Die Leitlinie »Vaginale Geburt am Termin« begleitet ein besonderes Phänomen: Seit ihrer Veröffentlichung hat sie damit zu kämpfen, dass sich sogar Menschen, die an ihrer Entstehung mitgearbeitet haben, von ihr distanzieren. Man kann fast sagen, dass sie von einigen ihrer vielen »Eltern« verstoßen oder zumindest stark infrage gestellt wird. Abgesehen davon, wird sie als nicht umsetzbar und unsicher bezeichnet.
S3 ist das höchste Evidenzniveau. Trotzdem kenne ich keine andere Leitlinie, deren Richtigkeit, Existenzberechtigung und Evidenz so sehr angezweifelt wird wie bei dieser. Sie wird als Hebammenleitlinie bezeichnet – und das ist nicht als Kompliment, sondern diffamierend gemeint. Sie wird als unwissenschaftlich, als fahrlässig und als dringend zu revidieren dargestellt.
Anscheinend ist diese Leitlinie anders, denn sie wird emotional und nicht faktisch bewertet. Das kann nur bedeuten, dass es eine andere Ebene geben muss, als die faktisch-medizinische. Diese Leitlinie scheint politisch brisant zu sein. Das ist beachtlich für eine klinische Handlungsempfehlung, die ja ihrem Grunde nach erstmal nicht emotional daherkommt. Was also ist an dieser Leitlinie so besonders?
Entscheidung und Mitbestimmung im Fokus
Die Leitlinie schenkt der Entscheidung und Mitbestimmung von Gebärenden viel Gewicht. Sie setzt sich mit dem Recht auf Information auseinander, mit dem Recht auf Einwilligung und mit dem Recht darauf, wertfrei zum Geburtsort beraten zu werden. Sie unterstreicht schließlich ausdrücklich das Recht der Gebärenden auf informierte Entscheidung, auf partizipative Entscheidungsfindung und auf eine wertfreie und ausführliche Beratung.
Die Leitlinie empfiehlt in vielen Teilen ein interventionsarmes und abwartendes Handeln der Geburtshelfer:innen. Sie stärkt die Bedeutung der Eins-zu-eins Betreuung und die der Auskultation – letztere als mindestens ebenbürtig zur CTG-Überwachung. Die Betonung von Beratung, intensiver Betreuung, verpflichtendem Angebot von Nachgesprächen und der Bedeutung der Eins-zu-eins Betreuung finden sich im Übrigen auch in anderen Leitlinien wieder, zum Beispiel in derjenigen zur fetalen Überwachung oder postpartalen Hämorrhagie.
Eingreifen oder Abwarten als Akzeptanzkriterium für Leitlinien?
Die Gründe, warum die Akzeptanz der Leitlinie zum Teil schwerfällt, sind unterschiedlicher Natur. Sie sind sowohl im Medizinischen, als auch im Politischen zu finden. Die Leitlinie legt eine abwartende geburtshilfliche Grundhaltung nahe. Das bedeutet, sich zurückzunehmen, zu beobachten, weniger zu tun, Kontrolle abzugeben. In der Kultur unserer Geburtshilfe in den letzten 70 Jahren ist dies eher unüblich gewesen.
Es scheint deutlich leichter, Leitlinien in der Klinik umzusetzen, die insgesamt mehr Interventionen zur Folge haben. Ein gutes Beispiel ist die Einführung der S1-Leitlinie Geburtseinleitung gewesen, die glücklicherweise im vorletzten Jahr überarbeitet wurde. Aufgrund dieser Leitlinie mit dem geringsten Evidenzniveau wurden plötzlich enorm viele Geburtseinleitungen in Deutschland bei ET +7 beziehungsweise ET +9 durchgeführt, ohne dass es dafür ausreichend Belege gab. Es war bekannt, dass die Evidenz der Leitlinie niedrig ist und der Effekt dieser zahlreichen Einleitungen möglicherweise eine Interventionskaskade mit sich bringt. Den meisten Geburtshelfer:innen war außerdem bewusst, dass die zugrunde gelegte Studie fehlerhaft ausgewertet und interpretiert worden war. Trotzdem war der Tatendrang groß, diese Leitlinie sofort in der klinischen Praxis umzusetzen.
Zeitnah und flächendeckend wurde in Deutschland viel mehr und viel früher eingeleitet. Das ließ sich in jeder Versorgungsstufe gleichermaßen beobachten – mit enorm wenigen Ausnahmen. Bei der Leitlinie »Vaginale Geburt am Termin« scheint es umgekehrt: Die Umsetzung verläuft schleppend, der Enthusiasmus ist vielerorts gebremst, Inhalte werden trotz belegten Quellen häufig hinterfragt, besonders im Vergleich zu anderen Leitlinien mit geringerem Evidenzniveau. Anscheinend ist weniger zu tun wirklich viel komplizierter als mehr zu tun, mehr zu intervenieren, mehr zu untersuchen, mehr Medikamente zu verabreichen. Dem Geburtsprozess wird in den Empfehlungen viel mehr Raum gegeben, die Rolle der Geburtshelferin ist zunächst passiv abwartend.
Vergleicht man es mit dem Autofahren, wird es klarer: Es ist für viele Menschen deutlich einfacher, die Rolle des Fahrers, als die Rolle der Beifahrerin zu übernehmen. Es ist deutlich einfacher, selbst zu steuern, zu handeln, zu lenken, als mitansehen zu müssen, wie der Fahrer andere Entscheidungen trifft, als man selbst treffen würde.
Genau wie beim Autofahren führen in der Geburtshilfe viele Wege zum Ziel. Klar, man darf sich nicht einbilden, physikalische Grenzen außer Kraft setzen zu können oder bestimmte medizinische Vorgaben nicht zu beachten – aber jenseits von Extremen, bieten beide Gebiete eine Vielzahl von Möglichkeiten, richtige und sichere Entscheidungen zu treffen. Dort scheint vermutlich ein Teil der Schwierigkeit zu liegen. Der Gebärenden und dem Geburtsprozess wird nicht vollumfänglich getraut.
Die Leitlinie »Vaginale Geburt am Termin« stärkt die Rechte von Frauen und bricht die strukturelle Machtverteilung in der Geburtshilfe auf. Wenn eine Gruppe mehr Macht bekommt, muss die andere Gruppe Entscheidungshoheit aufgeben – die Verteilung muss neu geregelt werden. Genauso wie auf anderen Feldern geht das nicht leise. Macht abzugeben, neu zu verteilen ist schwierig, sonst hätten wir schon lange nicht so viele Probleme, Gleichbehandlung durchzusetzen. Damit meine ich einerseits die größere Entscheidungsmacht der Gebärenden, aber auch das Erlernen anderer Fähigkeiten und Betreuungsformen auf Seiten der Hebammen.
Mehr Augenhöhe, mehr Respekt, mehr Handlungskompetenz
Die Leitlinie sorgt für mehr Augenhöhe und dafür, dass Frauen mehr Respekt und Handlungskompetenz unter der Geburt zuteil wird. Konsequent umgesetzt hat sie auch das Zeug dazu, die Fälle von Respektlosigkeit oder Gewalterfahrungen unter der Geburt zu reduzieren: durch Partizipation, Augenhöhe und Aufklärung. Jetzt zeigt sich aber (und das nicht nur auf dem Gebiet der Geburt), dass die Deutungshoheit darüber, was für eine Gebärende oder ihr Kind gut ist, außerhalb der Kompetenz der Gebärenden gesehen wird. Dem zugrunde liegt die Unterstellung, Frauen würden erst zugunsten des eigenen und dann für das Kindeswohl entscheiden. Es stellt sich – wie schon in anderen Diskussionen – die Frage, wer die Hoheit und die Entscheidungsgewalt über den weiblichen Körper hat.
Klar ist: Wir brauchen starke Fürsprecherinnen und besonders Fürsprecher in den Kliniken, um die Rechte von Gebärenden zu wahren und zu bewahren. Ich würde sagen, dass der Erfolg einer Leitlinie auch davon abhängt, ob sie Frauenrechte stärken und eine feministische Grundhaltung einnehmen. Eine Erstarkung konservativer Kräfte hat früher oder später in jedem System die Einschränkung von Frauen in ihren reproduktiven Rechten zur Folge gehabt. Dieser Zusammenhang hat eine lange Tradition in erzkonservativen und radikalen Kreisen. Besonders gut ist dies an den Verschärfung der Gesetze zum Schwangerschaftsabbruch in verschiedenen Ländern zu sehen. Meist gilt: Je liberaler die Regierung, desto liberaler das Recht auf Schwangerschaftsabbruch und umgekehrt.
Die Wahl des Geburtsortes und die Betreuung unter der Geburt ist ein wichtiger Teil, wenn es um die reproduktiven Rechte von Frauen geht. Die Diskussion wird oft so geführt, als ob Frauen durch bestimmte Entscheidungen ihre Kinder willentlich gefährden oder als ob Frauen und Kinderrechte sich diametral gegenüberstehen würden. Wir sollten Gebärenden das Recht zugestehen und das Vertrauen haben, die bestmögliche Entscheidung für sich und gleichzeitig für ihr Kind zu treffen. Dabei kann die konsequente Umsetzung der Leitlinie »Vaginale Geburt am Termin« eine fundamentale Unterstützung sein.