrennten Betten oder Räumen? Wie wichtig ist die Schlafumgebung?
Grundsätzlich geht es darum, die Schlafsituation in den Familien so einzurichten, dass alle genug Schlaf bekommen. Da bin ich pragmatisch. So macht es oft Sinn, verschiedene Schlafplätze in verschiedenen Räumen zu haben. Vor allem trennen wir auch häufig die Eltern, damit morgens nicht beide Eltern erschöpft aufstehen.
Nächtliches Abstillen oder Gewohnheiten verändern funktioniert mit viel Körperkontakt, Nähe und Geborgenheit. Das schaffen wir fast nur mit einem gemeinsamen Schlafplatz, aber das muss nicht das Elternbett sein. Hauptsache viel Platz, sicher und bequem.
Trifft das auch auf das Geschwisterbett zu? Welche Bedingungen sind dafür am geeignetsten?
Weltweit schlafen die meisten Geschwister im selben Raum oder sogar in demselben Bett. Jedes Kind in einem eigenen Zimmer schlafen zu lassen, ist ein westliches Phänomen der sozialen Oberschicht. Als meine Kinder aus dem Elternbett ausgezogen sind, haben sie in einem Geschwisterbett geschlafen. Ich fand das einfach genial. Immer wieder bin ich erstaunt, wie wenig Eltern das in unserem Kulturkreis praktizieren.
Wenn wir die Kinder dahinführen, in einem großen gemeinsamen Bett zu schlafen, sind wir als Eltern nachts weniger gefordert. Auch in der Schlafsituation bekommen Kinder über die Sinnesorgane permanent Botschaften. Sie hören, riechen und spüren, ob Mama und Papa in der Nähe sind, und werden in Sicherheit gewogen. Das können wir auf die Geschwister übertragen, dass sie sich die Sicherheit gegenseitig vermitteln.
Wie alt sollten die Geschwister dafür sein?
Die jüngeren Geschwister sollten etwa ein Jahr alt sein, damit das Schlafen im gemeinsamen Bett keine Gefahrenzone ist. Dann können sich die Geschwister ohne Anwesenheit eines Elternteils das Bett teilen. Kinder, die gemeinsam schlafen, tendieren weniger dazu, nachts zu den Eltern zu gehen, zu rufen oder schlecht zu schlafen. Ich kann das nur empfehlen. Damit es gut klappt, muss es anfangs begleitet werden.
Sie haben sich Ihr Konzept patentieren lassen. War das notwendig?
Ich muss fairerweise sagen, dass ich nichts Neues erfunden habe. Ich habe nur etwas Uraltes aus der Schublade geholt. Das, was 1001kindernacht vermittelt, ist das, was von uns Menschen über den Großteil der Menschheitsgeschichte hinweg praktiziert wurde. Ich habe einfach versucht, es so zu vermitteln, dass es auch in unserer moderne Gesellschaft gelebt werden kann.
Den Namen »1001kindernacht®« habe ich patentieren lassen, einerseits um ihn zu schützen, andererseits weil ich mit meinem Namen dafür einstehen will. Ich trage letztlich nicht nur das Recht, sondern auch die Verantwortung, und bin bereit, wenn nötig, zu korrigieren. Die Inhalte unserer Unterlagen haben sich in den letzten zehn Jahren weit verbreitet. Das war ja unser Ziel – dass manches ungefragt kopiert wird, muss ich akzeptieren.
Glauben Sie, dass das alte, ursprüngliche Wissen, die Intuition der Eltern, verloren gegangen ist?
Ja, teilweise schon. Man kann Eltern aber wieder an ihre Urinstinkte heranführen, wenn sie es zulassen. Das größte Problem ist die Flut an Informationen, in der sich die Eltern zurechtfinden müssen. Die Ansprüche an ein perfektes Elternsein sind gestiegen – das erlebe ich immer wieder. Sie haben unglaublich hohe Ideale und Ansprüche, was sie ihren Kindern alles geben sollten. Für mich geht es stark darum, die Eltern mental zu entlasten und ihnen zu erklären, dass, wenn es sich gut anfühlt, es ihnen gut geht, sich dann auch das Kind wohlfühlt. Das vergessen Eltern am häufigsten.
Beim Versuch, alles perfekt machen zu wollen, entsteht eine Anspannung, die sich auch auf das Kind überträgt. Und dann schaue ich, wie wir die Situation entspannen können, und erkläre den Eltern dann: Ihr müsst nichts tun, was ihr nicht wollt. Solange ihr für euer Kind da seid, dürft ihr es auf die Weise begleiten, die sich für euch gut anfühlt.
Vielen Dank, Frau Lüpold, für das spannende Gespräch!